Kitabı oku: «Europäisches Prozessrecht», sayfa 9

Yazı tipi:

2. Das Vorverfahren der Staatenklage

177

Die durch andere Mitgliedstaaten eingeleitete Staatenklage sieht ebenfalls ein Vorverfahren vor. Es lässt sich in zwei Abschnitte einteilen: erstens den Antrag eines Mitgliedstaates und die anschließende Befassung der Kommission im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens und zweitens die abschließende Stellungnahme der Kommission.[32]

a) Der Antrag eines Mitgliedstaats und das kontradiktorische Verfahren

178

Die Einleitung des Verfahrens nach Art. 259 II und IV AEUV erfolgt auf Antrag eines Mitgliedstaats bei der Kommission. Anders als die Kommission sind die Mitgliedstaaten nicht zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens verpflichtet. Entscheiden sich die Mitgliedstaaten zur Antragstellung, kann dies formfrei erfolgen. Burgi weist in diesem Zusammenhang sogar auf die Möglichkeit eines mündlichen Antrags hin, der in der Praxis jedoch unüblich ist.[33] Wie im Mahnschreiben nach Art. 258 AEUV wird bereits im Vorverfahren der Staatenklage der Streitgegenstand eines potentiellen gerichtlichen Verfahrens festgelegt. Somit sollte der mitgliedstaatliche Antrag zumindest den Gegenstand des Vorwurfs, d.h. den Sachverhalt, nach dem sich aus Sicht des antragstellenden Mitgliedstaates die Vertragsverletzung ergibt, und die einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts enthalten. Des Weiteren muss der Zweck des mitgliedstaatlichen Antrags, d.h. die Einleitung der Staatenklage nach Art. 259 AEUV, deutlich erkennbar sein. Der Antrag darf somit nicht als bloße Anregung für die Einleitung einer Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV verstanden werden. Nichtsdestotrotz kann die Kommission, als „Hüterin der Verträge“, zu jeder Zeit ein eigenes Verfahren nach Art. 258 AEUV einleiten. Der antragstellende Mitgliedstaat kann in diesem Fall frei entscheiden, ob er an seinem Antrag festhalten möchte.

179

Mit dem Antrag des Mitgliedstaats muss der Gegenstand des Vorwurfs hinreichend substantiiert und der Zweck des Antrags hinreichend deutlich gemacht werden. Dann beginnt mit Antragstellung die Drei-Monats-Frist nach Art. 259 IV AEUV. Anderenfalls muss die Kommission den antragstellenden Mitgliedstaat auffordern, Unklarheiten auszuräumen.[34] Die Frist beginnt erst, sobald dies geschehen ist. Sie wird im Übrigen nicht nach Art. 51 VerfO-EuGH verlängert, da es sich nicht um eine durch den GHEU gesetzte Frist handelt.

180

Nach der Antragstellung muss die Kommission „den beteiligten Staaten (…) Gelegenheit zu schriftlicher und mündlicher Äußerung in einem kontradiktorischen Verfahren“ geben (Art. 259 III AEUV). Während dieses Verfahrens dürfen sich die Mitgliedstaaten nur auf den im Antrag festgelegten Gegenstand beziehen. Die Kommission kann diesen kontradiktorischen Verfahrensteil nach ihrem Ermessen organisieren. Sie kann entscheiden, wie häufig den Mitgliedstaaten das Recht zur schriftlichen und mündlichen Äußerung gegeben wird. Die Kommission muss allerdings für absolute Chancengleichheit sorgen.[35] Ihr kommt in diesem Sinne eine ermessensbegrenzende Schieds- und Vermittlerfunktion zu.[36]

b) Die abschließende Stellungnahme der Kommission

181

Sofern der antragstellende Mitgliedstaat nach Abschluss des kontradiktorischen Verfahrens an der Einleitung der Staatenklage festhalten möchte, gibt die Kommission eine abschließende Stellungnahme ab. Nach Ablauf der Drei-Monats-Frist räumt Art. 259 IV AEUV dem antragstellenden Mitgliedstaat allerdings ein von der Stellungnahme der Kommission unabhängiges Klagerecht ein. Im Gegensatz zu Art. 258 AEUV ist die abschließende Stellungnahme also keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Klage. Ebenso können mögliche Rechtsverstöße der Kommission, wie z.B. eine Erweiterung des im mitgliedstaatlichen Antrag dargelegten Verfahrensgegenstands, nicht zum Verlust der Klagemöglichkeit eines Mitgliedstaats führen.[37]

