Kitabı oku: «Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe», sayfa 4
3 Grundlagen der Behindertenhilfe
3.1 Diskurs um Behinderung
Eine gründliche Beschäftigung mit dem Begriff „Behinderung“ muss vor der Darstellung weiterer Grundlagen erfolgen, da die unterschiedlichen Definitionen Einfluss nehmen auf das Verständnis und die Unterstützungsformen. Dazu werden sozialanthropologische Grundlagen, der Diskurs um Behinderung sowie die internationale und die sozialrechtliche Definition dargestellt und erörtert.
Bevor über die Behindertenhilfe als Anwendungsbezug einer Sozialen Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen gesprochen werden kann, muss man sich zunächst einer begrifflichen Bestimmung von „Behinderung“ zuwenden. Einige diesbezügliche definitorische Klärungen sind zwar schon in der Einleitung angesprochen worden, sie sollen hier jedoch für ein besseres Verständnis vertiefend dargestellt werden.
„Behinderung“ kann meines Erachtens nur auf einer phänomenalen Ebenen betrachtet werden, weshalb im gesamten Buch von „Behinderung“ nur in einer diesen Begriff relativierenden Schreibweise mit Anund Ausführungszeichen geschrieben wird. Je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet, tauchen andere Facetten auf. Gleichzeitig soll es das Ziel dieses Kapitels sein, ein brauchbares Verständnis zu erarbeiten.
So bezeichnet man unter Laien, im Alltag vor allem jene Menschen als „behindert“, deren Beeinträchtigung sichtbar ist, so z. B. Menschen mit Beeinträchtigungen der Sinne und des Körpers und z. T. auch Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung. Prototypisch für diese Facette ist immer noch derjenige, der auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Nicht sichtbare Beeinträchtigungen gehören jedoch ebenso dazu, weshalb eine wissenschaftliche Definition von „Behinderung“ und Beeinträchtigung sich nicht an äußeren oder sichtbaren Merkmalen alleine festmachen lässt (Cloerkes/Neubert 2001).
Auch die Festlegung von „Behinderung“ als rein individuelles Merkmal greift zu kurz. So zeigte die Aktion Mensch in einer Öffentlichkeitskampagne Ende der 1990er Jahre deutlich, was gleichfalls zu einem Behinderungsverständnis gehört, indem sie auf Plakaten schrieb: „Behindert ist man nicht, behindert wird man. “ Mit dieser Feststellung sollte darauf hingewiesen werden, dass eine „Behinderung“ nicht nur (oder vielleicht überhaupt nicht) ein Merkmal von Personen, sondern vielmehr den Umständen geschuldet ist, in denen Menschen an der Ausführung bestimmter Tätigkeiten gehindert werden. In diesem Sinne bezeichnet Behinderung das Ausmaß der gesellschaftlichen (Nicht-) Teilhabe.
In diesem Kapitel sollen deshalb zunächst einige sozialanthropologische Hinweise erfolgen, die notwendig sind, um die Existenzdimension von „Behinderung“ zu verdeutlichen, da diese als „Beeinträchtigung“ stets präsent ist. Die Dauerhaftigkeit dieser Beeinträchtigung stellt aber nur notwendige, nicht hinreichende Merkmal dar, da für die Definition von Behinderung als Nicht-Teilhabe eben auch die kontextfaktoren (ICF) hinzukommen. „Behinderung“ als Beeinträchtigung bestimmt zwar das Wesen des Menschen, es determiniert ihn jedoch nicht, denn hinzukommen müssen spezifische, negative Umwelteinflüsse.
Des Weiteren soll die Entwicklung des Behinderungsbegriffs nachgezeichnet werden, um schließlich im letzten Abschnitt auf die derzeitige Definition von Behinderung (als Teilhabeeinschränkung) durch die Weltgesundheitsorganisation und im sozialrechtlichen Sinne zu sprechen zu kommen.
