Kitabı oku: «Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin», sayfa 2

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Spiele

Gemeinsam mit meiner Schwester Simone, die fünfeinviertel Jahre jünger ist als ich, teilte ich mir bis kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag das Kinderzimmer. Wir hatten ein gemeinsames Etagenbett: Ich schlief oben, Simone unten. Wichtig war mir von jeher, meine Sachen beziehungsweise meinen Raum abzugrenzen. Dabei legte ich einmal mithilfe einer Schnur eine genaue Grenze zwischen Simones und meinen Teil des Zimmers und untersagte meiner Schwester, meinen Teil zu betreten.

Als Kind besaß ich einen kleinen gelben Koffer, den ich mit Spielsachen befüllen und selbst tragen durfte, wenn wir zu meiner Oma (mütterlicherseits) nach Sigmaringen fuhren. Ich liebte es, die Sachen darin immer wieder neu zu ordnen, sodass der Platz im Koffer optimal ausgefüllt werden konnte. Fast alle Ferien verbrachten wir im Haus meiner Oma, da meine Eltern kein Geld hatten, um mit uns weiter weg in Urlaub zu fahren.

Wenn wir bei meiner Oma waren, fand immer ein großes Familientreffen statt. Meine Cousins und Cousinen hatten leider bald herausgefunden, dass mir mein Teddy sehr wichtig war. Also nahmen sie ihn mir einmal weg, hielten ihn aus dem Fenster des ersten Stocks und drohten, ihn fallen zu lassen. Das war schlimm für mich, da meine Stofftiere für mich echte Lebewesen waren, die Schmerzen empfinden konnten. Ich konnte auch nie aushalten (und kann es bis heute) nicht, wenn ich einem Kuscheltier ein Bein umgeknickt hatte, denn für mein Empfinden tut ihm das weh!

Meine Schwester und ich durften nur selten fernsehen, und wenn, nur ausgewählte Sendungen. Meine Mutter hielt viel von der antiautoritären Erziehung und war ein großer Fan der Kindersendung »Rappelkiste«, in der die beiden Handpuppen »Ratz und Rübe« selbstbewusst ihre Meinung zu Angelegenheiten von Kindern vorbrachten. Die Erwachsenen schnitten dabei oftmals schlecht ab. Dann gab es natürlich noch die »Sendung mit der Maus«. In eine ähnliche Richtung ging auch die Sendung »Löwenzahn« mit Peter Lustig, die ich ebenfalls gucken durfte und gerne mochte.

Am meisten geprägt haben mich in meiner Kindheit die Bücher von Astrid Lindgren, insbesondere »Wir Kinder aus Bullerbü«. Die dort geschilderte Lebensweise und die Freundschaften unter den Kindern der drei nebeneinanderliegenden Höfe hatten es mir sehr angetan. Auch »Pippi Langstrumpf« bekam ich als Buch vorgelesen, ich durfte sogar die entsprechenden Filme im Fernsehen anschauen. Meine Mutter mochte Pippi Langstrumpf, weil sie so selbstbewusst, unkonventionell und autonom war.

Mein Vater war für die Ordnung zuständig und zeigte mir, wie man seine Sachen auf den Regalen sinnvoll platziert. Dazu bildete er mit mir gemeinsam Kategorien meiner Spielsachen, gruppierte sie und klebte ein Schild mit der Bezeichnung der jeweiligen Kategorie auf die Regalbretter. Das gefiel mir sehr gut, denn so hatte alles seine Ordnung. In seinem Arbeitszimmer stand ein großer gepolsterter Drehstuhl vor dem Schreibtisch. Das Zimmer meines Vaters durfte ich nur sehr selten betreten. Das war zum Beispiel dann der Fall, wenn ich von ihm, auf seinem Schoß sitzend, die Fingernägel geschnitten bekam. Ganz oben auf einem Regal hatte er einen Pappkarton mit Büroartikeln. Ich liebte diese Kiste mit Stiften, Blöcken, Tesafilm und Aufklebern sehr und durfte sie mir manchmal mit ihm zusammen anschauen.

