Kitabı oku: «Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe», sayfa 5
„Behinderung“ in diesem Sinne ist zudem nicht linear als Folge einer bestimmten Krankheit oder Schädigung zu verstehen, sondern wird erst – vermittelt über die Kontextfaktoren „Umwelt“ und „Person“ – zu einer möglichen Behinderung im Sinne einer eingeschränkten Aktivität bzw. Teilhabe. „Die ICF verwendet den Begriff ,Behinderung‘, um das mehrdimensionale Phänomen zu bezeichnen, das aus der Interaktion zwischen Menschen und ihrer materiellen und sozialen Umwelt resultiert“ (DIMDI 2005, 171).
3.1.4 Die sozialrechtliche Behinderungsdefinition des SGB IX
Das seit 2001 geltende „Neunte Sozialgesetzbuch: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ in der Fassung vom 23. 12. 2016 (SGB IX) definiert Behinderung in § 2 wie folgt:
„(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben. “
Mit diesem Verständnis von Behinderung, dass dem ICF-Modell folgt und die Wechselwirkung von individueller Beeinträchtigung und sozialer Benachteiligung („einstellungs- und umweltbedingte Barrieren“) als zentral erachtet, folgt der Gesetzgeber zudem der o. g. Definition aus der Behindertenrechtskonvention.
Diese Behinderungsdefinition eröffnet erst die Möglichkeit, bestimmte sozialrechtliche Leistungen in Anspruch zu nehmen, und muss deshalb in der Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen als eine Form positiver Diskriminierung genutzt werden. Diskriminierung im ursprünglichen Wortsinne bedeutet dabei nicht mehr als Unterscheidung.
Übungen zu Kap. 3.1
14. Verständnisfrage: Wie definiert die ICF Behinderung und welche Bedeutung hat die Teilhabeeinschränkung darin?
15. Diskussions-/Reflexionsfrage: Weshalb kann die ICF als ein Modell verstanden werden, welches ein biopsychosoziales Verständnis von Behinderung umsetzt?
3.2 Sozialethische Grundlagen
Vor einer Diskussion der Lebenslage von „be-hinderten“ (im Weiteren im üblichen Sinne als „behindert“ geschrieben) Menschen (siehe zum Begriff „be-hindert“ Kap. 3.1) muss eine nähere Betrachtung des „ethischen Raumes“ erfolgen, innerhalb dessen sich die Soziale Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen bewegt. Die folgenden Ausführungen beschreiben deshalb nach der Diskussion des Personenbegriffs vor allem „Selbstbestimmung“, das „Normalisierungsprinzip“ und „Inklusion“ als wesentliche Kategorien.
3.2.1 Der „ethische Raum“ – zwischen Empowerment und Paternalismus
Neben den bereits im Kapitel 2.4 angeführten ethischen Grundlagen der Sozialen Arbeit bedarf es für die Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen einer Spezifizierung der ethischen Basis, die ich hier als ethischen Raum bezeichne. Innerhalb dieses Raumes existieren nach wie vor verschiedene Positionen hinsichtlich der ethischen Beurteilung von und des daraus folgenden moralischen Umgangs mit Menschen mit Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft. Mit diesem Verständnis möchte ich der Gefahr begegnen, nur „ein“ Verständnis eines „einzig richtigen“ ethischen Umgangs gelten zu lassen. Vielmehr spannt sich der ethische Raum auf zwischen berechtigten Ansprüchen nach Selbstbestimmung und Selbstständigkeit und zu legitimierenden, eingreifenden und (für-)sorgenden Maßnahmen. Selbstbestimmung kann durch Empowermentprozesse gesichert oder erreicht werden und für die intervenierende Fürsorge greift ein kritisches Verständnis von Paternalismus.
Proto- und flexibelnormalistisches Verständnis
Nicht erst durch die Untaten und Gräuel der NS-Diktatur an Menschen mit Beeinträchtigungen („Euthanasie“, „T4-Aktion“) bedrängt die Behindertenhilfe die Frage, wie sie die in „ihren Theorien eingelagerten anthropologischen Prämissen, Menschenbilder und ethischen Implikationen“ reflektieren will (Dederich 2006, 544). Jüngst wird diese Frage gesellschaftlich virulent durch die Bio-Ethik-Debatte (Dederich 2003; Graumann 2009) und die provokanten Aussagen Peter Singers (1994, 2013).
