Kitabı oku: «Dismatched: View und Brachvogel», sayfa 4

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View ließ sich auf ihrem AeroFlat den Weg zu Sonols WorkingCell 68/56 in einer der oberen Etagen zeigen. Da der Lift keine Zwischenhalte ansteuerte, erreichte sie Level 68 nach kurzem Takt. Dort passierte sie eine lange Flucht identisch aussehender Türen und hatte schließlich Cell 56 erreicht. Ihr Besuch wurde schon auf dem VisitorDisplay angezeigt: Kibele2k5, Takt 54.000. Die Anzeige blinkte. Sie wurde also erwartet und konnte eintreten. Sonol2ak saß über sein ManagingDesk gebeugt und arrangierte und manipulierte mit weit ausholenden ikonografischen Gesten die zahlreichen 3D-Diagramme, die aus dessen Screens wuchsen und mit ihrer Gestalt auch ständig ihren Aussagegehalt veränderten. Eine Seite der Cell war transparent und bot View einen spektakulären Ausblick. Vor ihr breitete sich nicht nur die Topografie des CapitalGround, sondern auch die der nächstgelegenen Plattformen aus.

Sonol blickte auf: „Willkommen in der Agency, Kibele2k5. Sei gemittelt.“

„Sei ebenfalls gemittelt, Sonol2ak“, erwiderte View, die Mühe hatte, ihren Blick von dem phänomenalen Panorama loszureißen. „Ich freue mich sehr, hier zu sein.“

„Ja, wir überblicken von hier aus die halbe Urb und was noch besser ist, wir haben das Verhalten der 3 Millionen Citizens und der 93.750 SocialUnits der gesamten Urb fest im Griff“, lachte Sonol und legte besondere Emphase auf „gesamte Urb“. „Aber nimm doch Platz.“

View sah sich um. Die einzige freie Sitzgelegenheit, ein drehbarer und in Höhe und Achsneigung stufenlos verstellbarer Sitzpilz, war nicht, wie sie eigentlich erwartet hätte, vor dem ManagingDesk, sondern dahinter, direkt neben Sonols Pilz platziert. Das ließ erfreulicherweise darauf schließen, dass in der Agen­cy LeanManagement nicht nur propagiert, sondern auch praktiziert wurde. View nahm Platz, richtete sich aus und arretierte mit einem leichten Schlag auf den Stil Sitzhöhe und Neigung.

Sonol wandte sich von seinen Diagrammen ab und schwang auf View zu. „Vorab bin ich gehalten ‒ nur für den Fall, dass wir nicht zusammenkommen, wovon ich zwar nicht ausgehe, aber immerhin ‒ dich darauf hinzuweisen, dass du alles, was du in diesem Gespräch erfährst, streng vertraulich behandelst. Wenn du Member der Agency bist, bekommst du ohnehin eine Sicherheitseinstufung, aber solange du die noch nicht hast, muss ich mich darauf verlassen können, dass nichts, worüber wir nun sprechen werden, aus den 6 Wänden dieser Cell dringt. Einverstanden?“

„Sicher.“

„Wir hier in der Agency versehen gewisse hoheitliche Aufgaben, die mehr als entscheidend für die Mittelung und damit für die Sicherheit und das Weiterkommen der Urb sind und wir sind der Meinung, dass uns das zu einem gewissen Sonderstatus berechtigt.“

Aufmerksam fixierte Sonol Views Blick und als er nichts darin fand, was ihn daran hindern konnte, offen zu sprechen, fuhr er fort: „Bislang bist du, wie alle anderen auch, sicher der Ansicht, dass alle Citizens in ihrem Wünschen, Streben und Verhalten nach Möglichkeit gemittelt und folglich gleich sind. Das ist im Prinzip auch angemessen und in Bezug auf Wellness und Sicherheit aller auch dringend notwendig. Und doch gibt es einen Unterschied. Du kennst den Grundsatz: ‚Jedem nach seinen Bedürfnissen.‛ Diesem Grundsatz trägt das BasicIncome Rechnung, das jeder Citizen bezieht und das unabhängig dessen, was er zum großen Ganzen beiträgt, einen grundlegenden Lebensstandard sichert, hinter den niemand zurückfallen kann.“

Hier drängte sich View sofort der Gedanke an ihr KatharsisEgg auf. Schon die BasicVersion hätte sie sich von ihrem Grundeinkommen nicht leisten können und an das KatharsisEggOdour wäre erst gar nicht zu denken.