3.1.1 Sozialanthropologie der Behinderung
Die Anthropologie ist die Wissenschaft von der biologischen, aber auch philosophischen Beschäftigung mit dem Mensch-Sein und dem Mensch-Werden. Anthropologische Erkenntnisse schlagen sich – neben religiös oder ethisch fundierten Ansätzen – dabei immer in Menschenbildern nieder, die damit auch handlungsleitend sind. Aus diesem Grund ist der Blick auf eine „Anthropologie der Behinderung“ von großer Bedeutung (vgl. hierzu kritisch Jakobs 1997). Mit Dederich (2006, 547) ist somit davon auszugehen, dass
„das Bild vom Menschen […] Einfluss darauf [hat], wie konkrete Individuen wahrgenommen und in ihrem Lernen, in ihren Fähigkeiten, in ihren Problemen, in ihrem Sozialverhalten usw. beurteilt werden, welche Entwicklungsund Bildungschancen man ihnen einräumt, wie man den Unterricht, die Förderung, Therapie oder Begleitung sowie die Beziehung zu ihnen gestaltet, welche Rechte man ihnen einräumt oder welche sozialen oder ethischen Pflichten ihnen gegenüber geltend gemacht werden“.
Es ist allerdings so, dass sich Menschenbilder und gesellschaftliche Handlungsweisen wechselseitig bedingen, sodass es „das Menschenbild in unseren Köpfen […] ist, das die gesellschaftliche Praxis hervorbringt, die ihrerseits wiederum das Menschenbild konstituiert wie modifiziert“ (Feuser 1996, zitiert nach Dederich 2006, 548).
In der philosophischen Anthropologie kommt dem Bewusstsein eine besondere Stellung zu, insofern es die menschliche Sonderrolle in der Natur bestimmt. Als Grundlage des Bewusstseins erscheint uns unser Vermögen zu denken. Dies stimmt nur z. T. , da ein Bewusstsein von etwas von einem Bewusstsein an sich unterschieden werden muss, also ein denkendes Etwas (Gehirn) als biologisches System vorhanden sein muss und zwar als materieller Ort und Generator eines Denkprozesses, der wiederum (über) „das Gehirn“ (nach-)denken kann. Die Vernunftphilosophie sieht den Menschen als „animale rationale“ (Aristoteles, Kant). Vernunft ist jedoch ebenfalls etwas anderes als Verstand bzw. Verstandesleistung, deren Funktion der Intelligenzmessung zugrunde gelegt und dann bei Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung auch als Abweichung von einem Normalzustand ausgelegt wird. Anders sieht es die Leibphänomenologie, die Menschsein vor allem durch „einen menschlichen Körper habend“ bestimmt (Stinkes 2004). Schließlich kann naturphilosophisch auch bestimmend sein, das „Kind menschlicher Eltern zu sein“.
Anthropologisch wäre es nach Hahn (1999, 19) auch möglich, die „Selbstbestimmung als Wesensmerkmal des Menschseins“ zu definieren. Denn neben der Kant’schen Urteilskraft, also einer Verstandesleistung, kann auch das sozial-aktionale Streben nach Selbstbestimmung als ein solches Merkmal des Menschseins bzw. der Vernunft verstanden werden. Weil der Mensch zwar biologisch gesehen im Vergleich zu Tieren ein Mängelwesen ist, auf der anderen Seite dadurch jedoch offen und variabel, kann im Anschluss an die Anthropologie davon ausgegangen werden, dass er ein starkes Bedürfnis nach Erreichung von Wohlbefinden mittels sozialer Interaktion aber auch eigener Leistung hat und dass diese Außen- und Mitweltperspektive dem Ich „als Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit“ (Plessner 1982, 12) dient. Wenn man noch die Bedürftigkeit von Menschen konstatiert und sie als ein weiteres Merkmal annimmt, welches Menschen zwar nicht von Tieren unterscheidet, jedoch bei ihnen zu einer gleichermaßen starken Verbundenheit untereinander führt, so erhält man ein vollständigeres Bild vom Menschen, gleich ob mit oder ohne Beeinträchtigung (Moosecker 2004).
Gleichwohl ist die für die praktische Philosophie und die Gerechtigkeitstheorie nicht unerhebliche Frage der Personalität zu bedenken, da mit der Möglichkeit des rationalen Urteilens der Beginn und das Ende des moralischen wie gerechtigkeitstheoretischen Diskurses gegeben ist (Kap. 3. 2).