Als Kind bin ich nie in eine Rolle geschlüpft, habe also nie mit anderen Kindern Räuber und Gendarm oder Ärztin oder Krankenschwester gespielt und habe mir auch nie vorgestellt, ich sei eine Hexe oder Pippi Langstrumpf. Das galt auch für den Umgang mit Spielsachen. Ich habe zum Beispiel für meine Schlümpfe aus Eierkartons mit Watte darin »Schlumpfboote« gebaut. Ich setzte sie dann auch hinein. Aber während andere Kinder dann erst anfingen, mit den Schlümpfen zu spielen, war mein Spiel abgeschlossen, sobald alles fertig aufgebaut war. Ich hatte ein Puppenhaus, mit dem ging es genauso. Man konnte die einzelnen Räume einrichten, aber wenn ich das getan hatte, verlor ich das Interesse an dem Puppenhaus. Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal, bei dem ich an einem Rollenspiel mit Kindern aus unserer Straße teilnahm. Ich war sehr verunsichert und versicherte mich bei einem der älteren Kinder, dass wir jetzt auch wirklich nur spielen und dass es nicht wirklich ist, was wir nun tun. Besser klar kam ich mit den anderen Kindern, wenn wir gelegentlich zusammen Rollschuh liefen oder Fahrrad fuhren. Manchmal malten wir auch mit Kreide oder roten und weißen Steinen die Straße an. Gerne spielten wir im Sommer auf der Straße Gummitwist, manchmal auf Socken, weil man damit besser springen konnte.

Einmal passierte es, dass ich mit einem etwas jüngeren Kind auf der Straße spielte. Ich war etwa sieben Jahre alt. Wir hatten einen Eimer voll Wasser und Dreck darin. Nach einiger Zeit stritten wir uns, und ich war wütend. Daraufhin drohte ich dem Jungen, wenn er nicht aufhören würde, mich zu ärgern, würde ich ihm den Eimer Wasser über den Kopf schütten. Er hörte nicht auf, und ohne zu zögern, tat ich, was ich vorher angekündigt hatte. Danach war ich sehr erschrocken über mein Tun. Noch heute führe ich meine Angst davor, intrusive autoaggressive Gedanken in die Tat umzusetzen (wie zum Beispiel der Gedanke: »Ich könnte da jetzt runterspringen!«, wenn ich auf einer Brücke oder vor einem offenen Fenster stehe), auf diesen Impulsdurchbruch als Kind zurück.

Meine wichtigste Freundin in der Kindheit war Martina, deren Großeltern in unserem Haus in Oberursel wohnten. Sie besuchte mich gerne, denn meine Mutter erlaubte viele unkonventionelle, kreative Spiele und Beschäftigungen. Einmal haben wir uns mit Fingerfarbe angemalt und wurden danach von meiner Mutter in die Badewanne gesetzt, um wieder sauber zu werden. Wenn meine Mutter Pizza backte, durften wir uns auch etwas Teig nehmen. Wir haben daraus Mini-Pizzen geformt und sie jeweils besonders belegt. An anderen Tagen breiteten Martina und ich in der Küche Papier von einer großen, noch unbedruckten Zeitungspapierrolle aus. Wir legten uns auf den Boden und zeichneten auf dem Papier die Körperkonturen der anderen nach. Anschließend malten wir unser Abbild mit Fingerfarben bunt aus. Wenn Martina bei mir übernachtete, knüpften wir uns gelegentlich zusammen in einen Bettbezug ein. Meine Mutter brachte uns dann Frühstück und wir speisten darin wie in einer Höhle.

Was ich besonders liebte, waren alle Arten von Bewegungsspielen: So hatten wir in unserem Wohnzimmer öfters einen »Saltoplatz«, sprangen und turnten auf den übereinandergestapelten Sofas herum. Oder wir sprangen aus einiger Entfernung in einen Handstand, stützten uns dabei mit den Köpfen an der Sofakante ab. Einmal wollte ich einen Rekord im Purzelbaumschlagen aufstellen. Ich machte auf unserer bunten Matratze 704 Purzelbäume, vorwärts und rückwärts im Wechsel. Als ich dann aufstand, fiel ich einfach um. Kein Wunder, mein Gleichgewichtsorgan muss völlig orientierungslos gewesen sein.

