Kitabı oku: «Winzige Gefährten», sayfa 4

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Dennoch taten Escherichs Zeitgenossen, was sie konnten. Schon hundert Jahre bevor Mikrobiom zum Schlagwort wurde, charakterisierten sie Bakterien aus Katzen, Hunden, Wölfen, Tigern, Löwen, Pferden, Rindern, Schafen, Ziegen, Elefanten, Kamelen und Menschen.17 Sie skizzierten die Grundzüge des mikrobiologischen Ökosystems im Menschen, und das mehrere Jahrzehnte bevor das Wort »Ökosystem« 1935 überhaupt geprägt wurde. Sie zeigten, dass sich von Geburt an in unserem Organismus Mikroorganismen ansammeln und dass in den einzelnen Organen unterschiedliche Arten die Vorherrschaft haben. Sie erkannten, dass insbesondere der Darm reich an Mikroorganismen ist und dass seine Bewohner sich verändern, wenn die Tiere unterschiedliche Nahrung zu sich nehmen. Kendall bezeichnete den Darm 1909 als »einzigartig vollkommenen Brutschrank« für Bakterien, deren Tätigkeiten »nicht in aktivem Gegensatz zu denen des Wirtes stehen«.18 Sie mochten vielleicht opportunistisch Krankheiten verursachen, wenn die Widerstandskraft des Wirtes geschwächt war, aber ansonsten waren sie harmlos.

Konnten sie möglicherweise auch nützlich sein? Genau das glaubte paradoxerweise Pasteur, der Mann, der überhaupt erst die Waffe für die langwierige Schießerei mit den Mikroben entsichert hatte. Er vertrat die Ansicht, Bakterien könnten für das Leben hilfreich oder vielleicht sogar unentbehrlich sein, denn man wusste bereits, dass der Magen einer Kuh die Cellulose aus Pflanzen verdaut und nahrhafte Säuren produziert, die das Wirtstier dann aufnimmt. Kendall äußerte die Vermutung, die Mikroorganismen im Darm des Menschen könnten ihrem Wirt helfen, indem sie fremde Bakterien bekämpfen und verhindern, dass diese Fuß fassen (dass sie eine Rolle für die Verdauung spielen, bezweifelte er allerdings).19 Der russische Nobelpreisträger Elias Metschnikoff trieb diese Sichtweisen ins Extrem. Er wurde einmal als »hysterischer Charakter aus einem Roman von Dostojewski« bezeichnet20 und war ein Musterbeispiel des inneren Widerspruchs: Einerseits versuchte er als abgrundtiefer Pessimist mindestens zweimal, sich das Leben zu nehmen, andererseits schrieb er ein Buch mit dem Titel Beiträge zu einer optimistischen Weltauffassung. In diesem 1908 erschienenen Buch projizierte er seine eigenen Widersprüche auf die Welt der Mikroorganismen.

Einerseits erklärte Metschnikoff, Darmbakterien würden Giftstoffe produzieren, die Krankheit, Senilität und Alterung verursachen und »die Hauptursache für die kurze Dauer eines Menschenlebens« seien. Andererseits glaubte er aber auch, manche Mikroorganismen könnten das Leben verlängern. In diesem Punkt bezog er seine Anregung von bulgarischen Bauern, die regelmäßig Sauermilch tranken und weit über hundert Jahre alt wurden. Die beiden Aspekte, so Metsch ni koff, hingen zusammen. Die gärende Milch enthielt Bakterien, dar unter eine Art, die er als bulgarischen Bazillus bezeichnete. Diese stellten Milchsäure her, die im Darm der Bauern die schädlichen, lebensverkürzenden Mikroorganismen abtötete. Metschnikoff war von seiner Idee so überzeugt, dass er anfing, selbst regelmäßig Sauermilch zu trinken. Andere wiederum waren von dem angesehenen Wissenschaftler Metschnikoff so überzeugt, dass sie es ihm nachmachten. (Seine Behauptungen führten sogar dazu, dass künstliche Darmausgänge in Mode kamen, und inspirierten Aldous Huxley zu seinem Roman Nach vielen Sommern: Darin spritzt sich ein Hollywoodmagnat den Darm von Karpfen, um so die Mikroorganismen in seinem eigenen Darm zu verändern und die Unsterblichkeit zu erlangen.) Natürlich tranken Menschen schon seit Jahrtausenden vergorene Milchprodukte, aber jetzt dachten sie dabei an die Mikroorganismen. Die Mode überlebte Metschnikoff: Er starb mit einundsiebzig Jahren an Herzversagen.