Wesentlicher Kern dieses ethischen Diskurses ist die Problematisierung des „Normalen“, an dem dann das „Unnormale“, also auch die Behinderungen, gemessen wird. Waldschmidt (2003a) teilt hilfsweise den Begriff „Normalität“ ein in „Normativität“ und „Normalismus“, wobei Normativität aus soziologischer Sicht die Wirkmächtigkeit von gesellschaftlichen Regeln und Übereinkünften über das „Normale“ bzw. die Übernahme dieser Normen durch den größten Teil der Bevölkerung beschreibt. „Normalität“ bedeutet daher – positiv gewendet – die Suche nach und das Praktizieren von regelhaften Verhaltensweisen, die soziale Akzeptanz erfahren. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, ob es sich bei der dahinterliegenden Norm auch um ein quantitativ bedeutsames „Ganzes“ im Sinne von Mehrheitlichkeit handelt. Normales, d. h. gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten, kann auch als Minderheitenverhalten beginnen – und damit als statistisch gesehen „unnormales“, weil nicht verbreitetes Verhalten – und erst durch die Übernahme einer Mehrheit zur Normalität werden. Als Beispiel ließe sich hier der sittliche Kodex des Bürgertums, der im Spätmittelalter etwa als Triebsublimierung (Norbert Elias) erst nur einer kleinen Bürgerschicht normal erschien, heranziehen, der dann später zur Normalität für alle Gesellschaftsschichten wurde.
Dagegen ist der „Normalismus“ – als die andere Variante des Umgangs mit Normalität – gekennzeichnet durch wiederum zwei unterschiedliche Strategien des Umgangs mit dem „Normalen“ bzw. vor allem dem „Unnormalen“, die auf den Diskurstheoretiker Jürgen Link zurückgehen. Hier erscheint die Norm nicht mehr als „Punktnorm“, sondern nun als „Streckennorm“, „eine mehr oder weniger große Bandbreite, gruppiert um einen Durchschnitt“ (Waldschmidt 2003a, 87), die dann als normalistische Norm bezeichnet wird. Während sich in der von Link vorgeschlagenen Bezeichnung „Protonormalismus“ Strategien auffinden lassen, die „auf der strikten Trennung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen auf[bauen, D. R. ]“ und eine „dauerhafte Ausgrenzung der Abweichenden“ (Waldschmidt 2003a, 88) intendieren, sind die Prozesse im flexiblen Normalismus dadurch gekennzeichnet, dass diese
„weicher und durchlässiger sind. Sie gehen von dem Ideal einer ‚frei durchgeschüttelten‘ Verteilung der Menschen im sozialen Raum aus, die immer auch wieder veränderbar ist. Sie lassen sich von der Annahme leiten, dass die Individuen zufällig an den Rand geraten sind, dass sie die Grenzbereiche oder den Pol der Anormalität auch wieder verlassen und zurück zur Mitte der Gesellschaft gelangen können“ (Waldschmidt 2003a, 88).
Der flexible Normalismus hat jedoch ähnlich wie der Protonormalismus seine Tücken. Bei Letzterem liegen sie in der Rigidität der Normalitätserwartungen an den Einzelnen, die durch soziale Kontrolle und notfalls auch mit Zwang durchgesetzt werden. Die Gefahr im flexiblen Normalismus besteht darin, dass nach wie vor von einer Rückbindung an das Durchschnittliche ausgegangen wird, sozusagen der Weg zur Mitte als Motivation erscheint. Ein dauerhaftes Leben am Rand erscheint eher unwahrscheinlich. Dadurch entsteht ein Zwang zum Selbstzwang, den Elias (1997) bereits für die gesamte Zivilisation als konstituierendes Merkmal herausgearbeitet hat.
Zur Personendebatte
Ein wesentlicher, immer wieder angeführter Aspekt ist die Frage, ob der Personenbegriff der Philosophie einen brauchbaren, einen unbrauchbaren oder sogar einen schädlichen Einfluss auf den praktizierten nicht-professionellen wie professionellen Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen ausübt.