„Wir hier in der Agency erweitern nun den Grundsatz ‚Jedem nach seinen Bedürfnissen‛ um den Zusatz ‚Dem Einzelnen gemäß seinen Fähigkeiten‛. Die Grundbedürfnisse aller Citizens sind gleich und jeder der 3 Millionen Citizens unserer Urb hat ein Anrecht darauf, dass sie befriedigt werden.

Doch die Fähigkeiten der Citizens sind ungleich verteilt und um die Urb in Funktion zu halten, ist auch eine gewisse Diversität der unserer Citzenship zugrunde liegenden Genkulturen unumgänglich. Ganz vordergründig betrachtet erfordern administrative und steuernde Funktionen nun einmal höhere Qualifikationen als rein repetitive und reproduktive Tätigkeiten. Die BadPastLessons werden dir anschaulich gemacht haben, dass in den Zeiten vor dem Finalen Kata­klysmus ein Großteil der Menschen in solchen rein reproduktiven oder gar repetitiven Sektoren tätig war. Die sich in sturer Mechanik ständig wiederholenden repetitiven Tätigkeiten haben wir gründlich abgeschafft und auch der Großteil der reproduktiv versorgenden Arbeiten ist von den Service- und MaintenanceUnits übernommen worden.

Mit dem erforderlichen Abstand und angesichts der komplexen Hintergründe betrachtet, wäre es aber trotz dieser Errungenschaften in Wissenschaft, Robotik und Nanotechnologie suboptimal, in unseren GenBanken und UterusLabs nur Citizens mit herausragenden Fähigkeiten zu generieren, weil wir damit gewissermaßen alles auf eine Karte setzen würden. Denn sämtliche Informationen, die uns aus der Zeit vor dem Kataklysmus zur Verfügung stehen, haben gezeigt, dass nur die Systeme längertaktig überlebensfähig waren, die über eine gewisse Vielfalt ihrer Mitglieder verfügen konnten. Ausschläge ins Extreme, sowohl eine zu hohe Diversität und Vielfalt als auch eine zu große Homogenität und Einheitlichkeit, waren dagegen immer verhängnisvoll.

Eine überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität zu schaffen lautet daher die Devise. Im Grunde eben genau das, was die klassische Gaußsche Glockenkurve auszeichnet.“

Sonol hielt inne, lächelte und sah View an: „Wenn ich zu sehr ausschweife, unterbreche mich ruhig. Konntest du mir bis dahin folgen?“

„Geht schon in Ordnung. Ich frage mich nur, was hier konkret die Aufgabe der Agency ist.“

„Die Aufgabe der Agency ergibt sich aufgrund der Tatsache, dass Genpool und Sozialisation zu ungefähr gleichen Teilen zur Entwicklung und damit dem Verhalten der Citizens beitragen; es ist bislang noch nicht gelungen, das genaue Verhältnis exakt zu ermitteln. Den GenCoktail können wir zwar zu 100 Prozent bestimmen, die Sozialisation, die ja bei aller Normierung und Mittelung immer auch auf subjektivem Erleben beruht, lässt sich dagegen nicht hundertprozentig beeinflussen.

Die Generierung neuer Citizens überlassen wir getrost den Biotechnikern, die gemittelte Qualität der Sozialisation zu gewährleisten aber ist unser Ding. In Bezug auf die Konzeption neuer Citizens hört die Arbeit der Genbastler genau dann auf, sobald ein kleiner Citizen sich anschickt, den BirthSimulator zu passieren. Da die Sozialisation aber ein Leben lang andauert, begleitet die Agency einen Citizen eine weitaus längere Strecke und unsere Einflussnahme endet erst, wenn ein Citizen die Ebene wechselt und sein Körper in den ZeroWaste-Kreislauf eingespeist wird.

Schon die Einführung des BirthSimulators geht auf uns zurück. Statt unseren ausgereiften Nachwuchs einfach den NucleusTanks zu entnehmen, schicken wir ihn durch den engen Schlauch des BirthSimulators und simulieren so die Bedingungen der Humangeburt. Als Kinder noch auf dem sogenannten natürlichen Wege auf die Welt kamen, war die Erfahrung der Enge des Geburtskanals das erste Angsterlebnis, das für ihre spätere Einstellung gegenüber Risiken und Gefahren prägend war. Der Mythos und psychologische Studien besagen, dass das Angstempfinden von Kindern, die dieses Geburtstrauma nicht durchleben, geringer ausgeprägt ist. Und Citizens, die wenig oder gar keine Angst haben, verhalten sich nicht berechenbar und sind damit nur schlecht zu mitteln. Das ebenfalls von uns entwickelte Konzept der BadPastLessons beruht ebenfalls auf Angst.“

Und es funktionierte, erinnerte sich View schaudernd an ihre Fahrt in dem „Zer­knall­treibling“.