IV. Klagegegenstand

182

Die gerichtliche Prüfung der Klage nimmt zuerst das Vorverfahren in den Blick: Im ersten Schritt wird ermittelt, ob die Klageschrift über den im Vorverfahren festgelegten Streitgegenstand hinausgeht. Liegt eine solche unzulässige Erweiterung des Streitgegenstands nicht vor, wird im zweiten Schritt geprüft, ob der Klagegegenstand statthaft ist. Dies ist der Fall, wenn der Kläger der Auffassung ist, dass der beklagte Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat (Art. 258 I, Art. 259 I AEUV). Der behauptete Vertragsverstoß kann durch die Handlungen oder Unterlassungen sämtlicher Organe eines Staates herbeigeführt worden sein,[38] die Rechtsprechungstätigkeit eines Gerichts ebenso wie eine verfestigte und allgemeine Verwaltungspraxis der nationalen Behörden.[39]

Eine Ausnahme sieht Art. 126 X AEUV für die Überprüfung der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten vor. Die Überprüfung durch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 f. AEUV ist danach ausgeschlossen und das in Art. 126 I bis IX AEUV geregelte Verfahren zur Überwachung der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der allgemeinen Regelungen, nach denen die Kommission das materielle Unionsrecht durchsetzt und bei mitgliedstaatlichen Verstößen den EuGH anrufen kann.

183

Bezugspunkt und Prüfungsmaßstab ist das Unionsrecht in seiner Gesamtheit. Denn weder die Pflicht der Kommission, für die Anwendung der Verträge Sorge zu tragen (Art. 17 I EUV), noch die daraus korrespondieren Pflichten der Mitgliedstaaten (Art. 4 III UA 2 EUV), unterscheiden zwischen Primär-und Sekundärrechtsakten. Zudem ist eine mitgliedstaatliche Verletzung eines Sekundärrechtsakts auch gleichzeitig als ein Verstoß gegen Art. 288 AEUV anzusehen. Mitgliedstaatliche Verstöße gegen völkerrechtliche Verträge die in die (Außen-)Kompetenzen der Union fallen, und somit einen integralen Bestandsteil der Unionsrechtsordnung bilden, können ebenfalls Klagegegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sein.[40] Des Weiteren werden die allgemeinen Rechtsgrundsätze, und in diesem Zusammenhang insbesondere die europäischen Grundrechte (vgl. Rn. 681 ff.), erfasst.

184

Sollte die Kommission bzw. der antragstellende Mitgliedstaat den Vorwurf einer Primärrechtsverletzung erheben, sich der beklagte Mitgliedstaat jedoch in der Sache zutreffend darauf berufen, dass er mit dem gerügten Verhalten seinen EU-sekundärrechtlichen Verpflichtungen nachkommt, ist das Vertragsverletzungsverfahren unzulässig. Eigentlicher Verfahrensgegenstand ist hier nämlich die Primärrechtsverletzung des Sekundärrechtsaktes, weswegen die Kommission bzw. der antragstellende Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV (vgl. Rn. 209 ff.) hätte erheben müssen.

185

Die umgekehrte Argumentation ist für den beklagten Mitgliedstaat nach Ansicht des EuGH aufgrund von Art. 277 AEUV (vgl. § 12) möglich: Wenn der Mitgliedstaat sich gegen den behaupteten Sekundärrechtsverstoß mit der Argumentation verteidigt, das Sekundärrecht sei primärrechtswidrig und damit nichtig, hätte der Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage erheben müssen. Denn ein Rechtsakt der Union ist solange als rechtmäßig und wirksam zu behandeln, bis ihn der GHEU für ungültig erklärt hat oder er sich auf sonstige Weise erledigt hat. Dem Mitgliedstaat ist jedoch nach Art. 277 AEUV die Inzidentrüge möglich.[41] In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass die privilegiert nichtigkeitsklageberechtigten Mitgliedstaaten nur inzident rügen können, wenn es ihnen rechtlich oder faktisch unmöglich war, vorher zu klagen.[42] Diese Sichtweise teilt der EuGH wohl nicht.[43] Die Unionsrechtswidrigkeit eines Sekundärrechtsaktes kann also als Rechtfertigungsgrund im Vertragsverletzungsverfahren geltend gemacht werden.