Einen neuzeitlichen Anstoß zur Diskussion dieses Problems bot die sogenannte Singer-Debatte (Wertgen 2009), ausgelöst durch die utilitaristisch begründeten philosophischen Ausführungen des australischen Ethikers Peter Singer zum Verhältnis von Mensch und Tier. Singer forderte eine nicht-anthropozentrische (speziezistische) Ethik, in der der Wert eines (menschlichen) Wesens nicht an seinem (Mensch-)Sein an sich, sondern an seiner Leidens- und Interessensfähigkeit gemessen werden sollte. Lebendige Wesen sollten – so Singer – grundsätzlich nicht leiden müssen, egal ob dieses Leiden durch die Tötung von Tieren durch Menschen oder durch schwere Erkrankung ausgelöst wird. Singer selbst leitet seine Ethik aus dem klassischen Utilitarismus von Jeremy Bentham (1748–1832) und John Stuart Mill (1806–1873) ab, deren Hauptthese darin bestand, dass sich moralisches Verhalten daran bemesse, was es zur Maximierung des Glückes der Meisten beitrage. Diese konsequenz- bzw. präferenz-utilitaristische Ethik widerspricht dem von Kant begründeten deontologischen Ansatz, der den mensch-lichen Willen bzw. die Beweggründe oder Absichten für moralisches vernünftiges Handeln als Begründung guten Handelns begreift und der die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als Begründung der Menschen definierte: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 2004, 79). Der Mensch könne, so Kant, anders als z. B. das Tier, niemals nur zweckhaft gebraucht werden, sondern habe einen Eigenwert, der in seiner Würde liege. Und diese würde verletzt, wenn ein Mensch durch einen anderen nur als Mittel für dessen eigene Zwecke gebraucht werden würde (z. B. im Rahmen der Versklavung).
Für Bentham und Mill und auch für Singer steht der Mensch jedoch nicht als Gegensatz zum Tier. Singer geht daher vom Prinzip der „Interessenabwägung“ aus, d. h. dass das „Wesentliche am Prinzip der gleichen Interessensabwägung [darin] besteht […], dass wir unseren moralischen Überlegungen den ähnlichen Interessen all derer, die von unseren Handlungen betroffen sind, gleiches Gewicht geben“ (Singer 2013, 52).
Daraus folgt für Singer, dass sich hinsichtlich der Leidensfähigkeit zwischen Menschen und Tieren Ähnlichkeiten ergeben, über die nicht hinweggegangen werden kann. Bezüglich des Wertes von Leben geht Singer allerdings davon aus, dass hier die Interessensgleichheit nicht als Bewertungsmaßstab dienen kann. Als Brücke dient ihm hier der Personenbegriff, der Personalität als etwas definiert, was sich durch Selbstbewusstsein, Urteilskraft und Verantwortungsbewusstsein auszeichnet: Selbstbewusstsein im Sinne von Sich-selbst-bewusst-Sein, also der Fähigkeit zum Erkennen der eigenen Identität; Urteilskraft als die rationale Einschätzung von Wahlmöglichkeiten und das Entscheiden-Können; Verantwortungsbewusstsein als die Fähigkeit zur Einschätzung der eigenen Handlungsfolgen. Seine ursprünglich (1994, 123) radikal vorgetragenen Argumente, dass es – ethisch gesehen – keinen Unterschied mache, wenn „man eine Schnecke oder einen 24 Stunden alten Säugling [tötet]“, denn „so vereitelt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken und Säuglinge unfähig sind, solche Wünsche zu haben“, taucht in der revidierten Auflage von 2013 nicht mehr auf. Zudem revidierte er seine Position an anderer Stelle (Kuhse / Singer 1993, 26), indem er folgende Unterscheidung einführte:
„Wir meinen […], dass die reichen Nationen sehr viel mehr tun sollten, um behinderten Menschen ein erfülltes, lebenswertes Leben zu ermöglichen und sie in die Lage zu versetzen, das ihnen innewohnende Potential wirklich auszuschöpfen. Wir sollten alles tun, um die oft beklagenswert schlechte institutionelle Betreuung zu verbessern und die Dienstleistungen bereitzustellen, die behinderten Menschen ein Leben außerhalb von Institutionen und innerhalb der Gemeinschaft ermöglichen. “