Während der Grundschulzeit war ich an Fasching über einige Jahre als Affe verkleidet. Dazu zog ich ein braunes plüschiges Kostüm an, das meine Mutter für mich genäht hatte. Ich liebte es, »Affe« sein zu können, rannte auf allen vieren in einem Heidentempo durch die Gegend und schrie dabei nach Affenart. Der Schwanz des Kostüms bestand aus Draht, der mit Schaumstoff und braunem Stoff umwickelt war. Wenn mir jemand blöd kam, nahm ich einfach den Schwanz des Affenkostüms und schlug den anderen damit.

Telefonieren gehörte als Kind nicht zu meinen Stärken. Wenn ich aus der Schule kam und nachmittags nichts vorhatte, konnte es vorkommen, dass ich bei Martina zu Hause anrief. Das Gespräch lief dann wie folgt ab: »Hallo, hier ist Birgit Saalfrank. Ist die Martina da?« Einige Zeit verging, Martina kam ans Telefon. Dann fragte ich sie: »Hallo. Kannst du?« Das sollte heißen: Hast du heute Nachmittag Zeit für ein Treffen? Wenn sie verneinte, sagte ich: »Also, tschüss.« Das war das ganze Gespräch.

Abends dauerte es manchmal lange, bis ich einschlief. Da ich oben in unserem Etagenbett lag, war es für mich immer etwas umständlich, hinunterzuklettern. Deshalb kam es oft vor, dass ich nach meiner Mutter rief, zum Beispiel, wenn ich Durst hatte. Manchmal auch einfach, um ihr zu sagen, dass ich mich ganz unter die Bettdecke verkriechen würde, denn ich machte mir Gedanken um meine Eltern, die in meiner Vorstellung denken könnten, ich sei nicht mehr da und sich dann erschrecken würden. Also sagte ich ihnen vorher immer Bescheid, damit sie sich keine Sorgen machten. An einem Abend rief ich zum wiederholten Mal nach meiner Mutter. Sie kam zu mir, war aber so aufgebracht wegen meines ständigen Rufens, dass sie mir eine Ohrfeige gab. Ich habe sie daraufhin völlig empört angesehen. Sie hat das nie wieder getan.

Sport

Jeden Freitagabend gingen Martina und ich zum Turnen in die große Turnhalle meiner Grundschule. Zuerst mussten die Geräte aufgebaut werden, also zum Beispiel das Reck, das Pferd, der Schwebebalken oder auch Matten für das Bodenturnen. Zu Anfang der Stunde liefen wir eine Weile im Kreis herum und machten Dehnübungen, um warm und beweglich zu werden. Dann übten wir an den Geräten und bekamen Rückmeldung und Verbesserungsvorschläge von unserer Trainerin Frau Göckler. Manchmal sprangen wir auch auf dem großen Trampolin oder übten auf dem kleinen mit Anlauf verschiedene Sprünge, zum Beispiel Strecksprung oder Hocksprung oder später auch Salto. Die anderen Kinder duzten Frau Göckler nach einiger Zeit und nannten sie liebevoll »Göcki«. Ich verstand, dass es gut wäre, wenn ich das auch täte, weil dieser Kosename eine gewisse Vertrautheit mit unserer Turnlehrerin ausdrückte. Um es den anderen Kindern gleichzutun und mich nicht ausgeschlossen zu fühlen, bemühte ich mich darum, Frau Göckler so anzusprechen, aber es fühlte sich immer fremd an, ich fühlte mich dabei fremd, und das blieb auch so.

Am Wochenende fuhren wir manchmal zu Wettkämpfen in unserer Region. Ich mochte diese Stimmung von Konzentration, Spannung und Leistungsbereitschaft sowie die Hallen mit den ganzen aufgebauten Geräten darin. Besonders aufgeregt war ich nicht bei Wettkämpfen, nur etwas angespannt und konzentriert.

