Kitabı oku: «Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe», sayfa 2
Allerdings stellt Haindorf Kindern mit geistigen Beeinträchtigungen das Urteil aus, sie stünden noch „unter dem Thiere“. Ganz anders betrachtet ein Zeitgenosse Haindorfs, der Arzt Julius Disselhoff (1827– 1896), die „Blödsinnigen“, da er in ihnen vor allem bemitleidenswerte Geschöpfe Gottes sah, denen man sich anzunehmen habe. Mit seinem 1857 erschienenen „Noth- und Hülferuf für die Verlassensten unter den Elenden an die deutsche Nation“ sorgte er für großes Aufsehen und in der Folge entstehen Anstalten, die sich speziell der Fürsorge für geistig beeinträchtige Menschen widmeten. In seiner öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung mit Vertretern der defizitären und moralisierenden Sichtweise kommt es u. a. auch zum Disput mit Alexander Haindorf und Heinrich Damerow (1798–1866). Letzterer bezeichnete „Blödsinnige“ als „seelenlose Geschöpfe“ und ordnete sie damit zwar nicht den „Thieren“ unter, trug so aber doch zur Vorstellung von Untherapierbarkeit bei (Thoma 2004, 91 f.).
Diesem Gedanken widersprachen dann nicht zuletzt einige der auch als Anstaltsgründer aktiven Personen, so u. a. Heinrich Matthias Sengelmann (1821–1899), der die Alsterdorfer Anstalten in Hamburg gründete, oder auch Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910) mit seiner Anstalt für Epileptiker in Bethel. Überhaupt wuchs das Interesse an den „Blöd- und Schwachsinnigen“ vor allem, weil politisch aktive und pädagogisch interessierte Personen sich für diese Personengruppe einsetzten, ihr eine spezielle Fürsorge zukommen lassen wollten und weil sich, wie Blasius (1980, 22 ff.) herausstellt, die entstehende bürgerliche Gesellschaft ihrer Prinzipien von Freiheit und Menschenwürde bewusster wurde und diese auch den Menschen mit Beeinträchtigungen nicht länger vorenthalten wollte.
Aus den Armen- und Arbeitshäusern wurden daher nach und nach Krankenheilanstalten, Heil- und Pflegeanstalten bzw. Irrenanstalten. Allerdings lässt sich bis in die 1990er Jahre eine gemeinsame Unterbringung von psychisch kranken Menschen und Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen in deutschen Landeskrankenhäusern feststellen.
Die Pädagogik wird erst im 18. Jahrhundert als eigenständige Disziplin entdeckt, so widmet sich z. B. der Philosoph Immanuel Kant 1777 in seinen Vorlesungen zur Pädagogik das erste Mal dem erzieherischen Wirken. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts differenzieren sich die Sozialpädagogik (Johann Heinrich Pestalozzis (1764–1827) Umgang mit geistig beeinträchtigten Kindern: Fornefeld 2013, 33 f.) sowie die Heilpädagogik aus. Johann Georgens (1823–1886) und Heinrich Deinhart (1821–1880) legten mit ihrem Lehrbuch von 1861 „Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten“ den Grundstein einer Heilpädagogik, die sich der bislang vernachlässigten und erst durch die diversen Anstaltsgründungen zunehmend berücksichtigten Kindern mit geistigen Beeinträchtigungen, Jugendlichen und Erwachsenen annahm. Sie selbst gründeten 1856 die „Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana für Geistes- und Körperschwache Kinder“ in der Nähe von Wien. Allerdings gelangen auch Georgens und Deinhardt in ihrem moralischen Urteil zu dem Ergebnis, dass „Idiotismus […] eine tiefere Entartung […] mit dem Verlust der Menschlichkeit, d. h. dessen, was den Menschen zum Menschen macht“ (Hauss 1989, 62), sei, obwohl sie andererseits gerade eine Zuwendung zu den Betroffenen propagierten.