Zudem differenzierten Kuhse / Singer (1993, 252) zwischen dem Recht auf Betreuung auf der einen und dem Recht auf Sterbehilfe auf der anderen Seite:
a) „Eltern eines schwerstgeschädigten Kindes [müssen] zu jedem Zeitpunkt und unabhängig vom Alter des Kindes die Möglichkeit haben, das Kind ohne eigene Kosten in einer staatlichen Institution unterzubringen (Wir gehen natürlich davon aus, dass diese Institutionen über genügend Mittel verfügen, um einen hohen Betreuungsstandard zu garantieren.)“
b) „Aktive und passive Euthanasie sollte immer dann erlaubt sein, wenn jemand unter einer unheilbaren Krankheit so sehr leidet, dass ein Weiterleben nicht in seinem oder ihrem Interesse ist. […]Die erste Bedingung befreit die Familie von der Belastung, ein schwerstbehindertes Kind aufziehen zu müssen – wenn sie denn davon befreit werden will. Die zweite Bedingung stellt sicher, dass ein Kind dasselbe Lebensrecht besitzt wie wir alle, aber nicht, wie zur Zeit noch, gezwungen werden kann, ein elendes Leben weiterzuleben. “
Brumlik (2004) nutzt ebenfalls dieses Verständnis von Personalität, ohne die damit bei Singer verbundenen Konsequenzen, indem er es als Grundstein seiner advokatorischen Ethik nutzt. Der Schutz des „Schwächeren“ durch die „Stärkeren“ als vertragstheoretische Komponente menschlicher Gesellschaften soll sowohl vom „Schwächeren“ als Recht als auch vom „Stärkeren“ als Pflicht angesehen werden können (Brumlik 2004, 246). Worin diese Pflicht bestehen kann, wird deutlich, wenn man in Betracht zieht, welche interne Differenzierung des „Person-Seins“ Brumlik vornimmt: Er unterscheidet „Noch-Nicht-Personen“, die der Erziehung und Bildung zu(r) Personen(-haftigkeit) bedürfen, „Nicht-Mehr-Personen“ (z. B. Patienten im Wachkoma), die der Pflege bedürfen, und „Niemals-Personen“ (z. B. Menschen mit schwerer geistiger Beeinträchtigung), denen hauptsächlich durch Rehabilitations- und Integrationsbemühungen eine Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werden soll. Letztere bedürfen zudem eines Schutzes ihrer Rechte, etwa durch die sogenannte rechtliche Betreuung (Deutschland), die Sachwalterschaft (Österreich) oder den Erwachsenenschutz (Schweiz) (Nussbaum 2010, 270 ff.). Trotz der durchaus richtigen ethischen Ableitungen hinsichtlich der Legitimation pädagogischer, therapeutischer oder auch pflegerischer Interventionen, liegt Brumlik mit seiner klassifikatorischen Zuordnung der Beeinträchtigungen (siehe die hervorgehobene Aufzählung in der Klammer) falsch, wenn er behauptet,
„daß die Klasse aller Menschen und die Klasse aller Personen keineswegs deckungsgleich sind, daß es also eine beträchtliche Anzahl von Menschen (etwa Babies, mental retardierte Erwachsene und psychisch Kranke) gibt, die sich weder selbst als biografisch einzigartig oder als mental einheitlich wahrnehmen können, noch dazu in der Lage sind, sich zu ihren Handlungen verantwortlich zu verhalten“ (Brumlik 2004, 98, Hervorhebung D. R.).
Die Zuordnung der in der Klammer aufgezählten Gruppen widerspricht z. B. der in der Heil- und Sonderpädagogik gewonnen Einsicht, dass auch Menschen mit schwerer geistiger Beeinträchtigung an Bildungs- und Rehabilitationsprozessen erfolgreich teilnehmen und Kompetenzen erwerben können. Auch psychisch kranke Menschen würden dieser Definition Brumliks vehement widersprechen, ihre Gleichsetzung mit Babys und Menschen mit schwerer geistiger Beeinträchtigung entspricht zudem nicht dem professionellen Wissensstand über psychische Erkrankungen.