Zu Pfingsten fuhr unser Turnverein immer mit allen Kindern, die daran teilnehmen wollten, ins Zeltlager nach Laubuseschbach. Auf dem dortigen Campingplatz wurden zwei oder drei sehr große Zelte aufgebaut, in denen wir zu mehreren schliefen. Einmal bin ich auch mit dabei gewesen. Ich fühlte mich dort aber sehr fremd, konnte mit den Spielen im Wald nicht wirklich viel anfangen. Die anderen Kinder meines Alters – Martina war auch mit dabei – massierten den älteren Mädchen, die im Turnen unsere Vorbilder waren, oft im Zelt den Rücken. Dazu konnte ich mich nun wirklich nicht durchringen, also beobachtete ich dieses Treiben aus sicherer Entfernung. Ich verstand auch nicht, wozu das gut sein sollte. Ich fühlte mich im Zeltlager verloren und völlig fehl am Platz. Einmal teilzunehmen reichte mir, ich bin danach nie wieder mitgefahren.

Empathie

Ich möchte gerne noch etwas darüber erzählen, wie meine Eltern auf Schmerzen oder Unfälle reagiert haben und wie ich selbst als Kind mit Schmerzen umgegangen bin.

Beim Brennball in der Schule bekam ich einmal den kleinen Lederball direkt auf meinen Ringfinger. Das tat sehr weh, der Finger war geschwollen und es dauerte ziemlich lange, bis die Schwellung zurückging. Aber wenn ich Schmerzen hatte, sagte meine Mutter immer nur: »Es tut einem schon mal etwas weh, das geht schon wieder weg.« Damit war die Sache erledigt. Zum Arzt ging man deswegen nicht.

Als ich etwa sieben Jahre alt war, quetschte mir Martinas Mutter versehentlich den Finger in der schmiedeeisernen Vorgartentür unseres Hauses. Sie reagierte ganz betroffen, wandte sich mir zu und entschuldigte sich. Das war eine ganz eindrückliche emotionale Erfahrung für mich. Ich erlebte dadurch zum ersten Mal, dass jemand mit mir mitfühlte.

Als ich neun Jahre alt war, hatten wir einen Autounfall in der Stadt. Ich hatte davon einen dicken Bluterguss am Schienbein, der mit der Zeit in allen Farben leuchtete. Meine Mutter fragte mich nie, ob das wehtat. Meine Turnlehrerin, Frau Göckler, dagegen schon. Als ich nach dem Autounfall zum Turnen ging, fragte sie mich, wie es mir gehe. Ich horchte erstaunt auf: Das kannte ich nicht von zu Hause. Mich hatte noch nie jemand mitfühlend gefragt, wie es mir geht. In meiner Familie wurde nicht über Gefühle und das eigene Befinden gesprochen. Ich erinnere mich auch an kein einziges Mal, dass ich wegen Krankheit nicht zur Schule gegangen wäre. Das gab es irgendwie nicht, krank zu sein.

Mit vierzehn habe ich meine Cousine Franzi im Schwarzwald besucht. Sie war geübt im Skifahren. Ich dagegen hatte nur ein paarmal auf Skiern gestanden. Franzi fuhr vor mir einen Abhang hinunter und bedeutete mir, es ihr gleichzutun. Bei der Abfahrt knickte ich jedoch um und spürte einen heftigen Schmerz im rechten Knöchel. Wieder zu Hause angekommen, war mein Fuß dick geschwollen und blieb es über einige Tage. Bei einer Routineuntersuchung einige Jahre später fragte mich ein Arzt, ob ich am rechten Fuß schon einmal einen Bänderriss gehabt hätte, da mein Fußgelenk in einer Richtung überbeweglich war. Das muss genau diese Verletzung gewesen sein. Jedenfalls ist meine Mutter auch bei diesem Unfall nicht mit mir zum Arzt gegangen.