186

Für die Bestimmung des Klagegegenstandes in Fall 1 ist entscheidend, dass die Kommission in ihrem Schreiben vom November 2017, mit dem das Vertragsverletzungsverfahren eröffnet wurde, lediglich den Nationalitätsvorbehalt monierte, nicht aber den Tätigkeitsvorbehalt. Dessen Unionsrechtswidrigkeit führte sie erst in der begründeten Stellungnahme auf.

Es trifft zwar zu, dass die Kommission in der Einleitung des Verfahrens frei ist („kann“). Auch folgt aus dem Wortlaut des Art. 258 AEUV nicht eindeutig, dass in die begründete Stellungnahme nicht noch weitere, sachlich verknüpfte Fragen einbezogen werden können. Doch das Vorverfahren bezweckt, dem Mitgliedstaat rechtliches Gehör sowie die Möglichkeit zu gewähren, den Verstoß außergerichtlich zu beheben. Insofern ist der Klagegegenstand doppelt akzessorisch sowohl zu dem Mahnschreiben als auch zu der begründeten Stellungnahme. Auch wenn die im Mahnschreiben erhobenen Vorwürfe nicht vollständig identisch mit denen der Klage sein müssen – rechtliche Argumente und Tatsachenvortrag können später vertieft oder ausformuliert werden –, ist die den Verfahrensgegenstand eingrenzende Funktion des Vorverfahrens in Fall 1 beeinträchtigt, weil die Kommission mit dem „Tätigkeitsvorbehalt“ einen selbstständigen Vertragsverstoß später in das Verfahren einführt. Der Klagegegenstand beschränkt sich daher auf den Vorwurf, der Notarberuf sei in Deutschland deutschen Staatsangehörigen vorbehalten. Der Vorwurf, Notaren seien bestimmte Tätigkeiten vorbehalten, ist hingegen kein zulässiger Verfahrensgegenstand und die Aufsichtsklage insoweit unzulässig.

V. Ordnungsgemäße Klageerhebung

187

Nach Art. 119 ff. VerfO-EuGH ist das Vertragsverletzungsverfahren als „normale“ Direktklage einzuordnen. Formell muss sie daher von einem Vertreter des Klägers ordnungsgemäß unterzeichnet und schriftlich beim EuGH eingereicht werden. Bleibt der konkrete Vorwurf einer Vertragsverletzung in der Klageschrift unklar, wird dies zu Lasten des Klägers ausgelegt und kann zur Abweisung der Klage führen.

188

Die Entscheidung, ob und wann der EuGH angerufen wird, ist grundsätzlich der Kommission oder dem klagenden Mitgliedstaat überlassen. Der frühestmögliche Zeitpunkt für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens ist demnach das ergebnislose Verstreichen der im Vorverfahren gesetzten Frist. In seltenen Fällen, z.B. wenn die Kommission bzw. der klagende Mitgliedstaat mit der Klageerhebung rechtsmissbräuchlich lange warten, ohne dass es gute Gründe für die Verzögerung gibt, kommt eine Verwirkung des Klagerechts in Betracht.[44]

189

Auch in Fall 1 musste die Klage nach Art. 258 AEUV nicht innerhalb einer bestimmten Frist erhoben werden. Sie durfte allerdings auch nicht vor Ablauf der Frist erhoben werden, welche die Kommission in der begründeten Stellungnahme zur Beseitigung des Verstoßes gesetzt hatte. Während die begründete Stellungnahme im Februar 2018 abgegeben wurde, wurde die Klage erst im Mai erhoben, also etwa drei Monate später. Die gesetzte Frist betrug zwei Monate, was auch nicht unangemessen war.

VI. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

190

Da das Vertragsverletzungsverfahren den objektiven Schutz des Unionsrechts und gerade nicht den subjektiven Rechtsschutz des Klägers bezweckt, muss keine Klagebefugnis oder ein besonderes klägerseitiges Rechtsschutzinteresse dargelegt werden. Dies folgt auch aus der Rechtsprechung des EuGH, nach der die Feststellung einer Vertragsverletzung stets auf der rechtlichen und tatsächlichen mitgliedstaatlichen Situation nach Ablauf der im Vorverfahren gesetzten Frist basiert. Spätere Änderungen werden vom EuGH nicht mehr berücksichtigt;[45] ein allgemeines Rechtsschutzbedürfnis kann daher im Nachhinein auch nicht entfallen.[46] Wenn also der Unionsrechtsverstoß bis zum Ablauf der im Vorverfahren gesetzten Frist nicht beseitigt wurde, geht der Gerichtshof von einem Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses aus.