Besonders die schulische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen wurde in der Folge von der Sonderpädagogik übernommen. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden dazu in Deutschland Erziehungs- und Bildungseinrichtungen mit einem besonderen, auf Kinder mit Lernschwierigkeiten zugeschnittenen Programm und z. T. auch eine Aussonderung aus den Heilanstalten mit Schulen in Pflegeabteilungen und sogenannte Bewahr-Anstalten (Störmer 2006).
Die entstandenen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen unternahmen erste pädagogische Versuche der Erziehung und Bildung von Kindern mit einer geistigen Beeinträchtigung oder einer Beeinträchtigung der Sinne. Der Arzt und Leiter der Pariser „Idiotenschule“, Edouard Séguin (1812–1880), entwickelte zum Beispiel das „Konzept der ‚physiologischen Erziehung‘, als Sinnes- und Funktionsschulung, weiter“ (Fornefeld 2013, 34) und begründete damit in gewisser Weise heutige heilpädagogische Förderkonzepte, wie z. B. das der sensorischen Integration. Auch wuchs das Interesse, betroffene Kinder aus den Heilanstalten zu nehmen und ihnen ein gewisses Maß an Bildung zukommen zu lassen (Störmer 2006).
Obwohl durchaus ein reformerischer Bildungsoptimismus vorherrschte, wurden bereits hier durch das Differenzkriterium „bildungsunfähig/bildungsfähig“ die später arbeitsfähigen von den auf Dauer nicht arbeitsfähigen Kindern und Jugendlichen getrennt. Für Letztere blieb in der Folge meist nur die Arbeit in der Anstalt übrig, die zwar zu keiner Verselbstständigung, aber doch zu einer Beschäftigung führte, was dann seit Ende des 19. Jahrhunderts zu arbeitspädagogischen Abteilungen und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Entwicklung der Ergotherapie und den Werkstätten für behinderte Menschen führte.
Opp (2005a) stellt für die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik ein weiteres Differenzkriterium heraus, indem er die „Sprachfähigkeit“ des Menschen als einen Unterscheidungspunkt zu den Tieren insbesondere im Zuge der Aufklärung betont und zeigt, dass dies auch den Erziehungsoptimismus einiger Pioniere der Erziehung von damals sogenannten „schwachsinnigen Kindern“ prägte. Wo Kinder noch über ein Restvermögen verfügten, sich über Sprache zu verständigen, wurden sie auch schulisch gefördert, wie es etwa der Erzieher des Wolfskindes „Viktor“, Jean Itard (1774–1838), und sein Schüler Eduard Séguin (1812–1880) in ihrem Erziehungs- und Bildungsprogramm vorsahen.
Interessant ist an dieser Stelle, dass zunächst Sprachfähigkeit als Ausdruck von Bildungsfähigkeit angesehen wird und sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam ein Verständnis herausbildet, dass auch bei nonverbaler Kommunikation eine Bildungsmöglichkeit gegeben ist bzw. grundsätzlich eine Bildsamkeit, auch bei schwereren Beeinträchtigungen mit z. T. sehr eingeschränkter Mitteilungsmöglichkeit, vorhanden ist.
In der Weimarer Republik haben die medizinisch geprägten Anstalten und die pädagogisch geprägten Schulen weiter Bestand, lediglich für den Bereich der körperlich beeinträchtigten Menschen entwickelt sich mit dem rehabilitativen Ansatz eine neue Versorgungsstruktur (Hausdörfer-Reinert 2005). Bereits 1906 hatte der Arzt Konrad Biesalski (1868–1930) erstmals Erhebungen über die Zahl der verkrüppelten Kinder in Preußen durchgeführt, was zu einer Diskussion über die Notwendigkeit der öffentlichen Fürsorge für diesen Personenkreis und zur Gründung der „Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge“ (heute: Deutsche Vereinigung für Rehabilitation) führte. Durch die „Kriegsbeschädigtenfürsorge“ wurde dann, letztlich durch die große Zahl der im Ersten Weltkrieg verwundeten Soldaten, die Körperbehindertenrehabilitation befördert und schließlich durch den Erlass des „Preußischen Gesetzes betreffend die öffentliche Krüppelfürsorge“ vom 6. 5. 1920, für die „unbemittelten“ Krüppel unter 18 Jahren als öffentliche Fürsorge anerkannt. In Deutschland gab es 1906 schon 27 Anstalten und 1927 bereits 78 Anstalten.
