Kitabı oku: «Europäisches Prozessrecht», sayfa 8
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren
Inhaltsverzeichnis
A. Charakter und Funktion des Verfahrens
B. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens
C. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens
D. Entscheidung des EuGH
E. Die Durchsetzung des Urteils
F. Zusammenfassung
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Die supranationale Unionsrechtsordnung hat eine obligatorische gerichtliche Kontrolle zur Durchsetzung des Unionsrechts geschaffen. Darin unterscheidet sie sich von anderen Völkerrechtsordnungen. Das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 ff. AEUV) ist eine der beiden wichtigen Direktklagen, denen sich die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten bedienen können.
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Primär obliegt es der Europäischen Kommission, als „Hüterin der Verträge“ für die Einhaltung und Anwendung des primären und sekundären Unionsrechts zu sorgen. Neben Bereichen, in denen ihr spezielle Kontroll- und Überwachungsbefugnisse zukommen, wie z.B. dem Beihilfenrecht, kann die Kommission mittels eines auch als Aufsichtsklage bezeichneten Vertragsverletzungsverfahrens mitgliedstaatliche Unionsrechtsverstöße rügen und sie durch den GHEU kontrollieren lassen. Sollte eine Vertragsverletzung gerichtlich festgestellt werden, können Mitgliedstaaten mittels Sanktionen zur Vornahme von unionsrechtlich gebotenen Maßnahmen angehalten werden. Zudem bietet das Vertragsverletzungsverfahren Mitgliedstaaten die Option, eine Staatenklage gegen andere Mitgliedstaaten wegen Verletzung des Unionsrechts zu erheben. Aus Gründen der politischen Rücksichtnahme unter den Mitgliedstaaten besitzt diese Klagemöglichkeit jedoch nur geringe praktische Relevanz.[1]
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › A. Charakter und Funktion des Verfahrens
A. Charakter und Funktion des Verfahrens
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Die Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 f. AEUV bietet die Möglichkeit, feststellen zu lassen, dass ein Mitgliedstaat gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat. Ziel des Verfahrens ist es demzufolge, Mitgliedstaaten zur Erfüllung ihrer unionsrechtlichen Verpflichtungen anzuhalten. Gleichzeitig profitieren davon die uniforme Durchsetzung und die Einhaltung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten. Das Vertragsverletzungsverfahren erfüllt eine objektiv-rechtliche Funktion, da es auf die Verletzung subjektiver Rechte natürlicher und juristischer Personen nicht ankommt.[2] Soweit Personen durch unionsrechtswidrige Maßnahmen eines Mitgliedstaats betroffen sind, können sie sich formlos und kostenfrei an die Kommission wenden und eine individuelle Beschwerde einreichen. Es besteht allerdings kein subjektives Recht auf die anschließende Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission.
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Die Überprüfung der Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Akte mit dem Unionsrecht kann sowohl von der Kommission im Rahmen einer Aufsichtsklage (Art. 258 AEUV) als auch von einem anderen Mitgliedstaat mittels einer Staatenklage (Art. 259 AEUV) eingeleitet werden. Die Verträge verweisen an weiteren Stellen explizit auf diese beiden Klagemöglichkeiten (Art. 108 II UA 2, Art. 114 IX, Art. 348 II AEUV).
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Streiten sich EU-Mitgliedstaaten über ihre unionsrechtlichen Rechte und Pflichten, sind sie nach Art. 344 AEUV verpflichtet, auf das Vertragsverletzungsverfahren zurückzugreifen. Gleichwohl ist die Bedeutung der Staatenklage in der Praxis äußerst gering. Der EuGH hat bis Ende 2017 in lediglich vier Entscheidungen über Staatenklagen nach Art. 259 AEUV geurteilt.[3]
Beispiel:
Der ungarische Präsident wurde von den slowakischen Behörden daran gehindert, zu einer Feier zum Gedenken an den Gründer und ersten König Ungarns in die Slowakei einzureisen und dort eine Rede zu halten. Da am selben Jahrestag allerdings die Truppen des Warschauer Pakts unter Beteiligung der ungarischen Streitkräfte in die damalige Tschechoslowakei einmarschiert waren, hielt die slowakische Regierung die Einreise des ungarischen Präsidenten für politisch unerwünscht. Ungarn leitete daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren mit der Begründung ein, das Einreiseverbot verstoße gegen die persönliche Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 21 AEUV). Beschränkungen der Freizügigkeit sind laut RL 2004/38 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zu rechtfertigen. Ein solches Sicherheitsrisiko lag nach der Auffassung Ungarns nicht vor.