Allerdings leitet Brumlik für die „Noch-Nicht-Personen“ eine ethische Grundhaltung der Erziehung und Bildung ab, welche sich als Anspruch der „Noch-Nicht-Personen“ an die Personen insofern herausbildet, als Personalität im oben beschriebenen Sinne Normalität bedeutet:
„Eine solche Begründung des Anspruchs auf Personalität trägt dem Umstand Rechnung, daß sich unter gegebenen Umständen Menschen bei Strafe von Nachteilen als Personen verhalten sollen, und leitet daraus auf der Basis eines Gerechtigkeitspostulates die Forderung ab, daß sie hierzu auch in die Lage versetzt werden sollten“ (Brumlik 2004, 99).
Für den Personenkreis der „Nicht-Mehr-Personen“ bezieht sich Brumlik auf seine Aussagen zu den „Noch-Nicht-Personen“, die wie die ersten zur Personalität fähig sind, auf diese aber noch, z. B. durch Erziehung und Bildung, vorbereitet werden müssten. Diese Eigenschaft wird jedoch den von ihm benannten „Niemals-Personen“ kategorisch abgesprochen. Zunächst besteht eine Schwäche der Brumlik’schen Ethik darin, dass sie ungenügende Fachkenntnisse hinsichtlich der Beeinträchtigungen aufweist. So werden Menschen mit schwerer zerebraler Störung, Menschen mit einem Downsyndrom und schwere Fälle von Hydrozephalie, offenem Rücken oder angeborenen Darmverschlüssen in einem Zusammenhang als „Niemals-Personen“ bezeichnet (Brumlik 2004, 198).
Des Weiteren gelangt Brumlik nur über eine sehr schwache Konnotation, die er im biologischen Potenzial zur Freiheit sieht, zu einer Anerkennung bzw. zum Schutz von „Niemals-Personen“, wie etwa Menschen mit schwerer geistiger Beeinträchtigung.
„Beides trifft im Fall menschlicher Niemals-Personen nicht zu: Sie werden weder einen freien Willen und ein Selbstbewusstsein ausbilden noch verfügen sie über beides. Mit einer wie auch immer aus der Freiheitsfähigkeit abgeleiteten Würde läßt sich hier nicht weiterargumentieren. Der einzige nicht-utilitaristische und nicht-theologische Grund für die Würde auch solcher Menschen, die niemals Personen im definierten Sinne sein werden, besteht in dem Hinweis, daß – nach allem, was wir bisher wissen – eine bestimmte physisch-biologische Konstitution die notwendige Bedingung jener Freiheit ist, die wir in Personen achten, weswegen wir auch diese biologische Konstitution in besonderer Weise auch dann zu achten haben, wenn die volle Entwicklung zur Person aus welchen Gründen auch immer nicht erfolgt“ (Brumlik 2004, 196).
Gleichzeitig bleiben gerade die wichtigen ethischen Fragen nach Rechten von Menschen mit Beeinträchtigungen und Pflichten der Gesellschaft unbeantwortet, wenn man liest:
„Und so werden wir auf absehbare Zeit in einer schizophrenen Situation leben müssen, die sich dadurch auszeichnet, daß rationale Ethiken wie Utilitarismus und Diskursethik unseren Intuitionen nicht genügen und jene Theorien, die diese Intuitionen angemessen entfalten, ihres Rigorismus wegen nicht mehr lebbar sind“ (Brumlik 2004, 201).
Was bedeutet es, in diesem Zusammenhang von Intuitionen zu sprechen? Handelt es sich um intuitive Zustimmung zur Tötung von „Nicht-Personen“ aufgrund ihres vermeintlichen Leidens? Was heißt es, diese Intuitionen nicht mehr leben zu können? Sind diese Intuitionen nur deshalb „nicht mehr lebbar“, weil die nationalsozialistische Vergangenheit sie diskreditiert hat oder weil sie tatsächlich als inhuman gelten müssen? So kann man gegen die von ihm skizzierte „schizophrene Situation“ nur seine eigene (speziezistische) Argumentation in Stellung bringen, wenn er schreibt: „Dies alles […] ist es, was jeden, der menschliches Angesicht trägt, nötigt, die menschliche Gestalt überall, sie sei bloß angedeutet […] oder sie stehe schon auf der gewissen Stufe der Vollendung anzuerkennen und zu respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen heilig“ (Brumlik 2004, 197).