In den 1920er Jahren begannen sich dann eugenische Vorstellungen durchzusetzen, von denen die wohl bekannteste und erschreckendste die Arbeit des Strafrechtlers Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche ist. Sie prägten in ihrer Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ von 1920 den Begriff der „Ballastexistenzen“ und bereiteten die Euthanasie der Nationalsozialisten ideell vor. Diese setzen sie unter anderem mithilfe des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 und dem beispiellosen Verbrechen gegen Menschen mit Beeinträchtigungen um, durch das 300. 000 bis 400. 000 von ihnen zwangssterilisiert, ca. 5. 000 Kinder und weitere 70. 000 Erwachsene ermordet wurden (Dörner 2006, 26; Klee 1983).
Die Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ist dann vom (Wieder-)Aufbau einer humaneren Behandlung, Pädagogik und Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen geprägt (zur Entwicklung in der DDR siehe Häßler/Häßler 2005, 84 ff. und Theunissen 2006b).
Lindmeier/Lindmeier (2006) beschreiben für die Sonderpädagogik drei Phasen: In den 1950er Jahren dominierte vor allem der Aufbau von Schulen für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Beeinträchtigung, die zunächst Hilfsschulen und später Sonderschulen genannt wurden. Auch die Reformulierung des Familienbegriffs und ihre Entlastung vom ideologischen Ballast des NS-Regimes schaffte ein neues Klima der Förderung von Familien mit Kindern mit einer Beeinträchtigung, wenn auch zunächst sehr verhalten. 1958 kam es dann jedoch auf Initiative des Beauftragten für „Displaced Persons“ der Vereinten Nationen, des Niederländers Tom Mutters, zur Gründung des Vereins „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“, dem sich zunächst 15 Eltern und Fachleute anschlossen und der in der weiteren Zeit als „Lebenshilfe“ zu einem der bedeutendsten Akteure in der Behindertenhilfe und schließlich auch zu einem bundesweit aktiven Träger von Einrichtungen werden wird.
In den 1970er Jahren entwickelten sich zunehmend integrative Ansätze, zunächst im Schulbereich und später auch bezogen auf Wohneinrichtungen und Arbeitsbereiche. Mit der Eingliederungshilfe im BSHG (1961), dem Schwerbehindertengesetz (1974), dem Rehabilitationsangleichungsgesetz (1974), der Werkstättenverordnung (1980) und dem Neunten Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) von 2001 entstehen wichtige Gesetze, die diese Entwicklung befördern. Innerhalb der allgemeinen Selbsthilfebewegung der 1980er entsteht die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Seit den 1990ern werden dann zunehmend Modelle der Integration und der Inklusion diskutiert und praktiziert (Kap. 3).
Übungen zu Kap. 2
1. Zu welcher Zeit und warum wurden die früher gemeinsam internierten Personengruppen der psychisch kranken bzw. der Menschen mit einer Beeinträchtigung von anderen Personengruppen in den Armen- und Arbeitshäusern getrennt?
2. Diskussions-/ Reflexionsfrage: Wie stark war der Einfluss der veränderten Produktionsweise des Kapitalismus auf den professionellen Umgang mit Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung und psychisch kranken Menschen?
3. Diskussions-/Reflexionsfrage: Beschäftigen Sie sich mit der Euthanasie der NS-Zeit, insb. mit der sog. T4-Aktion und finden Sie Details über die Verbrechen an Menschen mit einer körperlichen, geistigen und psychischen Beeinträchtigung heraus. Gibt es Kontinuitäten zur heutigen Zeit und dem Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen und wenn ja, welche?
2.2 Wissenschaftstheoretisches Verständnis: Soziale Arbeit zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften
In diesem Abschnitt wird die Soziale Arbeit wissenschaftstheoretisch als eine Querschnittswissenschaft verstanden, die zwischen einer reinen sozial- oder einer reinen geisteswissenschaftlichen Orientierung verortet werden kann. Sozialarbeitswissenschaft ist eine eigenständige Fachwissenschaft des Sozialen. Man spricht jedoch besser von einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit, da dies sozialarbeiterische und sozialpädagogische Herkünfte und Ansätze vereint.