Der EuGH stellte fest, dass der Präsident als ungarischer Staatsangehöriger den Status eines Unionsbürgers genieße. Der Status des Staatsoberhaupts weise jedoch völkerrechtliche Besonderheiten auf: Handlungen eines Staatsoberhaupts unterlägen dem völkerrechtlichen Recht der diplomatischen Beziehungen. Hieraus folge, dass es das souveräne Recht eines jeden Staates sei, selbst zu entscheiden, welche Staatsoberhäupter das Land bereisen dürfen. Ein Unionsbürger, der das Amt eines Staatsoberhauptes bekleide, müsse folglich die aus dem Völkergewohnheitsrecht abzuleitenden Einschränkungen des ihm in Art. 21 AEUV gewährten Freizügigkeitsrechts hinnehmen.[4]
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Die Kommission hingegen macht von ihrem Aufsichtsklagerecht durchaus Gebrauch. Sie kommt damit ihren primärrechtlichen Verpflichtungen nach, denn ihr fällt
„kraft ihres Amtes im allgemeinen Interesse der [Union] die Aufgabe zu, die Ausführung des Vertrages und der auf seiner Grundlage von den Organen erlassenen Vorschriften durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und damit etwaige Verstöße gegen die sich hieraus ergebenen Verpflichtungen feststellen zu lassen, damit sie abgestellt werden.“[5]
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Diese Aufgabe der Kommission ist in Art. 17 I EUV vertraglich niedergelegt, sodass die Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV als besondere Ausprägung der in Art. 17 EUV festgelegten Pflichten der Kommission zu verstehen ist.[6]
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Da Aufsichtsklage und Staatenklage selbstständig nebeneinander stehen, kann derselbe Sachverhalt zur Erhebung einer Staaten- und einer Aufsichtsklage führen. Der Eingang einer mitgliedstaatlichen Staatenklage hindert die Kommission nicht an der gerichtlichen Einleitung einer Aufsichtsklage aufgrund desselben mitgliedstaatlichen Vertragsverstoßes. Zudem sind auf Grund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch mitgliedstaatliche Gerichte dazu angehalten, unionsrechtswidrige innerstaatliche Rechtsakte zu verwerfen. Eine Klage vor der nationalen Gerichtbarkeit schließt die direkte Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens ebenso wenig aus. Im Gegenzug sperrt das Unionsrecht zu keinem Zeitpunkt die Einleitung eines nationalen Verfahrens; bei unionsrechtlichen Gültigkeitsfragen kann das mitgliedstaatliche Gericht diese nach Art. 267 AEUV vorlegen (vgl. Rn. 395).[7]
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › B. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens
B. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens
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Fall 1:[8]
Im August 2017 nahm die Europäische Kommission eine Untersuchung wegen eines möglichen Verstoßes der Bundesrepublik Deutschland (BRD) gegen die Verpflichtungen aus den Verträgen auf. Dabei stellte sie fest, dass der Zugang zum Beruf des Notars in Deutschland nur deutschen Staatsangehörigen eröffnet ist (sog. Nationalitätsvorbehalt). Dies verstieß nach Ansicht der Kommission gegen den Diskriminierungsschutz der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV).
Ohne zuvor den Dialog mit der BRD zu suchen, forderte die Kommission die BRD im November 2017 auf, sich zu dem vorgeworfenen Verstoß innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu äußern. Dabei legte die Kommission schriftlich die Tatsachen und wesentlichen Rechtsgründe dar, die aus ihrer Sicht zu einer Verletzung der genannten Vorschriften führen. Ferner teilte sie mit, dass mit diesem Schreiben ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die BRD eingeleitet werde. Die BRD reagierte auf das Kommissionsschreiben nicht.
Im Februar 2018 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Dabei wiederholte sie zunächst, dass der Nationalitätsvorbehalt einen Verstoß gegen den AEUV darstelle. Ferner führte sie erstmals aus, dass auch der sog. Tätigkeitsvorbehalt, d.h. der Vorbehalt der in der Bundesnotarordnung geregelten Tätigkeiten zu Gunsten von Notaren, einen Verstoß gegen den AEUV darstelle. Die Kommission setzte der BRD in ihrer Stellungnahme eine Frist von zwei Monaten zur Beseitigung dieser beiden Verstöße. Die BRD reagierte abermals nicht, informierte die Kommission jedoch Anfang Mai davon, dass durch eine lange geplante und zum 1.5.2018 in Kraft getretene Gesetzesnovelle des Notarwesens der Nationalitätsvorbehalt entfallen sei. Mit der Gesetzesänderung sollte der Notarberuf attraktiver gemacht werden. Dennoch erhob die Kommission Mitte Mai 2017 Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union.