„Aber ich schweife ab – deine Aufgabe in der Agency: Um also im Rahmen der Sozialisation jedes Citizens diese, wie schon gesagt, überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität schaffen zu können, suchen wir solche aus der Masse he­rausragenden Talente wie dich. Du hast mit deinem Einsatz für deine MateCompany – übrigens eine sehr gute Wahl – eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass du nicht nur die Motive der Peers deiner unmittelbaren SocialUnit, sondern da­rüber hinaus auch die anderer Citizens nachvollziehen und in gemittelte Bahnen lenken kannst, die daher geeignet sind, die WirtschaftsSozialität der Urb zu stärken.“

Hier sah Sonol View erwartungsvoll an.

„Was hätte ich denn in dieser Hinsicht in der Agency konkret zu tun?“

„Diese berechtigte Frage habe ich schon viel früher erwartet. Offensichtlich bist du aber an Hintergründen interessiert und kannst zuhören, ohne zu unter­brechen und vorschnell falsche Schlüsse zu ziehen. Auch eine nicht ganz unbedeutende Qualifikation für den Job, den wir dir anzubieten haben. Ich will versuchen, mich kurz zu fassen.

Die grundlegenden Abläufe der Matchingprozesse in der Urb sind dir natürlich bekannt: Ihr Ziel ist – und das kann ich nicht oft genug wiederholen – das Schaffen von Sicherheit durch eine überschaubare Vielfalt in gemittelter Qualität. Lass uns mit diesem Ziel im Hinterkopf einmal die grundlegenden sozialen Aktivitäten ins Auge fassen, also im Grunde alles das, was du im Rahmen einer MatchingSession managst. Was regelst du denn da so?“

View zögerte kurz. War das eine versteckte Prüfung? Doch wie auch immer, sie musste antworten. „Ich bewerte, ranke, klassifiziere und kategorisiere das, was die Peers meiner SocialUnit und ich tagsüber erlebt haben, um es in Übereinstimmung zu bringen und Mitteln zu können.“

„Was machst du da beispielsweise ganz konkret?“

„Ich beurteile und bewerte meine Meinungen, Einstellungen und mein Verhalten, indem ich sie den vom System angetragenen Kategorien zuweise und in ein Ranking einordne, ich klassifiziere Produkte und Services, bringe sie ebenfalls in eine Rangfolge und analysiere so meine und die entsprechenden Käufe der Peers meiner Social­Unit ... und im Zweifelsfalle starte ich eine Matching­Schleife, um ein Verhalten, die Bewertung eines Verhaltens oder die Bewertung eines Produktes oder eines Services zu mitteln.“

„In welchem Zweifelsfalle?“

„Ja, natürlich immer dann, wenn ein Peer im Verhalten, einem Kauf, einer Meinung oder einem Classifying vom Mittel meiner SocialUnit zu sehr abweicht, versuchen wir übrigen Peers das in einem MatchingLoop wieder anzugleichen und zu mitteln.“

„Ganz genau! Wie erlebst du es, wenn deine SocialUnit wegen deines eigenen Verhaltens oder Votens ein MatchingLoop startet?“

„Dann bin ich immer neugierig festzustellen, aufgrund welchen Verhaltens, welcher Wahlen, Classifyings und Votings ich vom Mittel abge­wichen bin und bin, ehrlich gesagt, auch immer etwas unruhig, bis dann alles geklärt ist.“

„Schön. Das verstehe ich sehr gut. In der Regel kann es ja durchaus einigen Takt dauern, bis jemand wieder in die Mitte seiner Unit zurückgeholt wird. Schließlich sollen der Loop und die individualisierten Anträge des Systems ja niemanden abrupt in die Mitte zurückzwingen, sondern davon überzeugen, dass Mittelung eine höhere Lebensqualität bringt, weil sie unser aller Leben vorhersehbar und damit sicherer macht. Unser Ziel, eine absolut sichere Gesellschaft zu schaffen, können wir langfristig nur über Einsicht erreichen. Zwang schafft zwar kurzfristig Stabilität, provoziert aber letztlich immer Widerstand. Und Widerstand macht die Dinge unberechenbar.