Für die Frage nach einer professionellen wie disziplinären Verortung Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe scheint zunächst der Rückgriff auf wissenschaftstheoretische Erörterungen nachrangig.
Jedoch kommt keine Wissenschaft ohne eine solche Klärung des Vorverständnisses allen forschenden und praktischen Handelns aus, will sie sich ihrer Stellung und ihres Wissensbereiches innerhalb der Wissenschaftslandschaft bewusst werden. Spätestens seit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert stellt sich für jede Fachwissenschaft, und somit auch für die Sozialarbeitswissenschaft bzw. Wissenschaft der Sozialen Arbeit (vgl. zur Unterscheidung Erath/Balkow 2016, 157 ff.), die Frage nach ihren metatheoretischen Grundlagen.
Die Soziale Arbeit als noch junge Fachwissenschaft, deren Existenz erst 2001 in Deutschland durch die Kultusministerkonferenz und Hochschulrektorenkonferenz anerkannt wurde, benötigt noch viel mehr ein solches Vorverständnis, um den daraus abzuleitenden Gegenstand zu bestimmen.
Die Fragen, die dabei gestellt werden müssen, sind ebenso Fragen des Erkennens selbst als auch der Organisation dieser Erkenntnis innerhalb einer Wissensgesellschaft. Erkennen als Fähigkeit, sich der Wahrnehmung der Welt bewusst zu werden, stellt allerdings für die Soziale Arbeit nur einen Zugang zur Wirklichkeit dar. Zugleich ist sie eine Handlungswissenschaft, deren Professionalität darin besteht, sich auf gesellschaftlich und professionell deklarierte Aufträge zu konzentrieren, die sie dann mit einer möglichst hohen Fachlichkeit ausführt. Gleichzeitig überschneidet sich das berufliche Helfen als „inszenierte Solidarität“ (Rauschenbach 1994, 231 ff.) mit der ontologischen Eigenart des Menschen, anderen Menschen zu helfen. Inszenierte Solidarität ergänzt somit in der Moderne die natürliche Solidarität der kleinen Sozialverbünde von Familie, Dorf oder Zunft, wie sie in der Vormoderne beherrschend waren. Heute würden wir sagen, dass Soziale Arbeit als professionelles Tun von sozialer Arbeit als (auch ehrenamtliches) Helfen unterschieden werden muss. Über den Gegenstand und die Funktion wird in Kapitel 2.3 ausführlicher zu sprechen sein.
Wissenschaftstheoretisch spricht vieles dafür, Soziale Arbeit als interdisziplinäre Wissenschaft (Erath / Balkow 2016, 164) zu verorten. Ordnet man sie den Sozialwissenschaften zu (Engelke et al. 2016, 45), so gehört sie zur angewandten Sozialwissenschaft und wird damit als Handlungswissenschaft verstanden (Birgmeier 2014; Röh 2013; Birgmeier / Mührel 2011; Staub-Bernasconi 2007). Die sozialwissenschaftliche Seite der Sozialen Arbeit wird später die Grundlage für die Darstellung der Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen (Kap. 3.3) sein und die handlungswissenschaftliche Seite die Grundlage für die professionelle Bestimmung der Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe (Kap. 4). In der Tat spricht einiges dafür, diesen Handlungsbezug als eine Variante der wissenschaftslogischen Verortung Sozialer Arbeit zu begreifen, wenngleich gegen die „Angewandtheit“ auch Vorbehalte bestehen (Erath/Balkow 2016, 163). Eine andere mögliche Variante besteht darin, sie (wieder) näher an geisteswissenschaftliche Denklinien heranzuführen und damit dem „Verstehen“ eine ebenso gewichtige Bedeutung beizumessen wie dem „Handeln“ (Röh 2008). Handlungstheoretisch ausformuliert finden wir hierzu gute Ansätze bei Mührel (2005), der „Verstehen“ als etwas Ontologisches, ein stetiges „Erleiden und eine Widerfahrnis“ (84) begreift und gleichzeitig „Verstehen“ als eine notwendige Form des Zugangs zum anderen und damit auch zum Hilfesuchenden konzipiert – ohne indessen in eine reine Methodik, sprich Sozialtechnologie, zu verfallen. Gerade in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung, bei denen mitunter Veränderungen durch pädagogische Einflussnahme seltener herbeigeführt werden können, weil Lernprozesse viel langsamer verlaufen, bedarf es einer gekonnten verstehenden Haltung, wie sie sich beispielsweise mithilfe der Syndromanalyse erreichen lässt (Zimpel 1994, 2010).