Im Laufe des Verfahrens erwiderte die BRD auf die Klage der Kommission, dass der Vorwurf hinsichtlich des Tätigkeitsvorbehaltes schon deswegen unzulässig sei, weil er erst in der begründeten Stellungnahme erhoben worden sei. Die BRD habe sich zuvor dazu überhaupt nicht äußern können, zumal die Kommission auch treuwidrig von der Durchführung des üblichen Pilotverfahrens abgesehen hätte. Der Nationalitätsvorbehalt sei mittlerweile ohnehin nur noch Rechtsgeschichte.
Die Kommission hielt in ihrer weiteren Erwiderung entgegen, dass es allein in der Entscheidungsbefugnis der Kommission liege, wann und wie sie ein Vertragsverletzungsverfahren führe. Geklagt werden könne auch ohne vorhergehendes Pilotverfahren. Jedenfalls habe die BRD genügend Gelegenheit, sich vor dem Gerichtshof zu dem Vorwurf hinsichlich des Tätigkeitsvorbehalts zu äußern.
Ist die von der Kommission gegen die BRD erhobene Klage zulässig?
I. Zuständigkeit
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Das Vertragsverletzungsverfahren vor dem GHEU (Art. 19 III lit. a) EUV, Art. 258 f. AEUV) fällt organintern in die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH. Art. 256 I UA 1 AEUV i.V.m. Art. 51 GHEU-Satzung schließt eine Übertragung der Zuständigkeit auf das EuG aus. Darin kommt der verfassungsrechtliche Charakter der im föderalen Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten oder den Mitgliedstaaten untereinander wurzelnden Streitigkeit zum Ausdruck (ähnlich dem bundesverfassungsgerichtlichen Bund-Länder-Streit).
II. Parteifähigkeit
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Das Vertragsverletzungsverfahren ist ein kontradiktorisches Verfahren vor dem EuGH, für das sowohl Kläger als auch Beklagter parteifähig sein müssen.
Nach Art. 258 I AEUV ist die Kommission antragsberechtigt und somit aktiv parteifähig. Nach Art. 259 I AEUV kommt diese Rolle auch den Mitgliedstaaten zu. Passiv parteifähig in Verfahren nach Art. 258 f. AEUV sind ausschließlich die Mitgliedstaaten. Es ist zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung des EuGH[9] eine umfassende Zurechnung von unionsrechtlichem Fehlverhalten zu einem Mitgliedstaat vorgenommen wird, die sich auf die Handlungen sämtlicher mitgliedstaatlicher Organe, Institutionen und Gebietskörperschaften erstreckt.
Beispiel:
Teilweise sind in Deutschland die Bundesländer für die Umsetzung von Richtlinien verantwortlich. Kommt es zu einer lückenhaften, mangelhaften oder nicht fristgerechten Umsetzung, muss sich die BRD als Gesamtstaat diese Versäumnisse zurechnen lassen. Die Frage der Umsetzung ist allein von nationalrechtlicher Relevanz; in Deutschland sind die Art. 30, 70 ff. GG einschlägig. Hiernach kommt dem Bund keine generelle unionale „Umsetzungskompetenz“ zu. Die Länder werden durch den Grundsatz der Bundestreue zur rechtmäßigen Umsetzung von EU-Richtlinien verpflichtet. Sollte es aufgrund von Umsetzungsverstößen der Bundesländer zu Schadensersatzforderungen oder Strafzahlungen kommen, haften diese innerstaatlich selbst (Art. 104a VI GG).[10] Aus unionsrechtlicher Perspektive muss sich dennoch die BRD, organschaftlich durch die Bundesregierung vertreten, als rechtmäßiger Klagegegner im Vertragsverletzungsverfahren verantworten.