Zudem stehen Selbstständigkeit und Selbstbestimmung bei Menschen mit Beeinträchtigungen in einem vermittelten Zusammenhang. Dort, wo sie nicht qua Selbsthilfekraft des Einzelnen zusammenfallen, findet diese Vermittlung aus professioneller Sicht u. a. in der Rolle des Helfers bzw. Assistenten ihre Entsprechung. Wie bei allen Menschen muss dabei Selbstbestimmung ermöglicht und gleichzeitig dazu befähigt werden. Für Menschen mit Beeinträchtigung heißt dies, dass „andere Menschen da sein müssen, die in der Assistentenrolle Selbstbestimmung trotz Abhängigkeit bei der Bedürfnisbefriedigung ermöglichen“ (Hahn 1999, 23).
Zusätzlich sollte man mit Thimm (1997) festhalten, dass sich Selbstbestimmung nicht ohne Fremdbestimmung verstehen lässt, also in conclusio immer nur eine relative Selbstbestimmung ist.
Für die Suche nach der Bestimmung des Wesenstypus „Behinderung“ bzw. „Mensch mit Behinderungen“ ergeben sich in der Folge einer anthropologischen Theorie daher folgende ethische Fragen (Dederich 2006, 546):
■ Was für ein Bild vom Menschen, von Geburt, Alter, Krankheit und Tod, von Gesundheit, Krankheit und Beeinträchtigung, Leiden, Glück und Lebensqualität machen wir uns?
■ Welches Maß an Gesundheit, Krankheit oder Beeinträchtigung sowie Leiden wird als normal und erträglich anerkannt?
■ Was ist das Antlitz des Menschen, das es verbietet, anderen ihren „Lebenswert“ abzusprechen?
■ Wenn Bewusstsein bzw. Urteilskraft zur Wesensart des Menschen gehört, wie können wir Behinderung verstehen, wenn diese Urteilskraft nicht entwickelt wurde?
■ Welche solidarischen Hilfen können Menschen erwarten, die als behindert gelten?
Eine zu stark biologisch ausgerichtete Sichtweise neigt dazu, den menschlichen Wert an der körperlichen und geistigen Funktionsfähigkeit und dem möglichst nah an der „Normalität“ gelegenen Maß an Abweichungen zu bemessen. Die damit einhergehende Gefahr eines „Zugriffs“ auf das menschliche Dasein ist offensichtlich und zeigt sich in einer biotechnologischen Instrumentalität, die z. B. über pränatale Diagnostik oder humanbiologische Veränderung des Erbgutes an einer möglichst fehlerfreien „Maschine Mensch“ arbeitet.
3.1.2 Entwicklung des Behinderungsbegriffs
Der Begriff „Behinderung“ unterliegt einem ständigen Wandel entlang gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Diskurse. Darin lassen sich jeweils auch Paradigmen finden, die die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung geprägt haben. Zum Teil haben sich diese Paradigmen in ihrer Wirkung abgelöst, z. T. sind sie nach wie vor definitorisch wirksam oder werden in einem integrativen Sinne nicht mehr voneinander getrennt (Hensle/Vernooij 2002, 23 f.).
Ich möchte in weitgehender Übereinstimmung mit der Literatur (z. B. Bleidick 1999, 25 ff.; Degener/Diehl 2015; Felder 2016, 74; Kastl 2017, 47 ff.), davon aber auch teilweise abweichend, vier solcher Paradigmen voneinander unterscheiden, nämlich zum einen ein medizinisches, zum anderen ein soziologisches (interaktionales), ein systemtheoretisches und schließlich ein kritisches Paradigma.
Das medizinische Paradigma
Das medizinische Paradigma geht mehr oder minder davon aus, dass sich eine von der Norm abweichende körperliche, psychische oder geistige Verfassung diagnostizieren lässt, die es einem ermöglicht, Grade oder die Schwere der „Behinderung“ (wie oben gezeigt, sollte auch hier eher von Beeinträchtigung die Rede sein, aufgrund der immer noch vorzufindenden Fachtermini der Sonderpädagogik und Medizin sei darauf an dieser Stelle jedoch verzichtet) festzulegen oder auch die Frage diagnostisch zu klären, ob jemand noch als lern- oder schon als geistig „beeinträchtigt“ zu gelten hat. Ebenso lassen sich auch im Bereich von Körper- und Sinnesbeeinträchtigungen dem medizinischen Paradigma folgend Normabweichungen identifizieren und ggf. auch therapeutische Maßnahmen zu deren Behebung bzw. Korrektur finden. Dabei wird „Behinderung“ ausschließlich als eine individuelle Kategorie – als dem Einzelnen zugehörig– beschrieben und als Defekt oder krankhafte Abweichung festgestellt.