Mit Marquard (2003) könnte man folgende Geschichtentypen für die geisteswissenschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit heranziehen: Sensibilisierungs-, Orientierungs- und Bewahrungsgeschichten liefern uns ein handlungstheoretisches Programm, entlang dessen wir Soziale Arbeit sowohl in ihrer sensibilisierenden, orientierenden als auch bewahrenden Funktion verstehen können. Für die Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe ließe sich diese in analoger Form wie folgt beschreiben:
■ Sensibilisierungsgeschichten stünden hier für Strategien und Wege, die versuchen, die besondere Lebenssituation, die besondere Verletzlichkeit und den Anspruch auf eine menschenwürdige Begleitung und Assistenz von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu verdeutlichen, sie zu benennen, der Öffentlichkeit zu präsentieren, und daraus Ansprüche auf einen humanen Umgang mit ihnen abzuleiten.
■ Orientierungsgeschichten würden uns weiterhin dabei helfen, die richtigen ethischen Entscheidungen in der Behindertenhilfe zu treffen, indem die Orientierungen offengelegt, diskutiert und damit fundiert werden, an denen wir alltäglich, professionell, aber auch politisch Handlungen bemessen können.
■ Bewahrungsgeschichten würden schließlich dazu dienen können, die moderne, vor allem im kapitalistischen Produktionssystem zu verzeichnende Dynamisierung des Alltagslebens durch die quasi kompensatorische Rückbesinnung auf weitere Werte (Muße, Rücksicht, Solidarität) abzufedern bzw. zu bremsen.
Wie man also sieht, kann durch das Marquard’sche Geschichtenerzählen, aber auch Geschichtenerleben, also die biografische wie alltägliche Rekonstruktion der lebensweltlichen Geschehnisse, eine Orientierung erreicht werden, die weit über die wissenschaftliche und professionelle Expertise hinausgeht.
Soziale Arbeit in der Tradition von Sozialpädagogik hat sich dabei schon immer einer gewissen Nähe zu geisteswissenschaftlichen Positionsbestimmungen erfreut, die sie fruchtbar vom naturwissenschaftlichen Weltverständnis abzugrenzen half (Winkler 1997).
Meines Erachtens sollte sowohl der sozialpädagogische, in diesem Sinne hermeneutisch-geisteswissenschaftliche Zugang mit seinen Implikationen bzgl. der Erziehung und Bildung, als auch der sozialarbeiterische, in diesem Sinne als angewandter sozialwissenschaftlicher Zugang im Sinne der Existenzsicherung zu einem modernen Bild als „Soziale Arbeit“ vereint werden.
Die bisherigen Ausführungen zusammenfassend, könnte man sagen, dass
„Soziale Arbeit […] als eine Wissenschaft und Profession definiert [werden kann], die sich – in Abgrenzung zu sozial- oder geisteswissenschaftlichen Disziplinen – mit der konkreten Handlung von Menschen beschäftigt. Sie wird damit selbst zu einer Handlungswissenschaft vom Handeln in sozialen Strukturen und damit zu einer praxeologischen Wissenschaft“ (Röh 2013, 267).
Übungen zu Kap. 2.2
4. Verständnisfrage: Wofür steht die Formel von einer „inszenierten Solidarität“?
5. Diskussions-/ Reflexionsfrage: Welche Gründe sprechen dafür, Soziale Arbeit den Sozialwissenschaften und welche dafür, sie den Geisteswissenschaften zuzuordnen? Was bedeutet es, sie als transdisziplinäre Wissenschaft zu konzipieren?