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Der Grundsatz, dass ein organschaftliches Fehlverhalten einem Mitgliedstaat als Ganzem zugerechnet werden kann, gilt auch dann, wenn die einzelnen Staatsgewalten selbst nicht rechtsfähig sind. So kann z.B. die unabhängige Tätigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts zum Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen diesen Mitgliedstaat werden, wenn das Gericht gegen seine Vorlagepflicht aus Art. 267 III AEUV verstößt. In der Praxis verzichtet die Kommission aufgrund des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Justiz in diesen Fällen jedoch häufig auf die Erhebung der Aufsichtsklage.[11]
III. Ordnungsgemäße Durchführung des Vorverfahrens
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Das Vertragsverletzungsverfahren ist nur dann zulässig, wenn dem beklagten Mitgliedstaat zuvor im Rahmen eines Vorverfahrens die Gelegenheit gegeben wurde, sich zu dem Vorwurf, Unionsrecht verletzt zu haben, zu äußern. Souveränitätsschonend soll so auf diplomatischem Weg ein potentielles „Anprangern“ des betreffenden Mitgliedstaats verhindert werden. Insofern bezweckt das Vorverfahren, Konflikte im Vorfeld gerichtlicher Auseinandersetzungen politisch zu lösen, indem der Staat einen eventuellen Verstoß abstellen oder sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzen kann. Eine weitere wichtige Funktion des Vorverfahrens ist die Festlegung und Beschränkung des prozessualen Streitgegenstands.[12] Dem Vorverfahren kommt insgesamt also eine Warn- und Filterfunktion zu.[13]
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Noch vor Einleitung des Vorverfahrens der Aufsichtsklage versucht die Kommission, die einzelnen Vorwürfe in einem primärrechtlich nicht vorgesehenen informellen schriftlichen Austausch mit dem zuständigen Ministerium des betreffenden Mitgliedstaats auszudiskutieren. Dieses Pilotverfahren verfolgt das Ziel, die Streitigkeiten über die von der Kommission vermutete Vertragsverletzung mit Hilfe eines vertraulichen Schriftwechsels beizulegen. Ein etwaiges Einlenken der Mitgliedstaaten kann so unter Ausschluss der Öffentlichkeit und insbesondere der Medien stattfinden; dies ist wohl der effizienteste Weg einer außergerichtlichen Einigung. In der Praxis werden häufig sog. Paketsitzungen einberufen, bei denen Beamte der Kommission und des betroffenen Mitgliedstaats gemeinsam nach einer Lösung für das Problem suchen. Das offizielle Vorverfahren wird erst nach Scheitern des Pilotverfahrens eingeleitet.[14]
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Ausnahmsweise entfällt in beihilferechtlichen Streitigkeiten das Vorverfahren nach Art. 108 II UA 2 AEUV, wenn das förmliche Prüfverfahren mit einem Negativbeschluss der Kommission endet. Dann können die Kommission oder von der Beihilfe betroffene Staaten unmittelbar Klage erheben. In diesem Fall beschränkt sich der Klagegegenstand auf die Nichtbefolgung des Kommissionsbeschlusses. Der beklagte Mitgliedstaat kann sich nur damit verteidigen, dass er den Beschluss nicht (mehr) befolgen muss. Eine inhaltliche Rechtmäßigkeitsprüfung des Kommissionsbeschlusses findet nicht statt.[15] Dafür müsste der betroffene Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage erheben.