Ein Merkmal dieser Abweichung ist bei der geistigen Beeinträchtigung die kognitive Einschränkung, die im Intelligenzquotienten abgebildet werden soll. Wie Speck provokant bemerkt, geht dabei der Intelligenzbegriff nur so weit, als dass Intelligenz nichts anderes sei als das, was Intelligenztests messen würden (Speck 2008, 204). Die daraus resultierende Einteilung bzw. Klassifikation sieht gemäß ICD-10 (F7 – geistige Behinderung) vier Schweregrade vor:
■ leichte geistige Behinderung (IQ 50/55–70),
■ mäßige geistige Behinderung (IQ 35/40–50/55),
■ schwere geistige Behinderung (IQ 15/20–35/40),
■ schwerste geistige Behinderung (IQ < 15/20).
Speck (2008, 189 ff.) stellt die nach statistischen Normen aufgestellte Definition mit der Feststellung in Frage, dass sie auf einer Normalverteilungskurve beruhe, deren einzige Funktion darin besteht, die Wirklichkeit in normal und unnormal zu ordnen. Grundsätzlich ist darüber hinaus der Argumentation von Kulig et al. (2006, 117) recht zu geben, wenn sie den herkömmlichen Intelligenztests die Fähigkeit absprechen, Intelligenz(-minderung) überhaupt zu messen. Diese instrumentelle Kritik ist jedoch nur ein Teil einer möglichen Argumentation. Der andere geht in die Richtung, dass die Feststellung einer Intelligenzminderung selbst ja zu einer Feststellung wird, die aus soziologischer Sicht zu Problemen führt. Bevor wir diesem Argument innerhalb der Betrachtung des soziologischen Paradigmas nachgehen, noch ein Hinweis auf die erweiterte medizinische Definition von geistiger Behinderung. So wurden durch die American Association of Mental Retardation dem Intelligenzquotienten die „sozialen Anpassungsleistungen“ beiseitegestellt und damit geistige bzw. Lernbeeinträchtigung als zusätzlich über die kognitiven Leistungen hinausreichende Einschränkung desadaptiven Verhaltens bezeichnet: „Intellectual disability is a disability characterized by significant limitations in both intellectual functioning and in adaptive behavior, which covers many everyday social and practical skills“ (AAIIDD 2013, zitiert nach Musenberg 2016, 216). Zudem solle die Umwelt und deren Reaktionen miteinbezogen werden (AAIIDD 2016). So sollte sich auch die gemessene Intelligenz gerade durch den „Anwendungsbezug“ auf durch das Leben gestellte Anforderungen und die Umgebung auszeichnen. Für moralische Überlegungen stellt die Intelligenz, in der einfachen oder erweiterten Form, ohnehin keinen Wert dar, das heißt aus ihr könne keine Minderwertigkeit gefolgert werden. Man müsse sich, so Wikler (2010), nur einmal vorstellen, was passieren würde, wenn sich die derzeit als „normalintelligent“ eingestuften Personen in ferner Zukunft mit einer Umwelt und mit Maschinen konfrontiert sähen, die sie nicht verstünden oder wenn Außerirdische mit weitaus höherer kognitiver Intelligenz die „Normalintelligenten“ unterwerfen würden.
Zudem geht Oliver darüber hinaus, wenn er grundsätzlich eine Norm als Maßstab der Rehabilitation ansetzt: „The aim of the research should not be to make the legless normal, whatever that may mean, but to create a social environment where to be legless is irrelevant“ (Oliver 1996, 97, zitiert nach Kastl 2017, 50; zur Kritik an Oliver siehe Shakespeare 2006).
Das soziologische Paradigma
Das soziologische Paradigma wurde wesentlich durch den symbolischen Interaktionismus von G. H. Mead u. a. und darin insbesondere durch die Arbeiten von E. Goffman geprägt, der den Begriff des Stigmas in die Diskussion einführte (Goffman 1992).