Dieser, an der Persondebatte orientierten Argumentation kann vor allem unter Bezugnahme auf den sog. „naturalistischen Fehlschluss“ begegnet werden (Bleidick 2003). Dieser naturalistische Fehlschluss besteht darin, vom Sein auf das Sollen zu schließen, das heißt, das „was ist“ für das zu nehmen, „was sein soll“. Es ließe sich daher nicht ohne Weiteres aus der „normalen“ Natur des Menschen als Idealtypus – der sicherlich mit den Attributen „Selbstbewusstsein“, „Zukunftsfähigkeit“, „Verantwortungsbewusstsein“, also mit Kategorien, die man der oben ausgeführten Personendebatte entnehmen könnte, zu beschreiben wäre – auf die Attribuierung konkreter Menschen als „Niemals- oder Nicht-Personen“ schließen, weil ihnen diese Merkmale fehlen.
Weiterhin hält Mattner (2000, 155f.) dem sogenannten „naturalistischen Fehlschluss“ entgegen, dass das letzte Entscheidungskriterium immer die Menschlichkeit, hier anthropologisch als „Bedürftigkeit“ und „Abhängigkeit“ verstanden, sein sollte (Nussbaum 2010 bzw. die Care-Ethik, Kap. 3.2.6). Der Mensch wird in dieser Hinsicht als ein sorgendes Wesen gedacht und kann daher im Sinne der Verantwortungsethik von Hans Jonas (1984, 91) als zur „ontologische[n, D. R. ] Verantwortung für die Idee des Menschen“ verpflichtet gesehen werden. Im Sinne der Ethik Emanuel Levinas spricht Mattner dann von einer sorgenden Grundhaltung des Menschen, die den mit der rein rationalistischen Auffassung der Person-Mensch-Unterscheidung einhergehenden Gefahren begegnet:
„Gemeint ist hier eine empathisch gespürte und leiblich ‚verstandene‘ Resonanz als Verantwortung für den Anderen; ein Mit-Sein, mit dem der anteilnehmende, sorgende Mit-Mensch vom bedürftigen Anderen gewissermaßen vor jeglicher rationalen Reflexion ‚berührt‘ wird“ (Mattner 2000, 156).
Übungen zu Kap. 3.2.1
16. Verständnisfrage: Wie definiert die Philosophie seit Kant den Begriff „Person“ bzw. „Nicht-Person“?
17. Diskussions-/Reflexionsfrage: Diskutieren Sie die Gefahren in der Nutzung des Personenbegriffes für Menschen mit schweren geistigen Beeinträchtigungen.
3.2.2 Empowerment
Empowerment stellt sicherlich einen der schillerndsten theoretischen Ansätze sowohl in der Sozialen Arbeit selbst als auch in der Behindertenhilfe dar. Es findet seine Anwendung hinsichtlich der politischen Forderung nach Selbstbestimmung Menschen mit Beeinträchtigungen ebenso wie in der konkreten Praxis sozialer Hilfen. Beides soll im Folgenden skizziert und erläutert werden.
Neben der klassischen Empowermentdiskussion entwickelte sich in der Behindertenhilfe mit der Debatte um Selbstbestimmung (Bundesvereinigung Lebenshilfe 1996; Hähner et al. 1998 / 2016) eine ganz eigenständige Diskussion um die emanzipativen Prozesse von Menschen mit Beeinträchtigung und durch die Independent-Living-Bewegung auch eine politische Selbsthilfeorganisation, die wesentliche Teile des Empowermentmodells umsetzt(e) (Kulig/Theunissen 2006, 237 ff.).
Empowerment – das ist eine Sammelkategorie für alle Arbeitsansätze, die Menschen zur Entdeckung der eigenen Stärken ermutigen wollen. Empowerment bedeutet, Hilfestellungen bei der Aneignung von Selbstbestimmung und Lebensautonomie zu vermitteln und gleichzeitig für die ablaufenden Prozesse des Empowerments selbst verantwortlich zu sein: In summa also die Befähigung zur Selbst-Befähigung der Betroffenen. In gleicher Weise gilt jedoch auch, dass Empowerment „[…]zunächst einmal ein offener Begriff [ist], der je individuell mit Inhalt zu füllen ist“ (Herriger 1992, 231).