Als Gegensatz zum Erlebnis mit dem gequetschten Finger passierte es mir einmal, dass ich mich zu Hause beim Gemüseschneiden in der Küche mit einem Messer verletzte. Der Finger blutete, ich hatte mich ordentlich geschnitten. Doch anstatt mich an meine Mutter zu wenden, lief ich aus der Küche und versteckte mich, da ich Angst hatte, von ihr deswegen ausgeschimpft zu werden.

Was ich sagen will, ist, dass ich in meiner Kindheit nur selten erlebt habe, dass meine Mutter auf meine Verletzungen oder Schmerzen mit Mitgefühl reagiert hätte. Sie tat alles als bedeutungslos ab, im Sinne von: Stell dich nicht so an! Später wusste ich deshalb auch nicht damit umzugehen, wenn andere Menschen empathisch mit mir waren.

Mein Vater reagierte in solchen Situationen noch einmal anders. Mit etwa elf Jahren war ich beim Radfahren auf unserer Straße gestürzt, dabei über den Lenker gefallen und hatte mir sehr wehgetan. Ich klingelte daraufhin zu Hause, mein Vater war da und drückte auf. Mir gelang es zuerst gar nicht, das Gartentor zu öffnen, weil ich unter Schock stand, sehr zitterte und keine Kraft in den Armen hatte. Endlich oben angekommen, sah mein Vater mich ganz erschrocken an. Er ließ sofort Badewasser für mich ein und setzte mich in die Wanne. Danach bekam ich überall Pflaster aufgeklebt. Er reagierte also vor allem ganz praktisch auf meine körperlichen Blessuren und versorgte mich diesbezüglich. Andere Eltern hätten ihr Kind vielleicht erst einmal in den Arm genommen und getröstet.

Als ich etwa zehn war, kamen wir am Morgen nach einer heftigen Regennacht in die Turnhalle. Die Decke war undicht und es hatte sich in einer Ecke eine große Wasserlache gebildet, die man aber nicht sah. Ich rutschte darauf aus und fiel mit dem Hinterkopf und dem Rücken direkt auf den Boden – und stand auf, als sei nichts passiert. Die Sportlehrerin war zu Anfang sehr besorgt, da ich jedoch gleich aufstand, ließ sie mich in Ruhe. Ich traute mich nicht, über Schmerzen zu klagen (die ich natürlich hatte), da mir klar war, dass sich die Sportlehrerin dann um mich gekümmert hätte. Aufgrund meiner mangelhaften Erfahrung mit Empathie hätte ich nicht gewusst, wie ich mit ihrer emotionalen Zugewandtheit umgehen sollte. Außerdem hätte ich es nicht ertragen, vor allen anderen Kindern im Mittelpunkt zu stehen. Glücklicherweise ist mir damals offensichtlich nichts wirklich Schlimmes passiert. Im Nachhinein denke ich, ich hätte ja auch eine Gehirn­erschütterung oder eine Blutung im Kopf davontragen können.

Noch ein Beispiel, wie in meiner Familie mit psychisch belastenden Situationen umgegangen wurde: Als ich mit neun zufällig bei meinen Großeltern zu Besuch war, starb mein Großvater. Ich hatte keine besonders enge Beziehung zu ihm gehabt, aber vorher noch nie einen Toten gesehen. Meine Mutter weckte mich an diesem Morgen und teilte es mir mit. Ich strahlte sie an, weil ich überzeugt war, dass sie einen Witz gemacht hatte, was aber nicht der Fall war. Ich zog mich an und wurde ohne weitere Erklärung in das Schlafzimmer meiner Großeltern geführt, in dem nun mein toter Opa lag. Das machte mir Angst. Auch danach wurde nicht weiter mit mir über den Todesfall gesprochen. Später bin ich immer mit großer Furcht in dieses Zimmer gegangen, wenn ich für meine Oma etwas holen musste, und konnte den Geruch darin nicht ertragen.

Bei der Beerdigung waren viele Leute, und alle weinten. Ich sah die Menschen, verstand aber nicht, warum sie weinten, denn meine eigene Stimmung war neutral. Als wir den Friedhof verließen, hob ich eine rosa Nelke auf und legte sie zu Hause in ein dickes Liederbuch zwischen die Seiten zum Trocknen. Das war meine Erinnerung an den Tag der Beerdigung.