Ein gutes Beispiel für die Entstehung eines solchen Labels bzw. Stigmas gibt Bleidick (1999, 20), wenn er die Konstruktion einer „Lernbehinderung“ beschreibt: Es fängt damit an, dass eine Person A, z. B. eine Lehrerin, bei einer Person B, z. B. einem Schüler, etwas beobachtet, was sie vielleicht so bezeichnet: „B. behält Lerninhalte nicht oder schlecht. “ In einer weiteren Phase setzt sie diese Beobachtung in Relation zu anderen Beobachtungen ihrerseits, wie z. B. dem Tempo der übrigen Klasse, in der B. ein Schüler ist. Aus dem Erstgenannten könnte dann werden: „B. lernt langsam. “ Schon gewinnt also die Beobachtung den Charakter einer Normabweichung, nämlich z. B. vom durch Lehrplan und die anderen Schüler suggerierten Standard oder auch einer Norm. Folgerichtig wird aus dem langsamen Lernen eine individuelle Schwäche desjenigen, der anders ist. B. wird somit als „lernschwach“ bezeichnet und damit in gewisser Weise attribuiert. Letzte Station dieses Prozesses ist dann, das Attribut „lernschwach“ in eine Wesenseigenschaft umzuwandeln, z. B. „B. hat eine Lernbehinderung. “
Dieser Etikettierungsprozess, der quasi systemimmanent abläuft, ohne eine bewusste Entscheidung der Handelnden, jemanden als lernbeeinträchtigt zu klassifizieren, führt dann in einem zweiten Schritt zu einer „Behindertenrolle“, d. h. der Übernahme von Rollenerwartungen an „Behinderte“. Wir können für unser Thema den Begriff „Ausgrenzungskorridor“ nutzen, der im o.g. Fall wie folgt aussehen könnte: Jemand erhält ein Label mit der Bezeichnung „Lernbehinderung“. Dies hat in den allermeisten Fällen in Deutschland zur Folge, dass der- oder diejenige sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer „Förderschule“ wiederfindet. Diese Sonderbeschulung führt häufig nach Ende der Schulpflicht nicht in den allgemeinen Arbeitsmarkt, z. B. über eine Ausbildung, sondern in Werkstätten für behinderte Menschen oder in die Arbeitslosigkeit. Beide Varianten verstärken ein gewisses Risiko, sozialen Rückzug bzw. Ausgrenzung entstehen zu lassen, und dies führt schließlich zu sozialer Isolation (Cloerkes 2007, 160 f.). Interessant ist darüber hinaus, dass sich gerade das Etikett „Lernbehinderung“ in nachschulischen Lebensphasen verflüchtigt, da es eine schulspezifische Zuschreibung darstellt.
Das systemtheoretisch-konstruktivistische Paradigma
Aus systemtheoretischer Sicht kann die Etikettierung als eine Orientierung der Gesellschaft über Normabweichungen verstanden werden, d. h. , die Funktion des Behinderungsbegriffes besteht hier vor allem in der Komplexitätsreduktion, mit der die Bandbreite menschlichen Daseins, Aussehens, Wesens und Handelns auf eine Formel reduziert wird, die Orientierung schafft. Das Paradigma bildet eine wesentliche Grundlage der disability studies. Wie Waldschmidt richtigerweise festhält, tritt hier ein nicht unwesentlicher Unterschied zwischen Normalität als einer quantitativen Verteilung von Normabweichungen in der Gesellschaft und Normativität als deren gesellschaftliche Bewertung zutage (Waldschmidt 2003a, 83 ff.). Auf die Spitze getrieben stellt diese Art von Orientierung häufig genug eine selbsterfüllende Prophezeiung dar, wenn etwa gerade dann viele Fälle von Legasthenie „auftauchten“, sobald das Label „Legasthenie“ bestand und es hierzu spezielle Förderprogramme gab.
Diese Komplexitätsreduktion, die typisch für moderne Gesellschaften bzw. für deren Funktionalisierung ist, bezieht sich dabei nicht nur auf die diagnostizierten Phänomene der Behinderung selbst, sondern als funktionelle Differenzierung kann sie auch in der Entwicklung der heutigen Berufe, z. B. der Heilpädagogik als ursprünglich zwischen Medizin und Pädagogik entstanden, verdeutlicht werden.