2.3 Gegenstand und Funktion Sozialer Arbeit
Eine genaue Gegenstands- und Funktionsbestimmung hilft, den professionellen Rahmen für eine Soziale Arbeit festzulegen. Sie wird hier anhand einer integrativen Fassung Sozialer Arbeit als komplementärem Gebilde aus Sozialarbeit und Sozialpädagogik vorgenommen, u. a. untermauert von der IFSW-Definition und einem ersten Blick auf soziale Probleme bzw. Lebensführung als Gegenstand der Sozialen Arbeit.
Die Relevanz der Sozialen Arbeit in der Rehabilitation stellte bereits Mühlum heraus:
„Sonderpädagogik und Soziale Arbeit können als gesellschaftlich organisierte Hilfe für Menschen mit besonderen Schwierigkeiten verstanden werden. Ihre Bedeutung für die Rehabilitation steht somit außer Frage. Tatsächlich stellen sie, neben Medizin und Pflege, den größten Bereich personenbezogener Dienste dieses Sektors dar. Ihre Abgrenzung (und Zusammenarbeit) ist jedoch nach wie vor schwierig, weil sich die Aufgaben überschneiden und das Selbstverständnis nicht hinreichend geklärt ist. Sozialarbeit/Sozialpädagogik hier, Sonderpädagogik / Behindertenpädagogik/Heilpädagogik dort stellen mehr als ein Begriffsdilemma dar. Sie drücken auch inhaltliche Unterschiede und berufliche Grundüberzeugungen aus“ (Mühlum 1999, 49).
Diese von Mühlum formulierte Idee einer professionellen Differenzierung bei gleichzeitiger Forderung einer „ganzheitlichen Perspektive“ soll hier aufgenommen und das Spezifikum Sozialer Arbeit als „ganzheitliche“ Profession zum Ausgangspunkt der Überlegungen zum Gegenstand und der Funktion Sozialer Arbeit genommen werden. Es wird darum gehen, die Soziale Arbeit als Profession bzw. als professionelles Handeln zu bestimmen und diesen Standort für die Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe zu erschließen.
Doch was ist der Gegenstand der Sozialen Arbeit? Mit der 2014 verabschiedeten Definition der International Federation of Social Workers (IFSW) beginnend, kann dieser zunächst wie folgt verstanden werden:
„Social work is a practice-based profession and an academic discipline that promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people. Principles of social justice, human rights, collective responsibility and respect for diversities are central to social work. Underpinned by theories of social work, social sciences, humanities and indigenous knowledge, social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing“ (IFSW 2014).
Man sieht, dass die vor allem in Deutschland vorzufindende Trennung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik im internationalen Rahmen unbekannt ist. Anders als in der Definition von 2000, in der gleichermaßen die persönliche Befähigung und die Sicherung der Existenzgrundlagen sowie die Umweltveränderung erwähnt wurden, fokussiert die im 21. Jahrhundert geltende Definition zwar auch die Arbeit an bzw. mit Menschen („people“) und Umwelt („structures“), damit den Herausforderungen des Lebens („life challenges“) begegnet werden kann, verstärkt jedoch den strukturellen Anspruch („promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people“). Diese Dualität von Person und Umwelt ist zwar weit mehr als die reine Addition von Sozialarbeit und Sozialpädagogik, da eher im Sinne von Mühlum (2001) von einer Subsumtion unter den neuen Titel„Soziale Arbeit“ ausgegangen werden kann, jedoch ließe sich das Verhältnis beider wie in Abbildung 1 eher als Konversion darstellen, aus dem ein emergentes Produkt entsteht.
Abb. 1: Gegenstand und Funktion Sozialer Arbeit
Ein solchermaßen integratives Modell von Sozialer Arbeit, welches sowohl individuelle als auch Einflüsse aus der Umwelt auf die Entstehung von Sozialen Problemen bzw. die Lebensführung berücksichtigt, kombiniert damit auch den klassisch sozialpädagogischen Zugang zur Lebenswelt der Menschen vor dem Hintergrund ihrer Lebensführung mit dem klassisch sozialarbeiterischen Zugang zur Lebenswelt der Menschen vor dem Hintergrund sozialer Gerechtigkeit.