Kurz danach hatte ich einen Traum: In unserer Wohnung kam mein Opa mir hinterher und versuchte mich zu greifen, ich lief weg und hatte große Angst vor ihm. Leider sprach niemand mit mir über meine Gefühle, die der Tod und die Beerdigung bei mir auslösten, sodass ich niemandem meine Angst mitteilen konnte. Auf die Idee, es meinen Eltern gegenüber von mir aus anzusprechen, kam ich nicht. So musste ich das alles mit mir alleine ausmachen.

Selbstständigkeit

Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult. Martina besuchte eine andere Schule, sodass wir nicht in derselben Klasse waren. Ich ging gerne zum Unterricht, denn ich mochte es zu lernen. Meine Hausaufgaben machte ich von Anfang an ganz alleine. Ich hätte es als empörend empfunden, wenn meine Eltern mich dazu angehalten oder mich kontrolliert hätten. Das war meine Sache und die erledigte ich pflichtschuldig. In meiner ganzen Schulzeit kam es eigentlich nie vor, dass ich die Hausaufgaben in einem Fach nicht gemacht hatte. Wie andere Eltern auch, fragte mich meine Mutter anfangs noch, wie es in der Schule gewesen sei. Da ich meiner Erinnerung nach jedoch nur selten etwas erwiderte – ich hätte nicht gewusst, was ich darauf sagen sollte, und fand es auch nicht interessant, von der Schule zu erzählen–, stellte sie das Fragen irgendwann ein.

Die Pausen nutzte ich oft dazu, aufs Klo zu gehen. Von der ersten Klasse an fühlte ich mich unbehaglich dabei, dass man nur in den Pausen auf die Toilette gehen konnte. Von daher musste sorgfältig geplant werden, ob ich es noch bis zur nächsten Pause aushalten würde oder ob ich nach jeder einzelnen Schulstunde die Toilette aufsuchen sollte. Meine Schwierigkeiten bei der Körperwahrnehmung zeigten sich nämlich auch darin, dass ich Probleme hatte, frühzeitig festzustellen, ob ich gerade Harndrang hatte oder nicht. Wenn ich musste, konnte ich daher oft auch nicht mehr lange warten oder aushalten. Aus diesem Grund entwickelte ich eine Art Tick: In unbeobachteten Momenten drückte ich mir mit beiden Händen kurz und fest von außen auf die Blase. So konnte ich Harndrang leichter und früher feststellen. Meine Mutter lachte meistens, wenn ich meinem Tick nachging und sie das mitbekam. Ich hatte dann immer das Gefühl, dass sie sich über mich lustig machte.

In der ersten Klasse hatte ich beobachtet, wie ein Kind aus unserer Klasse von den Mitschülern auf dem Boden festgehalten und gekitzelt wurde. Das war eine fürchterliche Vorstellung für mich, und ich bekam große Angst, dass mir das passieren würde. Folglich habe ich schon in der ersten Klasse damit begonnen, mich von meinen Mitschülern fernzuhalten, da ich sie als eine Quelle drohender Gefahr wahrnahm. Dadurch war ich und fühlte mich auch häufig alleine, hatte aber kaum den Stress, dass mich andere Kinder ärgerten. Ich war einfach immer zu weit von ihnen entfernt. Allerdings musste ich gleichzeitig sorgfältig aufpassen, dass niemand mitbekam, dass ich alleine war, weil ich fürchtete, sonst doch zur Außenseiterin zu werden.

Während der großen Pausen spielten die Mädchen meiner Klasse an einem Baum und mit einem Seil »Pferd«. Damit konnte ich nichts anfangen, also spazierte ich auf dem Schulhof herum. Zwei Jungen aus meiner Klasse kamen recht bald auf die Idee, mir hinterherzulaufen, was mich sehr störte. Ich nannte sie still für mich »die Dummen«, erzählte meiner Mutter davon und fragte sie, was ich dagegen tun sollte. Sie meinte, ich solle so tun, als ob mir das alles nichts ausmachen würde, dann würden die beiden von selbst das Interesse daran verlieren. Leider half das gar nichts. Trotzdem folgte ich von da an der Empfehlung meiner Mutter, immer so zu tun, als mache mir nichts etwas aus. So lernte ich zwar nicht, mich mit anderen Kindern auseinanderzusetzen, umschiffte aber geschickt mögliche soziale Klippen und kam so ganz gut durch die Schulzeit.