Im sozialstaatlichen Sinne hat diese Orientierung der Gesellschaft an den Begriffen „normal“/„unnormal“ durchaus eine brauchbare Funktion, da erst das „Label Behinderung“ eine Ordnungszuweisung zu medizinischer, sozialer und beruflicher Rehabilitation (innerhalb des SGB IX) ermöglicht. Damit erhält die Etikettierung eine Funktion als positive Diskriminierung (wörtlich: Unterscheidung, kategoriale Trennung),
d. h. , sie wird zum Türöffner für sozialstaatliche Leistungen (Bleidick 1999, 87). Katzenbach (2015) warnt zudem vor einer allzu leichtfertigen Kritik an Kategorisierungen und zeigt die negativen Konsequenzen von Dekategorisierungen im Zuge der Inklusionsdebatte auf.
Radikalkonstruktivistisch kann die Etikettierungsthese sogar auf die Spitze getrieben werden, wie es uns Feuser (1996, 19) verdeutlicht:
„Geistig Behinderte gibt es nicht! […]Es gibt Menschen, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den wir als ,geistig behindert‘ bezeichnen. Geistige Behinderung kennzeichnet für mich einen phänomenologisch-klassifikatorischen Prozess […]“.
In ähnlicher Weise versteht Osbahr (2000, 59) die Bezeichnung „Behinderung“ mehr als eine Aussage über uns selbst, also „unsere Sache, für die es in der (in unserer) Außenwelt keine Entsprechung gibt, denn eine Behinderung entsteht – wie alle Bezeichnungen – erst durch die von uns getroffenen Beobachtungen und Unterscheidungen“.
Den erkenntnistheoretischen Hintergrund anerkennend, ihn jedoch um eine moralische Sichtweise erweiternd, weist Dederich (2001) richtigerweise darauf hin, dass der Konstruktivismus vor allem eine normativ-moralische Funktion aufweist, indem durch die Relativität der Zuschreibungen ein „moralischer Schutz und eine menschliche und gesellschaftliche Anerkennung“ erreicht werden sollen. Mit anderen Worten: Wenn die Gesellschaft schon dafür sorgt, dass es solche begrifflichen Wirklichkeiten wie „Behinderte“ und „Nichtbehinderte“ gibt, dann muss sie auch dafür sorgen, dass beiden gleichermaßen Möglichkeiten und Normalität zuteilwerden können. Eine solche Sichtweise führt jedoch zu einer Paradoxie, wenn von einer „Behinderung als Kategorie“ konstruierenden Gesellschaft die moralische Handlung des Schutzes der Kategorie verlangt wird, ohne dass diese Kategorie als wirklich angesehen werden soll. Dies hieße dann nämlich, dass dieser Konstruktion Behinderung eine auf dieser Konstruktion beruhende Moral folgt. Gleichzeitig zeigt der Konstruktivismus seine Schwäche dadurch, dass er keine objektiven Moralvorstellungen über den Umgang mit Menschen (mit Beeinträchtigung) ermöglicht, da ja auch diese nur Konstruktionen seien. Und diese Konstruktionen des Umgangs könnten so, aber auch so erfolgen, könnten Schutz, aber auch Gefährdung der Betroffenen bewirken (Dederich 2001, 88 ff.).
Hilfreich ist am konstruktivistischen Denken sicherlich die Möglichkeit der Dekonstruktion von Begriffen, um sie einer fundierten Diskussion und damit einer Verständigung über den Diskussionsgegenstand zuzuführen. Die Selbsthilfebewegung hat diese Variante der Dekonstruktion sogar paradox genutzt, indem z. B. in den 1970er Jahren die „Krüppelbewegung“ oder in den 1980er Jahren die „Irrenoffensive“ gerade mit der aggressiven und provokativen Nutzung der Begriffe „Krüppel“ und „Irrer“ auf die Etikettierungsthese hingewiesen haben. Das Paradoxe an dieser Übernahme der Begriffe ist und war allerdings, dass „Behinderung“ als soziale Zuschreibung zwar komplett abgewiesen, jedoch gleichzeitig durch die Übernahme der o. g. Begriffe eine Dekonstruktion der Begriffe intendiert war. Diese musste allerdings später wieder revidiert werden, da sie zu einer teilweisen sehr oberflächlichen Rezeption und damit verbundenen Reaktionen führte, die Begriffe im ursprünglich stigmatisierenden Sinne weiter zu verwenden.