Aber, um auf unser Thema zurückzukommen, deine Aufgabe in der Agency: Worin siehst du den Unterschied zwischen einem Kauf oder einem Verhalten einerseits und einer Bewertung, einem Ranking oder einer Klassifizierung andererseits?“

„Mhm, was meinst du damit?“

„Kaufen und Verhalten oder Classifying und Ranken ... all das sind wirtschafts-soziale Handlungen. Aber siehst du zwischen ihnen einen grundlegenden Unterschied?“

Was sollte das nun wieder? View überlegte angestrengt. „Verhalten und Kaufen lassen sich irgendwie anders nachvollziehen als Classifying und Ranken. Wer was, wie, wo und zum großen Teil auch warum gekauft hat, ist in OmniNet ja in allen Details nachvollziehbar und alles Verhalten wird von den Recordern unserer MatchingEyes aufgezeichnet und ist jederzeit wieder abrufbar. Classifying und Ranken sind zwar auch dokumentiert, aber sie sind einfach nicht so greifbar ... da ist noch etwas anderes, irgendwie noch mehr.“

„Nicht so greifbar … Das gefällt mir gut. Du bist auf der richtigen Spur. Denke da mal weiter.“

„Verhalten und Kaufen sind vielleicht die äußeren Ergebnisse von eher inneren Prozessen, die mit Meinungen und Bewertungen, also letztlich mit Classifying und Ranken zu tun haben.“

„That’s it: innen und außen. Eine Einsicht wie diese hatte ich von dir erwartet und damit hast du exakt die Grundlage und dringende Notwendigkeit unseres Jobs charakterisiert! Die LegionBytes an Daten, die in der MatchingAdministration zusammenlaufen, schaffen einen überaus mächtigen Datenkorpus und mittels der dort gespeicherten LifeScripts lässt sich praktisch jede wichtige Schlüsselszene im Leben eines jedes Citizen nachvollziehen und beurteilen. Auf Basis der Algorithmen, die uns das System anträgt, sind wir in der Lage, aus Daten, die scheinbar nicht das Geringste mit einander zu tun haben, Zusammenhänge zu erkennen und Bezüge zu stiften, denen wir mit unseren kurz greifenden Alltagsverstand und logischem Denken nicht einmal ansatzweise auf die Spur gekommen wären.

Etwas überzogen ausgedrückt, korreliert das System die Frequenz des Wimpernschlags und die Anzahl der Sommersprossen von Korol2ax auf Ground 7 und seine Präferenz, in 83,54 Prozent seiner Besuche im HoloCine auf Ground 29 in Reihe 18 zu sitzen, mit der Tatsache, dass Agnat6n4 niemals auf Ground 12 zum RhythmClimbing gegangen ist, und kann darüber die Wahrscheinlichkeit, dass Azot5m1 in den nächsten 12,53 MegaTakten im FlagshipStore von Pear auf Ground 19 einen ChaosOrganizer 3.0 kaufen wird, mit einer bis auf die vierte Nachkommstelle exakten Wahrscheinlichkeit prognostizieren.

Damit haben wir nicht alles, aber doch das meiste im Griff. Es ist tatsächlich so: Korrelationen bringen Vorhersagbarkeit und damit Sicherheit. Wenn du nun noch bedenkst, dass wir selbst das Verhalten von Dismatchten ‒ so bezeichnen wir Citizens, die lang anhaltend oder extrem abweichen ‒ durch individuell zugeschnittene Fragen und Anträge des Systems Stück für Stück wieder recentern, ausmitteln und sie zudem durch die Bindungs- und Kohärenzkräfte der Matching­Loops ihrer jeweiligen SocialUnit nach und nach wieder zentriert werden, wird klar, dass wir mit hoher Wahrschein­lichkeit einen Großteil des Verhaltens voraussagen können. Der Zuwachs an Sicherheit für die Urb steigt so kontinuierlich.

Aber so mächtig der uns zur Verfügung stehende Datenkorpus und die allgegenwärtige Tendenz zur Mittelung auch sind, erfassen wir letztlich doch immer nur das Äußere eines wirtschafts-sozialen Verhaltens. Das System kann den Citizens immer nur vor die Stirn blicken, nicht aber in den Kopf sehen. Doch wir sind ehrgeizig, wir wollen mehr. Erst wenn sich uns auch das Innere jedes einzelnen Citizens erschließt, weil wir die seinem Verhalten zugrunde liegenden Beweggründe und Motive verstehen, können wir alles verstehen und damit auch alles prognostizieren.