1. Das Vorverfahren der Aufsichtsklage
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Das Vorverfahren nach Art. 258 I AEUV sieht zuerst ein Mahnschreiben der Kommission vor, dann die Möglichkeit zur Gegendarstellung durch den betroffenen Mitgliedstaat und daran anschließend die begründete Stellungnahme der Kommission. Mahnschreiben und Stellungnahme sind zwingende Zulässigkeitsvoraussetzungen. Äußert sich der Mitgliedstaat nicht, führt dies hingegen nicht zur Unzulässigkeit der Klage.[16]
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Umstritten ist, ob die Kommission rechtlich verpflichtet ist, auf mutmaßliche mitgliedstaatliche Vertragsverstöße, die ihr bekannt sind oder bekannt gemacht werden, mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens zu reagieren. Zur Stärkung des Legalitätsprinzips spricht Einiges dafür, aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlauts in Art. 258 I AEUV i.V.m. den imperativ formulierten Pflichten der Kommission als „Hüterin der Verträge“ (Art. 17 EUV) davon auszugehen, dass zumindest die Einleitung des Vorverfahrens rechtlich zwingend erforderlich ist. Im Anschluss „kann“ dann ausweislich Art. 258 II AEUV die Kommission den Gerichtshof anrufen, muss es aber nicht (Opportunitätsprinzip).[17]
a) Das Mahnschreiben der Kommission
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Art. 258 I AEUV verlangt von der Kommission, vor ihrer begründeten Stellungnahme dem betroffenen Mitgliedstaat „Gelegenheit zur Äußerung“ zu geben. Das Mahnschreiben soll die Ausübung des Rechts auf rechtliches Gehör ermöglichen;[18] es zielt weniger auf eine Aufklärung des Sachverhalts ab als darauf, dem zu verklagenden Mitgliedstaat die für seine Verteidigung notwendigen Angaben zu übermitteln.[19] Im Kontext des Vertragsverletzungsverfahrens ist dies ein weiterer Ausdruck der Achtung der mitgliedstaatlichen Souveränität. Außerdem grenzt das Mahnschreiben den erst mit der Klageerhebung entstehenden prozessualen Streitgegenstand vor dem EuGH ein. Das Mahnschreiben enthält zwingend drei Angaben: die schriftliche Mitteilung der Tatsachen, nach denen die Kommission eine Unionsrechtsverletzung begründet, die Ankündigung, dass aufgrund dieser Tatsachen das formale Anhörungsverfahren im Rahmen der Aufsichtsklage eingeleitet wurde, und die Aufforderung, zu den erhobenen Vorwürfen der Kommission innerhalb einer gesetzten Frist Stellung zu beziehen.[20]
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Im Hinblick auf die später erfolgende begründete Stellungnahme kann für das Mahnschreiben wohl noch keine ausführliche Darlegung verlangt werden. Dennoch sollte der Unionsrechtsverstoß nicht nur in tatsächlicher Hinsicht, sondern vor allem in rechtlicher Hinsicht bereits substantiiert vorgetragen werden. Grundsätzlich muss die Kommission zumindest auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts verweisen, die der Mitgliedstaat ihrer Ansicht nach verletzt.[21]
Beispiel:
Im Juni 2015 kündigte die Kommission in einem Mahnschreiben an, das formale Anhörungsverfahren im Rahmen einer Aufsichtsklage gegen Deutschland einzuleiten. Laut der Kommission hätte die Einführung der Pkw-Maut bei gleichzeitiger Senkung der Kfz-Steuer für deutsche Kfz-Halter de facto dazu geführt, dass Gebühren in diskriminierender Weise nur für ausländische Kraftfahrzeughalter anfielen. Das deutsche Verkehrsministerium argumentierte hingegen, dass alle Pkw-Halter eine Infrastrukturabgabe leisten müssten. Der Union seien nicht die entsprechenden Kompetenzen übertragen worden, um auf die deutsche Steuererhebung derart einzuwirken.[22]
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Nach Art. 258 AEUV muss mit dem Mahnschreiben keine Frist zur Stellungnahme gesetzt werden. Damit der betroffene Mitgliedstaat einschätzen kann, wann frühestens mit der Versendung der begründeten Stellungnahme der Kommission zu rechnen ist, sollte das Mahnschreiben dennoch aus Gründen der Rechtssicherheit mit einer Frist versehen werden. In der Praxis beträgt diese Frist üblicherweise zwei Monate. In dieser Zeit kann der Mitgliedstaat sich in einer begründeten Gegendarstellung zu den Vorwürfen der Kommission äußern, muss dies aber nicht tun.