Konstruktivistisches Denken führt jedoch auch auf andere Weise an Grenzen: Die Etikettierungstheorie hat u. a. immer wieder zu Versuchen geführt, andere Begriffe in der Bezeichnung von Menschen mit Beeinträchtigungen zu finden. Mit Lindmeier (2004, 5) gehe ich allerdings davon aus, dass man auf die allenfalls politisch korrekte Benennung (Menschen mit Behinderungen) verzichten und besser von behinderten Menschen sprechen sollte, da das Adjektiv ‚behindert‘ zum Ausdruck bringt, dass „Behinderung“ nicht als Personenmerkmal (‚behindert sein‘) oder Anhängsel (Mensch mit Behinderung), sondern mehr als Vorgang zu verstehen ist, den das soziale Umfeld bewirkt (‚behindert werden‘).
So kommt Bleidick (1999, 80) bezogen auf die Frage nach einer sonderpädagogischen Diagnostik, und damit nach dem Anfang der Etikettierung, auch zu dem ernüchternden Ergebnis, dass es keinen Ausweg aus dem Dilemma gibt, die „richtigen“ Bezeichnungen zu finden, da u. a. die „bedingungslose Dekategorisierung […] an der Macht des Faktischen [scheitert]. “ Allerdings gilt gleichermaßen, dass Sprache natürlich Auswirkungen auf Handeln hat und in diesem Sinne auch Handeln bzw. Einstellungen determinieren kann. So stellt die Assoziation einer Bedeutung einem gebrauchten Begriff gegenüber eine starke motivationale und handlungsbezogene Verbindung dar, und mit veränderten Begriffen ändern sich diese Bedeutungen.
Das kritische Paradigma
Eine eher ontologisch-normative Sichtweise verdanken wir Jantzen, der den dialektischen Materialismus dazu nutzt, eine ganz andere Behinderungsdefinition zu formulieren. Jantzen (1987, 18) sieht „Behinderung […] nicht als naturwüchsiges Phänomen“, denn sie
„wird sichtbar und damit als Behinderung erst existent, wenn Merkmale und Merkmalskomplexe eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Beziehung gesetzt werden zu gesellschaftlichen Minimalvorstellungen über individuelle und soziale Fähigkeiten, indem festgestellt wird, daß ein Individuum aufgrund seiner Merkmalsausprägungen diesen Vorstellungen nicht entspricht, wird Behinderung offensichtlich, sie existiert als sozialer Gegenstand erst von diesem Augenblick an“.
Durch spezifische Mechanismen werden Menschen, die diesen Normen nicht entsprechen, segregiert, selektiert und parzelliert und damit in vieler Form isoliert.
In einer sehr starken Weise sind von Jantzen (1985, 335) in dieser Hinsicht Bestimmungsmerkmale der Situation von Menschen mit Behinderungen formuliert worden:
„(1) Arbeitskräfte minderer Güte unter den Bedingungen des Verkaufs der Arbeitskraft auf dem Markt; (2) reduzierte Geschäftsfähigkeit aus der Notwendigkeit, den Verkauf der Arbeitskraft und ihre Reproduktion unter durchschnittlichen Lebensbedingungen selbst zu organisieren; (3) Ästhetik des Häßlichen unter den Bedingungen einer durch Gebrauchswertversprechen in der Massenwerbung in den Dimensionen jung, schön, attraktiv, leistungsfähig formierten Warenwelt; (4) subjektiv bzw. objektiv reduzierte Ausbeutungsbereitschaft (im ökonomischen Sinne der Mehrwertproduktion verstanden) unter der Perspektive der klassenspezifischen staatlichen Regulation der kapitalistischen Produktion (besonders deutlich im Psychopathiebegriff in enger Verbindung mit der strafrechtlichen Schuldfähigkeit); (5) Minderwertigkeit im Sinne weiter existierender ideologischer Momente aus vorangegangenen klassenteiligen Gesellschaftsformationen; (6) reduzierte soziale Konsumfähigkeit unter Gesichtspunkten der Konsumtionssphäre (z. B. Café-Besuch von Spastikern), wobei diese Dimensionen sich vereinen in dem (7) sozialen Ausschluss. Dieser trifft über die Stufen Ausschluss von der Lohnarbeit (Hausfrauen), von der Arbeit (Arbeitslosigkeit) und schließlich Ausschluss von Zirkulation und Konsumtion und Einschluss in totale Institutionen behinderte Menschen in besonderer Weise. “
Auf die vor allem aus einer historischen Perspektive deutlich werdende Signifikanz zwischen Produktionsprozess und Behinderungsverständnis hat zudem Dörner (1994a) hingewiesen, wenn er die Entwicklung der industriellen Gesellschaft als Maßstab nimmt für den Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen. Die zunehmende Entsolidarisierung durch den Wandel der Familie, des Haushaltes, des Arbeitsplatzes hat zu einer Lösung der sozialen Verbindungen zwischen den „allein übrig gebliebenen Leistungsschwachen und Störenden“ (Dörner 1994a, 386) und den „leistungsstarken“ Mitgliedern der Gesellschaft geführt, die dann im Nationalsozialismus zur Tötung von „minderwertigen“, weil für den Produktionsprozess nicht brauchbaren, Personen geführt hat.