Und hier kommst nun du ins Spiel. Wir brauchen empirische Feldforschung, um zu ergründen, was einen Citizen dazu bringt, vom Mittel abzuweichen. Wir brauchen empirische Feldforschung, um Aufschluss über die Wirksamkeit von Anreizfaktoren und Motivatoren für die Wahl von Kategorien und die Abgabe von Votings und Ratings zu bekommen, die das System Abweichlern anträgt, um sie wieder zu mitteln Was motiviert einen Abweichler – im Extremfall einen Dismatchten – ganz konkret und im Detail, die individuellen Anträge des Systems anzunehmen oder dem Druck seiner Peers nachzugeben? Welche tieferen Beweggründe hat er, wieder in die Mitte seiner Unit zurückzukehren? Je mehr wir da­rüber wissen, desto wirkungsvoller können wir mithilfe der Anträge des Systems unsere Interventionen gestalten und steuern, desto schneller können wir Abweichler wieder einfangen und mitteln.

Natürlich stellt das System entsprechende Test- und Kontrollfragen, natürlich zeichnen die MatchingEyes während ihrer Beantwortung und auch im Verlauf eines MatchingLoops selbst minimale Veränderungen der Mimik auf und natürlich messen und melden die Nanobots in den Körpern der Citizens Veränderungen in der Körperchemie, die auf die Vorgänge in ihren Köpfen schließen lassen. Trotzdem bleibt da immer noch ein mehr oder weniger großer Bereich an innerer Disposition, der für uns eine BlackBox darstellt, deren Inhalt wir nicht erfassen können – noch nicht erfassen können.

Wir haben feststellen müssen, dass die Interaktion mit dem System, also Face to Screen oder Face to MatchingEye, zwar viel, aber eben nicht alles im Verhalten offenlegt. Hier im direkten Kontakt, also Face to Face, unterschwellige Stimmungen, Gefühlsströmungen, Hemmnisse, Antriebe, Wünsche und Vorstellungen aufzuspüren, ist Aufgabe unserer Scouts. Interessiert?“

Sonol wartete Views Antwort erst gar nicht ab. „Natürlich bist du interessiert! Schließlich deuten sämtliche Scores und Indices, die uns das System über dich angetragen hat, auf deine herausragende Eignung für einen Job als Dismat­chedScout in der Agency hin.“

„Ich hatte gedacht, bevor sich die Agency endgültig für mich entscheidet, noch etliche Tests absolvieren zu müssen“, wunderte sich View.

„Das ist nicht erforderlich. Glaube mir, wären wir uns nicht völlig sicher, dass jeder, den wir ansprechen, Member der Agency zu werden, auch hundertprozentig dafür geeignet ist, müssten wir uns ernsthaft fragen, ob wir wirklich in der Lage sind, unseren Job hundertprozentig zu machen. Aber keine Sorge. Du kannst sicher sein: Wir machen unseren Job – und zwar mehr als hundertprozentig. Deshalb habe ich auch nicht gezögert, dir hier einige Dinge zu verraten, die der einfache Citizen nicht unbedingt wissen muss.“

„Doppelgauß, dann kann ich also hier anfangen?“

„Du kannst hier anfangen. Im Rahmen deiner Tätigkeit wirst du eng mit dem Board of PredictiveProfiling zusammenarbeiten. Denn wenn es uns gelingt, die Überzeugung, dass Abweichung Unsicherheit schafft und somit Lebensqualität schmälert, dauerhaft in den Köpfen der Citizens zu verankern, können wir auch zukünftige Abweichungen verhindern. Und da sind wir, besonders auch mithilfe solcher herausragenden Talente wie dir, auf einem sehr guten Weg. Willkommen, also als DismatchedScout im Rahmen des PredictiveProfiling-Programms der Agency of SocialTechnology!“

Sommersaat; dritter Umlauf im fünfhundertachtundsechzigsten Umlaufzwölft der Zeitläufte der Mondin