In der vierten Klasse bekamen wir eine neue Mitschülerin, Miriam, die ich spontan sehr sympathisch fand. Ich freundete mich schnell mit ihr an und wir verbrachten in dieser letzten Schulklasse der Grundschule viel Freizeit miteinander. Miriam besaß einen eigenen Kassettenrekorder mit Radio. Oftmals nahm sie aktuelle Hits aus der Hitparade auf. Durch sie lernte ich Popmusik kennen, besonders Neue Deutsche Welle, Nena und Udo Lindenberg, was mir gut gefiel. Anfangs dachte ich, dass die Lieder im Radio nicht von den echten Sängern gesungen würden, sondern von weniger bekannten Sängern nachgesungen seien. Ich dachte, das Radio könne es sich nicht leisten, die Lieder dieser teuren bekannten Sänger zu spielen.

Zu Hause kam ich nicht in Kontakt mit Populärmusik, die meine Eltern, insbesondere meine Mutter als niveaulos ansah. Sie kam aus einer Musikerfamilie. Ihr Großvater war Organist, ihr Vater hatte sich selbst das Klavierspielen beigebracht und spielte sehr schwere Stücke von bekannten Komponisten. Auch meine Oma spielte Klavier. Im Elternhaus meiner Mutter fanden oft Kammermusikkonzerte statt, und alle vier Kinder lernten ein Instrument. Meine Mutter erzählte uns Kindern, dass ihre Eltern jede andere als klassische Musik geringschätzten. Diese Ablehnung von Populärmusik hatte sie internalisiert, sodass ich mich nie traute, zu Hause derartige Musik zu hören, obwohl ich sie mochte. Hätte ich diese »minderwertige« Musik gehört, wäre auch ich selbst dadurch abgewertet worden, und das hätte ich nicht ertragen.

Bei Miriam zu Hause gab es ein Buch, den »Knigge«. Darin war beschrieben, wie man sich in sozialen Zusammenhängen zu verhalten hat. Ich war sehr angetan von diesem Buch und las oft darin.

In der fünften Klasse lernte Miriam, die eineinhalb Jahre älter war als ich, leider ein anderes Mädchen kennen, mit dem sie sich schnell anfreundete. Ich war plötzlich völlig abgeschrieben und uninteressant für sie geworden. Heute weiß ich, dass das vermutlich damit zusammenhing, dass sie schon längst in der Pubertät war, während ich aufgrund meiner körperlichen und vor allem auch psychischen Entwicklung noch Kind blieb. Doch damals litt ich sehr unter dieser Zurückweisung, die ich nicht begreifen konnte. Ich kam nicht auf die Idee, dass wir vielleicht auch zu dritt miteinander befreundet sein könnten. Ich hätte allerdings auch nicht gewusst, wie das geht. Also zog ich mich zurück und hoffte – getreu dem, was meine Mutter mir in Bezug auf die beiden Jungen in der Grundschule geraten hatte –, dass Miriam nicht bemerken würde, wie sehr mir das Ende unserer Freundschaft zu schaffen machte.

Fortan löste ich das Problem meines Alleinseins, indem ich während der großen Pausen immer zügig über den Schulhof lief. Wenn mich andere Kinder dann sahen, dachten sie vielleicht, dass ich jemanden suche (so meine Fantasie), und kämen nicht auf die Idee, dass ich in Wirklichkeit allein war. Die fünfte und sechste Klasse waren dann auch die extremsten Jahre, in denen ich in den Pausen immer »suchend aussehend« über den Schulhof lief. Eine andere richtige Freundin fand ich in meiner Klasse nicht. Ich hatte zu niemandem einen Draht und fühlte mich sehr alleine.

Türler ve etiketler

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