3.1.3 Das biopsychosoziale Modell der ICF
Um dem in Kapitel 3.1.2 durch die verschiedenen Paradigmen verdeutlichten Spannungsfeld zwischen einerseits individuellen Schädigungen (medizinisches Paradigma), interaktionistischen Zuschreibungen (systemtheoretisch-konstruktivistisches Paradigma) und gesellschaftlichen Bedingungen (soziologisches Paradigma) gerecht zu werden, versucht die Weltgesundheitsorganisation seit 1980, „Behinderung“ als interdisziplinär zu verstehendes Phänomen zu beschreiben. Beginnend mit dem ICIDH-Krankheitsfolgenmodell wurden Schädigung (impairment), Beeinträchtigung (disability) und Behinderung (handicap) zwar das erste Mal in einen Zusammenhang gebracht, der sowohl die individuellen Schädigungen als auch die damit verbundenen Beeinträchtigungen des Handelns und schließlich die daraus resultierende gesellschaftliche Folge der Behinderung berücksichtigt. Mit diesem Modell konnte man jedoch noch nicht den Umweltbedingungen von Behinderung gerecht werden, sowohl den materiellen als auch den immateriellen, sodass diesen zuerst 2001 mit der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) entsprochen wurde (Schuntermann 2013). Das medizinische und das soziale Modell konnten so zusammengeführt und dann noch um psychologische Erkenntnisse ergänzt werden, was auch explizites Ziel der WHO war (Abb. 2).
Abb. 2: Übersichtsschema der ICF (ergänzte Darstellung auf Basis der ICF)
Zentrale Begriffe in der ICF sind „Funktionsfähigkeit“, „Gesundheitskomponenten“ und „Behinderung“, diese werden jedoch auf eine spezifische Weise eingeführt:
„Funktionsfähigkeit ist ein Oberbegriff, der alle Körperfunktionen und Aktivitäten sowie Partizipation [Teilhabe] umfasst; entsprechend dient Behinderung als Oberbegriff für Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigung der Partizipation [Teilhabe]“ (DIMDI 2005, 9).
Klassifiziert sind im ICF die Komponenten „Gesundheitsstörung“, „Körperfunktionen und -strukturen“, „Aktivität / Partizipation“ und „Umweltfaktoren“, die personbezogenen Faktoren nicht. Hierzu liegen jedoch vereinzelte Vorschläge vor (Grotkamp et al. 2010). Da die ICF sich in der Praxis als Klassifikationsinstrument zu komplex und detailliert erwiesen hat, wurden verschiedene sogenannte Core-Sets für bestimmte Krankheitsbilder bzw. Beeinträchtigungen erarbeitet (ICF Research Branch 2017).
Die ICF verfügt über ein differenziertes Verständnis von „Behinderung“, welches sowohl als körperliche, geistige oder psychische Funktionsstörung als auch im Sinne einer Einschränkung der Aktivität bzw. Teilhabe vorliegen muss. Es lassen sich daher grundsätzlich zwei Bestimmungen von „Behinderung“ herauslesen. Zum einen handelt es sich – in der allgemeinen Fassung von „Behinderung“ – um eine negative Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren bezogen auf ihre Funktionsfähigkeit und damit um den klassisch-medizinischen Zugang. Zum anderen kann „Behinderung“ im speziellen Sinne als eine negative Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren in Bezug auf ihre Teilhabe an einem oder mehreren für sie wichtigen Lebensbereich(en) gesehen werden, vergleichbar mit der oben beschriebenen sozialen Perspektive auf Behinderung.