Soziale Arbeit hat es in der beruflichen Realität potenziell mit einer Vielfalt von verschiedenen menschlichen Problemen zu tun und konkret jeweils mit bestimmten menschlichen Lebenslagen, in denen häufig vielfältige Probleme auftreten.
Die Probleme sind dabei in ihrer Wirkung im doppelten Sinne als soziale Probleme zu bezeichnen, und zwar zunächst im gesellschaftlichen Rahmen als verbreitete Phänomene (Armut, Obdachlosigkeit, Gewalt, Sucht, Beeinträchtigung, Kindeswohlgefährdung usw.) und gleichzeitig als Probleme von Individuen in ihrer Umwelt und damit Probleme der Lebensführung.
Ich betrachte Soziale Arbeit daher als „jene Humanprofession und -disziplin […], die sich als Expertise für die Zusammenhänge von Subjekt und Gesellschaft verstehend, erklärend und bei Bedarf intervenierend (beratend, vermittelnd, unterstützend, empowernd etc.) mit deren Wechselwirkungen beschäftigt“ (Röh 2016a, 218 f.). Mithilfe des Capabilities Approach und des Kritischen Realismus habe ich (Röh 2013) eine allgemeine Handlungstheorie formuliert, die Soziale Arbeit als Unterstützung einer „daseinsmächtigen Lebensführung“ definiert. Ohne das an dieser Stelle ausführlich darstellen zu können (Kap. 4.2.5), sollen bzgl. der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen vorab folgende Ableitungen getroffen werden:
■ Das Leben mit Beeinträchtigung ist wie alles menschliche Leben von der Notwendigkeit geprägt, das eigene Leben über die gesamte Lebensspanne führen zu müssen.
■ Neben individuellen Beeinträchtigungen (in der ICF-Terminologie als Störungen der Körperstrukturen oder Körperfunktionen bezeichnet), die ich in meiner an den Capabilities Approach angelehnten Terminologie als Einschränkungen des „persönlichen Möglichkeitsraums“ verstehe (Röh 2013 und Röh 2016b), stehen dabei vor allem die Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkungen im Mittelpunkt der Bewältigung. Diese verstehe ich als Probleme des „gesellschaftlichen Möglichkeitsraums“, wobei sich in den Aktivitätseinschränkungen auch Probleme des „persönlichen Möglichkeitsraums“ zeigen.
■ Ein daseinsmächtiges oder gutes Leben ist von dem sinnvollen „Ins-Verhältnis-Bringen“ des persönlichen und gesellschaftlichen Möglichkeitsraums geprägt. Eine vollständige Übereinstimmung könnte Inklusion oder Teilhabe bedeuten, ist aber angesichts bei allen Menschen und Gesellschaften vorfindlichen Restriktionen eher als unwahrscheinlich anzusehen. Das Ziel eines in dieser Hinsicht besseren Passungsverhältnisses ist jedoch das Ziel Sozialer Arbeit.
■ Behinderung als solches (anders als die Beeinträchtigung) selbst ist ein sowohl individuelles wie auch soziales Problem, insofern sich Umweltgestalt und Umweltbedingungen sowie individuelle und soziale Ressourcen und Probleme zu einer für den Einzelnen wie für die Gesellschaft zu bewältigenden Einheit verbinden.
■ Das im engeren Sinne sozialpädagogische Ziel in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen besteht daher in der größtmöglichen Förderung von Autonomie, Selbstbestimmung und soweit es geht auch Selbstständigkeit in der alltäglichen Lebensführung.
■ Das im engeren Sinne sozialarbeiterische Ziel liegt in der Verbesserung der Person-Umwelt-Transaktionen, d. h. in der Befriedigung der biopsychosozialen Bedürfnisse eines Menschen (mit Beeinträchtigungen).
■ Beiden gemeinsam ist in der konvergenten Fassung als Soziale Arbeit, dass die Entwicklung von Lebensperspektiven und somit die Lebensführungskompetenz zu fördern und zu erhalten ist.