Der Begriff Empowerment kann meines Erachtens analytisch in zwei Bereiche aufgeteilt werden, nämlich zum einen in das darin enthaltene „Enablement“, d. h. die Förderung von Fähigkeiten und Kompetenzen, und zum anderen in das eigentliche „Empowerment“, d. h. die Entwicklung und das Spüren von Kraft und Macht („Power“) durch individuelle Kompetenzsteigerung oder kollektive Handlungen der Einmischung und Partizipation.
Ziel der Empowermentpraxis ist es, die vorhandenen (wenn auch vielfach verschütteten) Fähigkeiten der Adressaten sozialer Dienstleistungen zu autonomer Alltagsregie und Lebensorganisation zu kräftigen und Ressourcen freizusetzen, mit deren Hilfe sie die eigenen Lebenswege und Lebensräume selbstbestimmt gestalten bzw. „Kontrolle über das eigene Leben gewinnen“ (Bobzien 1993, 46) können. Zunächst stellt dabei Empowerment je nach Definition entweder eine „Selbstbefähigung bzw. Selbstbemächtigung“ (Knuf/Seibert 2000), „Gewinnung oder Wiedergewinnung von Stärke, Energie und Fantasie zur Gestaltung eigener Lebensverhältnisse“ (Lenz 2002, 13) oder das Vertrauen in die „Menschenstärken“ (Herriger 1995) dar. Allen diesen Definitionen ist gemeinsam, dass sie von einer Kraft bzw. einer Macht ausgehen, die jedem Individuum und jeder Gruppe innewohnt, die allerdings verschüttet oder verborgen, damit jedoch auch jederzeit zu bergen oder zu aktivieren ist. Dies geschieht – obgleich aus verschiedenen Blickwinkeln als Betroffenen- oder Profi-Perspektive – gleichsam aus einem humanistischen Menschenbild heraus, das die Subjekthaftigkeit und Individualität des Menschen herausstellt und diese mit besonderem Gewicht belegt. Empowerment findet auf vier Ebenen statt:
■ Subjektorientiertes Empowerment (Einzelfallhilfe):Hier werden vor allem personenbezogene Ansätze der Veränderung des Selbstwertgefühls und der Selbstwirksamkeit genutzt. Herriger (2002, 83ff.) benennt vor allem das Unterstützungsmanagement sowie die Biografiearbeit und den Kompetenzdialog.
■ Gruppenorientiertes Empowerment: Hier geht es vor allem um die Vernetzung von Menschen, die ein ähnliches Problem, Anliegen oder Interesse haben, um durch die Gruppensolidarität, Prozesse der Isolation aufzuheben und gemeinsames Handeln zu ermöglichen.
■ Organisationsbezogenes Empowerment: Dieses findet vor allem im Kontext von Partizipation und Beteiligung statt und kann sowohl in sozial-institutionellen Zusammenhängen verwirklicht werden, z. B. durch Einrichtung von Selbsthilfegruppen oder Interessenvertretungen, als auch in politischen Prozessen.
■ Sozialraumbezogenes Empowerment: Im weitaus größten Rahmen, nämlich dem Sozialraum (Stadtteil, Bezirk, Kommune, Landkreis), findet Empowerment in der Hauptsache als Förderung von Selbstorganisation, Interessenvertretung und Teilhabe an politischen Prozessen statt und deckt sich damit z. T. mit organisationsbezogenem Empowerment.
Empowerment als Unterstützung von Autonomie und Selbstbestimmung
Definitionen, die der Tradition der professionellen psychosozialen Arbeit entstammen, betonen die Aspekte der Unterstützung und der Förderung von Selbstbestimmung durch berufliche Helfer. Der Blick richtet sich hier also auf die Seite der MitarbeiterInnen psychosozialer Dienste, die Prozesse der (Wieder-)Aneignung von Selbstgestaltungskräften anregen, fördern und unterstützen und Ressourcen für Empowermentprozesse bereitstellen. Empowerment ist in diesem Wortsinn programmatisches Kürzel für eine psychosoziale Praxis, deren Handlungsziel es ist, Menschen „das Rüstzeug für ein eigenverantwortliches Lebensmanagement zur Verfügung zu stellen und ihnen Möglichkeitsräume aufzuschließen, in denen sie sich die Erfahrung der eigenen Stärke aneignen und Muster solidarischer Vernetzung erproben können“ (Herriger 1997, 31).