191

Kein Rechtsschutzbedürfnis besteht hingegen, wenn der betroffene Mitgliedstaat sein Verhalten während der gesetzten Frist ändert. Dies wird teilweise für die Fallgruppen bestritten, in denen eine akute und konkrete Wiederholungsgefahr oder mögliche Haftungsansprüche bestehen.[47] Dem ist jedoch nicht zu folgen. Durch die Beseitigung des Verstoßes hat der betroffene Mitgliedstaat die aus der begründeten Stellungnahme hervorgehenden Verpflichtungen erfüllt. Somit ist eine Klage zwangsläufig unzulässig.[48]

192

In Fall 1 beseitigte die BRD den klagegegenständlichen Nationalitätsvorbehalt nach Ablauf der Beseitigungsfrist aber noch vor Klageerhebung. Teilweise wird vertreten, dass damit die Klage unzulässig wird. Ihr Rechtsschutzziel, nämlich die Herstellung unionsrechtmäßigen Verhaltens durch die Mitgliedstaaten, sei erreicht und ein Klagebedürfnis bestehe nicht mehr. Nach dieser Ansicht fehlt es vorliegend an einem Klageerhebungsinteresse. Andererseits hat die Kommission ein solches Interesse, wenn der gerügte Unionsrechtsverstoß Folgewirkungen hat. Die dazu entwickelten Fallgruppen, die Feststellung eines haftungsrechtlich relevanten Tatbestands, Wiederholungsgefahr oder die Klärung von Rechtsfragen, die für die EU und ihr Funktionieren von grundsätzlicher Bedeutung sind, sind vorliegend nicht einschlägig. Nach dieser Ansicht entfällt das Klageerhebungsinteresse der Kommission hinsichtlich des Nationalitätsvorbehalts.

Vorzugswürdig kommt es jedoch allein darauf an, ob die Beseitigungsfrist der Kommission bereits abgelaufen ist. Denn mit seiner Untätigkeit gibt der betroffene Mitgliedstaat endgültig zu erkennen, dass er den Rechtsverstoß nicht einräumt und eine gerichtliche Klärung bevorzugt. Ferner hat es disziplinierende Wirkung, wenn der Mitgliedstaat nicht erst unmittelbar vor oder gar während eines Verfahrens vor dem Gerichtshof den Verstoß abstellen und eine Verurteilung vermeiden kann. Dieser Ansicht ist zugute zu halten, dass sie es konsequent unterlässt, ein ungeschriebenes Rechtsschutzinteresse als Zulässigkeitsvoraussetzung eines objektivrechtlichen Verfahrens einzuführen. Mitgliedstaaten haben während des Vorverfahrens hinreichend Zeit, Vertragsverletzungen abzustellen. Nach Fristablauf sollte ihnen keine weitere Möglichkeit gegeben werden, die Entscheidung der Kommission, Klage zu erheben, zu unterminieren. Vorliegend spricht dafür auch, dass die BRD nicht aufgrund unionsrechtlicher Bedenken den Nationalitätsvorbehalt abgeschafft hat, sondern um den Notarberuf attraktiver zu machen.

§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › C. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens

C. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens

193

Der EuGH entscheidet auf zulässige Klagen hin, ob der Mitgliedstaat die ihm zur Last gelegte Unionsrechtsverletzung objektiv begangen hat, und er sie innerhalb der im Vorverfahren gesetzten Frist auch nicht revidiert hat.[49] Die Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens wird hierbei grundsätzlich in einem Dreischritt geprüft. Zunächst müssen die von der Kommission bzw. dem klagenden Mitgliedstaat behaupteten Tatsachen zutreffen. Danach muss geklärt werden, ob die vorgeworfenen Handlungen oder Unterlassungen rechtlich eindeutig einem Mitgliedstaat zuzurechnen sind. Drittens und letztens muss entschieden werden, ob sich hieraus ein Verstoß gegen das Unionsrecht ergibt.