Ein tiefes Dröhnen überzog das große Rund der Kündung. Es entsprang dem dunklen Gebrumm der Bordun­saiten von Drehleiern, die von Klangfrauen gekurbelt wurden, die aus allen vier Himmelsrich­tungen aus dem Gewirr der Hütten heraus auf das Rund traten. Das sonore Brummen brachte die Eingeweide der Mannlinge zum Beben, erfüllte ihre Gehörgänge, sickerte durch die Poren ihrer Haut, breitete sich über ihre Blutbahnen in ihrem Gewebe aus, drang in das Mark ihres Gebeins ein und setzte sich schließlich unter ihren Schädelplatten fest. Nach und nach wur­den alle von der Macht des monotonen Klanges erfasst und begannen, die Oberkörper hin und her zu wiegen und es entstand eine Bewegung in der Menge, als führe der Wind durch die Ähren eines Feldes. Brachvogel, der dies beileibe nicht zum ersten Mal erlebte und aus dem Augenwinkel heraus sah, wie auch der neben ihm stehende Agror wieder einmal dem Klang erlag, stellten sich die Härchen an den Unterarmen auf. Er begann, seinen Geist mittels der Methode, die er im Laufe der Zeit entwickelt hatte, aus dem auch in ihm aufbrandenden Zustand der Lähmung zu befreien, indem er sich mit aller Macht von der dunklen Schwingung der Bordunsaiten losriss und sich stattdessen auf die nun einsetzende Melodie konzentrierte, die den Bass des durchdringenden Haltetons überlagerte. Dazu ließ er seinen Blick weit umherschweifen und fixierte mit den Augen in schneller Abfolge möglichst viele unterschiedliche Punkte, um seinen Sinnen genug Abwechslung und selbst gesteuertes Erleben zu bieten, damit sein wacher Geist nicht in dem Ruf des Sanges der Drehleiern unterging.

Mit einem lauten Knarren schwangen nun die Flügeltüren des Horts der Beratung auf und entließen die aus vierzehn Wächterinnen bestehende Leibwache der Archontin. Sie trugen Koller und enge Beinlinge aus geschmeidigem Leder, die ihnen größtmögliche Bewegungsfreiheit gewährten. In ihrem Gürtel stak das Wurfholz und um die Hüften hatten sie die Seile der Bola geschlungen, deren Kugeln beim Gehen an ihren Ober­schenkeln hin und her pendelten. Es folgten die Weisen Frauen und zuletzt Ayiah, die Archontin, selbst. Die Weisen Frauen waren in die übliche Gewandung aus brauner, bodenlanger Kutte gehüllt, die je nach Bedarf mit einem Gürtel gerafft und geschürzt werden konnte. Die Schultern bedeckte ein breiter, weit ausgelegter Kragen, von dem auch die Kapuze hing, deren lang auslaufende Spitze in herabgeschlagenen Zustand bis weit über die Taille reichte. Außer dass ihr Demutskranz im Gegensatz zu den braunen Kränzen der Weisen Frauen aus frischen grünen Reisern gewunden war, unterscheid sich die Archontin in keiner Weise von ihnen.

Die Wächterinnen fächerten sich auf und bezogen auf der Linie der Fackeln Stellung. Indem die Tonfrauen die Kurbeln ihrer Leiern nun nicht länger gleichmäßig, sondern mit kleinen Rucklern betätigten, er­zeug­ten sie zu Grundton und Melodie noch ein rhythmisches Schnarren, in dessen Takt die Archontin zwischen den Fackeln vorwärtsschritt, bis sie die Mitte des Platzes erreicht hatte. Bis auf das sonore Tönen der Basssaiten ebbte die Musik nun ab, die Archontin schlug ihre Kapuze zurück, musterte die Menge der um sie versammelten Mannlinge mit strengen und wachsamen Blicken und hub dann zu sprechen an:

„Versammelte Mitgeschöpfe, geliebte Schwestern, arbeitsame Mannlinge: Schonet die Schöpfung. In zwei Nächten wird Luna in diesem Umlaufzwölft zum dritten Male ihre volle Gestalt erreicht haben und wir finden uns hier auf diesem Rund ein, um in tiefer Demut die Gnade des sanften Gestirns auf uns herab­zuflehen. Wenn wir nun ausschwärmen, um heute Nacht und in den nächsten Nächten die Erde für die Aufnahme des Samens zu bereiten, möge Luna uns beistehen, auf dass wir reiche Frucht einbringen.

Wir ackern des Nachts, denn Lunas sanftes Strahlen bewahrt die Natur und öffnet uns die Dinge nur soweit, wie es der Schöpfung frommt. Sols grelles Brennen aber zerrt alles ans Licht und scheint der Natur so ihre Geheimnisse zu entreißen, gaukelt uns ihre Beherrsch­barkeit aber nur vor.