Neben der professionellen Sicht gewinnt Empowerment vor allem durch die Betroffenensicht eine ganz andere Bedeutung. Hier wird Empowerment als Selbstbemächtigung oder Selbstbefähigung verstanden und damit z. T. die professionelle Paradoxie aufgelöst, dass durch professionelle und damit Fremdhilfe die Selbsthilfe gefördert werden kann. Wenn Menschen sich dann als „Experten in eigener Sache“ (Geislinger 1998; Miles-Paul 1992) bezeichnen, kommt damit schon ein neues Selbstbewusstsein zum Tragen, welches sich komplementär zum bisherigen professionellen Expertenverständnis verhält. Empowerment – auf eine kurze Formel gebracht – zielt auf die (Wieder-)Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Alltags. Weitere Aspekte von Empowerment lauten nach Herriger (2002):
■ Die Fähigkeit, aus der bunten Vielzahl der angebotenen Lebensoptionen auswählen und eigenverantwortete Entscheidungen für die eigene Person treffen zu können.
■ Die Fähigkeit, für die eigenen Bedürfnisse, Interessen, Wünsche und Fantasien aktiv einzutreten und bevormundenden Übergriffen anderer in das eigene Leben entgegentreten zu können.
■ Die Erfahrung, als Subjekte die Umstände des eigenen Lebens (Selbst-, Sozial- und Umweltbeziehungen) produktiv gestalten und erwünschte Veränderungen „in eigener Regie“ bewirken zu können (die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Gestaltungsvermögen).
■ Die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich belastenden Lebensproblemen aktiv zu stellen (und nicht zu Mustern der Verleugnung und der Nichtwahrnehmung Zuflucht zu suchen), wünschenswerte Veränderungen zu buchstabieren und hilfreiche Ressourcen der Veränderung zu mobilisieren.
■ Das Vermögen, ein kritisches Denken zu lernen und das lähmende Gewicht von Alltagsroutinen, Handlungsgewohnheiten und Konditionierungen abzulegen.
■ Die Fähigkeit, sich aktiv Zugang zu Informationen, Dienstleistungen und Unterstützungsressourcen zu eröffnen und diese „zum eigenen Nutzen“ einzusetzen.
■ Die Einsamkeit überwinden und die Bereitschaft, sich in solidarische Gemeinschaften einzubinden.
■ Das Einfordern der eigenen Rechte auf Teilhabe und Mitwirkung und die stete Bereitschaft, offensiv gegen stille Muster der Entrechtung einzutreten.
Was lässt sich hieraus nun systematisch für die Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe schlussfolgern?
In der Tabelle 2 soll der Versuch unternommen werden, die auf verschiedenen Ebenen des Empowerments anzusiedelnden Methoden exemplarisch zuzuordnen (auch Theunissen / Plaute 2002, 40 f.).
Übungen zu Kap. 3.2.2
18. Verständnisfrage: Aus welchen beiden Teilen besteht der Empowermentbegriff?
19. Diskussions-/ Reflexionsfrage: Wie lassen sich diese beiden Elemente von Empowerment in der Praxis umsetzen und wo stößt man damit an Grenzen?
Tab. 2: Empowermentebenen und zugeordnete Methoden in der Behindertenhilfe
Ebenen | Methoden |
Subjekt | Stärkenorientierte Biografiearbeit; Kompetenzdialog; Ressourcendiagnostik; Ressourcenaktivierung; persönliche Zukunftsplanung; Kompetenztraining |
Gruppe | Netzwerkdiagnose; Netzwerkarbeit; Förderung von Selbsthilfegruppen; Förderung von Peer Support und Peer Counseling |
Organisation | Förderung von Interessensvertretungen und Wohn- und Werkstattbeiräten; Beteiligung an Organisationsentwicklung (z. B. durch verstärkte Ambulantisierung und sozialräumliche Ausrichtung der Angebote) |
Sozialraum | Angebot und Förderung inklusiver Freizeit- und Kulturveranstaltungen; Vernetzung von Angeboten der Behindertenhilfe mit anderen Angeboten von sozialen Diensten und der Zivilgesellschaft |
3.2.3 Selbstbestimmung
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