194

Die ersten beiden Prüfungspunkte sind – zumal in der Klausursituation – meistens unproblematisch zu bejahen. Soweit sich Zurechnungsproblematiken ergeben, können diese auch im dritten Prüfungspunkt erörtert werden. Denn die materiell-rechtliche Prüfung erlaubt es konkret im Hinblick auf die möglicherweise verletzte Norm des Unionsrechts, Handlungsverbote und Handlungspflichten des beklagten Mitgliedstaates zu untersuchen.

I. Verstoß gegen Unionsrecht

195

Wie bereits dargelegt, bildet das gesamte Unionsrecht den Prüfungsmaßstab für das mitgliedstaatliche Fehlverhalten. Dies umfasst Primärrecht und abgeleitetes Recht genauso wie einschlägiges Völkerrecht, sofern letzteres als integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung anzusehen ist.

196

Auf die innerstaatliche Rechtsnatur des beanstandeten Verhaltens kommt es nicht an. Es können z.B. sowohl mitgliedstaatliche Gesetze als auch verwaltungsinterne Vorschriften, Realakte oder eine verfestigte und allgemeine Behördenpraxis den Gegenstand einer Klage bilden. Unionsrechtwidrige mitgliedstaatliche Absichten sind noch nicht als Vertragsverstoß anzusehen. Die Kommission kann jedoch eine Warnung aussprechen. Sobald die nationalen Parlamente über einen unionsrechtswidrigen Beschluss abstimmen, kann sich die Kommission allerdings auf das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit berufen (Art. 4 III EUV) und Klage erheben.[50]

II. Nachweispflichten/Beweislast

197

Die Kommission bzw. den klagenden Mitgliedstaat trifft eine strenge Darlegungs-und Beweislast hinsichtlich des Vorliegens eines mitgliedstaatlichen Unionsrechtsverstoßes.

Beispiel:

In der Rs. 287/03 führte der EuGH aus, dass es „Sache der Kommission [sei] dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es ihm ermöglichen, das Vorliegen einer Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann“. Die Vertragsverletzung könne „nur durch einen hinreichend dokumentierten und detaillierten Nachweis der (…) dem betreffenden Mitgliedstaat zuzurechnenden Praxis dargetan werden“. Diese müsse allgemein und in bestimmtem Grad verfestigt sein.[51]

198

Eine Umkehr der Beweislast kommt nur in Betracht, wenn sich der betroffene Mitgliedstaat in seiner Verteidigung auf eine unionsrechtliche Ausnahmeregelung oder eine objektive Unmöglichkeit berufen möchte.[52]

III. Rechtfertigung des Vertragsverstoßes

199

Aufgrund der objektiv-rechtlichen Natur des Verfahrens können sich die betroffenen Mitgliedstaaten in ihrer Verteidigung nur auf drei Argumente zu ihrer Verteidigung berufen. Sie können


1. die dem Verfahren zugrunde liegenden Tatsachen bestreiten;
2. sich auf höhere Gewalt (force majeure) berufen, die ein unionsrechtmäßiges Verhalten objektiv unmöglich gemacht habe; dazu muss die Kommission (bzw. der antragstellende Mitgliedstaat) rechtzeitig über diese Umstände informiert worden sein;
3.

200

Abgesehen von dem tatsächlichen Bestreiten des Sachverhalts, das in der Praxis eher selten vorkommt, stehen dem betroffenen Mitgliedstaat ausschließlich Verteidigungsgründe zur Verfügung, die aus dem Unionsrecht abgeleitet werden können. Im nationalen Recht begründete Rechtfertigungen, insbesondere der Einwand, unionsrechtmäßiges Verhalten widerspreche nationalem Verfassungsrecht, sind nach der Rechtsprechung des EuGH unzulässig.[54] Die Mitgliedstaaten können das eigene unionrechtswidrige Verhalten auch nicht mit der Vertragsbrüchigkeit anderer Mitgliedstaaten rechtfertigen,[55] oder sich auf eine zu kurze Dauer der Umsetzungsfrist oder Schwierigkeiten bei der Auslegung einer Richtlinie berufen[56]. Das Argument, die Umsetzung einer Richtlinie stehe unmittelbar bevor, hat der EuGH ebenfalls zurückgewiesen.[57]

§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › D. Entscheidung des EuGH