Wir ackern im Rund, denn der Kreis gebiert Sicherheit und Gelingen. Wer sich dem Rund des Kreises im Geist der Mütter in Demut und Besonnenheit anheimgibt, des Werk wird glücken und seine Seele wird gesunden. Der geraden Linie aber folgen Unsicherheit und Misslingen. Wer die Gerade in mannlingscher Hoffart vorwärtsdrängend beschreitet, des Werk wird scheitern und seine Seele wird zuschanden werden.

Solches zu tun ist uns überliefert seit den Zeiten der Großen Verderbnis, als sich die Menschen unrettbar verstrickt in mannlingscher Denkungsart und getrieben von grenzenloser Gier an den Rand des Abgrunds gebracht haben.“

Der Archontin Stimme war immer lauter und eindringlicher geworden und mit dieser Anklage riss sie sich den Kranz der Demut und Besonnenheit von ihrer linken Schulter, reckte ihn mit beiden Händen und ausgestreckten Armen hoch über ihren Kopf und rief:

„So wie die Enden der ineinander verflochtenen Stränge dieses Kranzes immer wieder zueinander finden und kein Strang aus dem Kreis ausbricht, wollen auch wir nicht in mannlingschem Ungestüm und mannlingscher Hoffart aus der Natur ausbrechen, sondern uns in mütterlicher Demut und Besonnenheit ihren Kreisläufen fügen und unterwerfen. Denn nicht wir beherrschen die Natur, sondern die Natur beherrscht uns. Die Natur duldet uns nur. Deshalb fordern wir nichts von ihr. Deshalb drängen wir uns ihr nicht auf. Deshalb nehmen wir nur, was sie uns freiwillig zu geben bereit ist.

Wir Frauen tragen den Kranz der Demut und Besonnenheit, um euch Mannlinge ständig augenfällig zu machen, dass wir unauflöslich in die Kreisläufe der Natur eingebunden sind. Wir tragen diesen Kranz über der linken Schulter, aus der der Herzarm erwächst, um euch Mannlinge ständig zu gemahmen, nicht den Einflüsterungen eures Geistes zu erliegen, der mit der Stimme der Hoffart zu euch spricht, sondern auf euer Herz zu lauschen, in dem euch das ewige Lied der Natur erklingt.

Solches tun wir, damit wir nicht in einer neuerlichen Verderbnis zuschanden werden, sondern in Einklang mit der Schöpfung leben immerdar.“

Mit diesem Appell ließ die Archontin ihre Arme wieder sinken, hängte sich den Kranz über die Schulter, warf noch einen letzten Blick über die versammelte Menge und schritt zu dem Takt des Schnarrens und den Klängen der Melodie, die nun wieder einsetzten, zurück zum Hort der Beratung. Als sich dessen Türen langsam hinter ihr geschlossen hatten, wurde der Sang der Drehleiern immer leiser, nur das Brummen der Basssaiten flutete noch eine geraume Weile über den Platz. Als dann schließlich auch die letzten Schwingungen abgeebbt waren, schwangen die pendelnden Oberkörper der Mannlinge allmählich aus und es kam wieder individuelle Bewegung in die Menge.

Neben Brachvogel, dessen Geist dieses Mal mehr Energie hatte aufwenden müssen als sonst, um den dunklen Lockungen zu widerstehen, erwachte nun auch Agror langsam aus seiner Benommenheit.

„Nun, wohl geruht?“, griente Brachvogel ihn an. Er hatte die eigenartige Wirkung des tiefen Tönens oft genug beobachten können: Stets waren die, die ihm anheim­fielen, von dem beseelt, was die Archontin in solchen Ansprachen beschwor, konnten sich aber mit wachem Geist an nichts erinnern, was vorgefallen war.

„Was heißt hier geruht“, erwiderte Agror, „ich habe die Botschaft der Archontin aufgenommen.“

„So, welche Bot­schaft genau hat sie uns denn heute zu Gehör gebracht?“, hakte Brachvogel nach.

Wie immer, aus einem Dämmerzustand auftauchend, zog Agror, offensichtlich angestrengt überlegend, die Stirn in Falten, konnte aber nichts Fassbares zutage fördern. Er empfand in diesen Situationen die bohrenden Fragen seines Freundes als besserwisserische Kleinkrämerei.