In einer Sozialen Arbeit in der Behindertenhilfe kommen also zwei Zugänge zusammen und bilden erst gemeinsam die spezielle Expertise: Der Einzelne mit seiner Beeinträchtigung erlebt sich selbst und andere in einer gegebenen Umwelt, die ihm entweder Möglichkeiten oder Begrenzungen bietet (Röh 2013 und 2016b). Er selbst ist durch seine Beeinträchtigung, Sozialisationserfahrungen und Persönlichkeit hinsichtlich seiner Bewältigungskompetenz in einem gewissen Maße befähigt, sich diese Umwelt für ein daseinsmächtiges Leben (auch) mit Beeinträchtigung anzueignen. Wo immer diese Aneignung nicht dazu ausreicht, die Bedürfnisse des Einzelnen zu befriedigen, da entweder die individuellen oder die sozialen Ressourcen nicht genügen oder aber die Gesellschaft ihrerseits mit Restriktionen auf den Menschen mit Beeinträchtigung reagiert, kann die Soziale Arbeit mit ihrer Professionalität auf diese „Transaktionsstörungen“ reagieren und versuchen, sie mittels professioneller Interaktionen zu beheben. Ihr vorderstes Ziel ist es dabei, ihre Klientel kurz-, mittel- oder langfristig zu einem selbstständigen und selbstbestimmten Leben zu befähigen.
Übungen zu Kap. 2.3
6. Verständnisfrage: Wie lautet die Definition Sozialer Arbeit der IFSW?
7. Diskussions-/Reflexionsfrage: Wie stehen Sozialarbeit und Sozialpädagogik in einem integrativen Modell Sozialer Arbeit zueinander?
8. Diskussions-/ Reflexionsfrage: Was bedeutet Daseinsmächtigkeit im Zusammenhang mit „Behinderung“?
2.4 Ethisch-moralische Grundlagen
Neben allgemeinen ethischen Überlegungen zur Sozialen Arbeit werden in diesem Abschnitt der Berufskodex und die Formel von der „Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession“ vorgestellt. Des Weiteren erfolgen Ausführungen zu relevanten gerechtigkeitstheoretischen Erwägungen im Zusammenhang mit dem Capabilities Approach.
Vor allem die grausamen Erfahrungen während der NS-Diktatur in Deutschland haben eine erhöhte Wachsamkeit in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen, aber auch bei anderen vulnerablen und von Ausgrenzung bedrohten Gruppen zur Folge gehabt.
Die Debatten um eine Bio-Ethik sowie um die utilitaristische Begründungen von Sterbehilfe und Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen mit Beeinträchtigungen stellen zudem eine fortwährende Bedrohung des erreichten ethischen Niveaus einer akzeptierenden und fördernden Gesellschaft dar (Hedderich et al. 2016).
Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe bedarf daher einer grundlegenden Klärung ihrer ethisch-moralischen Grundlagen, die im Sinne einer praktischen Ethik auch normative Hinweise gibt für eine gute Kultur im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen und auf berufsethische Dilemmata sowie auf gesellschaftliche Mechanismen hinweist. Dabei sind Werte und Werturteile immanenter Teil professioneller Praxis und diese Praxis benötigt neben klaren handlungsleitenden Vorgaben auch eine reflexive Kompetenz zur situativen Klärung von Dilemmata.
Eine Ethik der Sozialen Arbeit ist dabei immer eine plurale Ethik, die jedoch vereint wird in der Anerkennung und Wertschätzung der menschlichen Würde, die spätestens seit Kant auch säkular begründet werden kann. Im religiösen Verständnis wurde und wird die Würde des Menschen durch die Gottesähnlichkeit des Menschen definiert:
„Die Gottebenbildlichkeit (lat. : imago dei) ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch im verschiedenen Maße und nie absolut Gottähnlichkeit (lat. : similtudo dei) erreichen kann. Als Ebenbild Gottes ist damit der Mensch in Freiheit gesetzt, sein Leben zu realisieren und schöpferisch zu gestalten; jedoch gemäß den Vorstellungen eines der Offenbarung Gottes gemäßen Lebens“ (Mührel/Röh 2008, 52).