b) Die begründete Stellungnahme der Kommission
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Danach bestimmt die Kommission den weiteren Verfahrensablauf. Überzeugt der betroffene Mitgliedstaat die Kommission mit seiner Gegendarstellung von der Unionsrechtmäßigkeit seiner Maßnahmen, stellt die Kommission das Verfahren ein. Die Kommission beschließt, das Verfahren auszusetzen, wenn der Mitgliedstaat den Vertragsverstoß eingesteht und bereit ist, seine Maßnahmen unverzüglich in Einklang mit dem Unionsrecht zu bringen. Falls der Mitgliedstaat das Mahnschreiben unkommentiert lässt oder die Unionsrechtswidrigkeit seines Verhaltens bestreitet, kann die Kommission eine begründete Stellungnahme abgeben. In der Praxis kommt es nur in ca. 20 Prozent der Verfahren zur Abgabe einer solchen Stellungnahme. 80 Prozent der Verfahren können hingegen im Vorfeld außergerichtlich geregelt werden.[23] Nach der Rechtsprechung des EuGH muss sowohl über die Abgabe der begründeten Stellungnahme als auch über die Klageeinreichung von der Kommission als Kollegialorgan in gemeinschaftlicher Beratung beschlossen werden.[24]
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Die begründete Stellungnahme muss nach Art. 258 II AEUV eine Frist enthalten, innerhalb derer der Mitgliedstaat den Unionsrechtsverstoß abstellen soll. In der Praxis beträgt die Frist ebenfalls zwei Monate; im Einzelfall kann sie allerdings verkürzt oder verlängert werden.[25]
Beispiel:
Im oben genannten Streit zwischen der Kommission und Deutschland über die Einführung der Pkw-Maut hat die Kommission im April 2016 eine begründete Stellungnahme abgegeben. Im Herbst 2016 teilte die Kommission mit, dass ihre grundsätzlichen Bedenken „trotz zahlreicher Kontakte mit den deutschen Behörden“ nicht ausgeräumt wurden. Zunächst beschloss die Kommission daher, Aufsichtsklage zu erheben.[26] Nach weiteren Verhandlungen und Änderungen im Gesetzesentwurf stellte die Kommission das Verfahren allerdings ein. Im Oktober 2017 erhob dagegen Österreich eine noch anhängige Staatenklage gegen die für das Jahr 2019 geplante Einführung der Pkw-Maut in Deutschland.[27]
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Die begründete Stellungnahme stellt die Tatsachen, Rechtsgründe und die Bewertung eines konkreten Unionsrechtsverstoßes zusammenhängend und detailliert dar.[28] Sie präzisiert die bereits im Mahnschreiben zum Ausdruck gekommene Rechtsauffassung der Kommission. Jedoch darf die Kommission die im Mahnschreiben festgelegten Tatbestände weder durch die begründete Stellungnahme noch durch die anschließende Klagerhebung erweitern. Jede Erweiterung des Streitgegenstands bedarf zwingend eines neuen Mahnschreibens; bereits laufende Verfahren dürfen nicht kombiniert abgehandelt werden.[29] Durch dieses „Kontinuitätsgebot“[30] soll sichergestellt werden, dass der betroffene Mitgliedstaat während des Gerichtsverfahrens nur mit Verstößen konfrontiert wird, zu denen er im Vorfeld Stellung beziehen konnte. Für den Fall, dass der Mitgliedstaat sein Verhalten im Vorverfahren teilweise korrigiert, kann die Kommission die tatsächlichen und rechtlichen Vorwürfe einschränken.[31]
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Die von der Kommission in Fall 1 erhobene Aufsichtsklage gegen die BRD stellt ein Vertragsverletzungsverfahren dar, vor dem nach Art. 258 AEUV ein ordnungsgemäßes Vorverfahren durchgeführt werden musste. Dabei ist es unschädlich, dass kein sog. EU-Pilotverfahren durchgeführt wurde. Dieser informelle Dialog zwischen der Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat ist nicht Teil des zwingend durchzuführenden Vorverfahrens, zumal dem Mitgliedstaat darin wiederholt Gelegenheit gegeben wird, den behaupteten Unionsrechtsverstoß abzustellen.
Das Mahnschreiben der Kommission (Art. 258 I Hs. 2 AEUV) ging der BRD im November 2017 zu. Die Kommission teilte der BRD schriftlich mit, dass das Nationalitätserfordernis ihrer Auffassung nach gegen das Unionsrecht verstoße. Der BRD wurde mitgeteilt, dass ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werde und ihr wurde eine Frist von zwei Monaten zur Stellungnahme gesetzt. Die BRD musste von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch machen. Die Kommission gab im Februar 2017, d.h. nach Ablauf der Zwei-Monats-Frist, die in Art. 258 II AEUV vorgesehene begründete Stellungnahme ab, mit der die BRD unter Fristsetzung dazu aufgefordert wurde, den Vertragsverstoß abzustellen. Allerdings ergänzte die Kommission ihren Vortrag um den Hinweis auf den unionsrechtswidrigen Tätigkeitsvorbehalt für Notare. Insoweit lässt sich vertreten, dass bereits das Vorverfahren fehlerhaft war und die Klage damit hinsichtlich des in der begründeten Stellungnahme erstmalig erhobenen Vorwurfs unzulässig ist. Nach anderer Auffassung handelt es sich hierbei um eine Frage des Klagegegenstandes (vgl. Rn. 182 ff.).
Somit wurde grundsätzlich ein ordnungsgemäßes Vorverfahren durchgeführt.