„Ehm, wie dem auch immer sein mag“, erwiderte er etwas unwirsch, „jedenfalls sollten wir keine Zeit vertun, die Gunst der Großen Mondin zu nutzen und damit beginnen, die Äcker zu bestellen. Und zwar so, wie es uns die Große Luna vorgegeben hat!“

Dies brachte er mit der Emphase vor, die stets unter den Mannlingen ausbrach, wenn sie dem dunklen Sang der Leiern ausgeliefert gewesen waren.

Brachvogel wusste aus Erfahrung, dass sich in ein paar Stunden schon die leuchtenden Augen der Mannlinge wieder trüben und die tatkräftige Begeisterung dem gewöhnlichen müden All­tagstrott weichen würde. Einerseits war er froh, der Musik wieder einmal getrotzt und sich seinen eigenständigen Geist bewahrt zu haben. Seit er in der Stätte der Aufzucht erstmals dem tiefen Tönen ausgesetzt gewesen war, hatte er sich dem Sog dessen Lockung immer widersetzt, denn es war etwas in ihm, das sich nicht beugen konnte, sich nicht vereinnahmen lassen wollte. Oft genug hatte er sich aber auch gewünscht, sich wie Agror anheimgeben und fallen lassen zu können, um für eine Weile sein ich aufzugeben und in der Gemeinschaft der Mannlinge unterzugehen. Es zermürbte ihn, stets mit seinen Gedanken und Gefühlen isoliert zu sein, nicht dazuzugehören, immer am Rande zu stehen.

Die Klave betrieb eine Dreifelderwirtschaft. Während in jährlichem Wechsel ein Drittel der verfügbaren Ackerfläche brach lag, damit die Erde, nachdem sie Frucht erbracht hatte, wieder neue Kräfte sammeln konnte, wurden auf einem weiteren Drittel im Herbst Roggen, Weizen, Dinkel und Emmer angebaut und das letzte Drittel im Frühjahr mit Hafer, Gerste, Hirse, Ölfrüchten und Gemüse bestellt. Die brachliegenden Felder galt es nun in dieser und den folgenden Nächten nach den Regeln von Demut und Besonnenheit behutsam aufzubrechen und für die Aufnahme neuen Samens vorzubereiten.

Überall entwickelte sich jetzt emsige Geschäftigkeit. Die Weisungsfrauen teilten die Mannlinge in Gruppen ein, die sich, um in der für die vielfältigen Tätigkeiten immer zu knapp bemessenen Nacht der vollen Mondin keine Zeit zu verlieren, eiligst zu den Brachen aufmachten. Die Menge wimmelte zunächst wild durcheinander und floss dann in Richtung Lunagleiß hinunter, um sich auf dem Fahrweg in entgegengesetzte Richtungen aufzuteilen. Ein Teil der Mannlinge preschte auf schon bereit­stehenden Reitebseln zu den flussaufwärts gelegenen Äckern, während diejenigen, die die flussabwarts liegenden Brachen zu bearbeiten hatten, in am Ufer festgemachte Boote sprangen.

Da viele Äcker etliche Wegstunden von der Klave entfernt lagen, waren schon Tage zuvor Agror und andere für die Wartung der Ackergerätschaften zuständige Gehilflinge der Eisen­frau jeweils von einer Wächterin beaufsichtigt mit Gespannen der schwerfälligen Zugebsel aufgebrochen, um Saat, Pflüge, Eggen und Proviant zu den Brachen zu schaffen. Sie hatten in die Mitte der Äcker den Pflugpfahl gesetzt und waren dann zu Fuß zur Klave zurückgekehrt, um an der Zere­monie teilnehmen zu können. Jeweils eine Wächterin war zur Bewachung der Tiere, der Ackergerätschaften und der Säcke kostbaren Saatguts auf den zu bearbeitenden Brachen zurückgeblieben.

Jetzt saßen Brachvogel und Agror in einem der übervollen Boote, die auf der breiten Bahn schimmernden Lichts, die die Mondin aufs Wasser warf, die Gleiß hinuntertrieben. Am Ufer zogen die Gewerke und Hütten der Klave vorbei und bald schon hatten sie den südlichen Wall hinter sich gelassen. Die Flanke der Fernwarte senkte sich allmählich und das Land öffnete sich Wiesen, niedrigem Gehölz und kleinen Baumgruppen. Gelegentlich schallte der klagende Ruf eines Ufervogels, der sich gestört fühlte, über die weite Wasserfläche, sonst herrschte bis auf das Knarren der Ruder in den Dollen eine mondene Stille.

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1242 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783750210097
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