Aber trotz aller Bemühungen von Kendall, Metschnikoff und anderen kam die Erforschung der symbiontischen Bakterien von Menschen und anderen Tieren durch die zunehmende Konzentration auf Krankheitserreger unter die Räder. Die Öffentlichkeit wurde durch Gesundheitstipps ermutigt, Keime mit bakterientötenden Produkten und übertriebener Hygiene von ihrem Körper und aus der Umgebung zu entfernen. Zur gleichen Zeit wurden die ersten Antibiotika entdeckt und in großen Mengen hergestellt, Wirkstoffe, die sowohl die Keime als auch alles, was darüber berichtet wurde, hinwegfegten. Endlich hatten die Menschen eine Chance, diese winzigen Feinde zu besiegen. Und angesichts solcher Aussichten setzte, was die Erforschung der symbiontischen Bakterien anging, eine lange Durststrecke ein, die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts andauerte. Eine 1938 erschienene, detaillierte Geschichte der Bakteriologie erwähnte die in unserem Organismus ansässigen Mikroorganismen überhaupt nicht.21 Das führende Lehrbuch des Fachgebiets widmete ihnen ein einsames Kapitel, erläuterte aber vor allem, wie man sie von Krankheitserregern unterscheiden kann. Erwähnenswert waren sie nur, weil man sie von ihren interessanteren Kollegen trennen musste. Wenn Wissenschaftler sich mit Bakterien beschäftigten, dann meistens zu dem Zweck, andere Lebewesen besser zu verstehen. Wie sich herausstellte, sind viele Aspekte der Biochemie, beispielsweise die Aktivierung von Genen oder die Speicherung von Energie, im Stammbaum des Lebens überall gleich. Durch Erforschung von E. coli wollte man auch die Elefanten verstehen. Bakterien wurden zu »Stellvertretern für eine allgemeingültige, reduktionistische Einstellung gegenüber dem Lebendigen«, schrieb die Historikerin Funke Sangodeyi. »Die Mikrobiologie wurde zu einer dienenden Wissenschaft.«22

Auf dem Weg zu größerer Bekanntheit ging es nur langsam voran. Dazu trugen neue Methoden bei, unter anderem solche zur Zucht der sauerstoffhassenden Mikroorganismen, die im Darm von Tieren vorherrschen; jetzt konnte man große Gruppen wichtiger Mikroorganismen erforschen, die zuvor für die Wissenschaft nicht zugänglich gewesen waren.23 Auch die Einstellungen änderten sich. Dank der ökologischen Mikrobiologen der Delfter Schule wurde den Wissenschaftlern klar, dass man Bakterien nicht als Einzelorganismen erforschen sollte, die man in ein Reagenzglas werfen kann, sondern als Gemeinschaften, die in Lebensräumen – in diesem Fall ihren Wirtstieren – zu Hause sind. Vertreter spezialisierter Zweige der Medizin wie Zahnheilkunde und Dermatologie studierten die Ökologie der Mikroorganismen in den jeweiligen Organen.24 Sie »stellten sich mit ihren Arbeiten gegen die dominierende Mikrobiologie ihrer Zeit«, schrieb Sangodeyi. Aber sie waren noch isoliert. Auch Botaniker beschäftigten sich mit Mikroorganismen auf Pflanzen, und Zoologen erforschten sie bei Tieren. Die Mikrobiologie war in mehrere kleine Fachgebiete zersplittert, deren bruchstückhafte Bemühungen leicht zu übersehen waren. Es gab keine einheitliche Wissenschaftlergemeinde, die sich mit symbiontischen Mikroorganismen beschäftigt hätte – keine Wissenschaftsdisziplin sozusagen. Im Geist der Symbiose musste jemand die Teile zu einem größeren Ganzen zusammen fügen.

Dieses Ziel nahm der Mikrobiologe Theodor Rosebury, ein Experte für die Mikroorganismen im Mund, seit 1928 für die Mikrobiome des Menschen in Angriff. Mehr als dreißig Jahre lang sammelte er alle Forschungsergebnisse, die er finden konnte, und 1962 verwob er die zarten, hauchdünnen Fäden zu einem robusten Teppich: dem bahnbrechenden Werk Microorganisms Indigenous to Man.25 »Soweit mir bekannt ist, hat noch nie jemand versucht, ein solches Buch zu schreiben«, schrieb er. »Es scheint sogar das erste Mal zu sein … dass das Thema als zusammengehörige Einheit behandelt wird.« Damit hatte er recht. Sein Werk war detailliert, umfassend und ein unentbehrlicher Vorgänger des hier vorliegenden Buches.26 In vielen Einzelheiten beschrieb er die häufigsten Bakterien in allen Körperteilen. Er schilderte, wie die Mikroorganismen ein Baby nach der Geburt besiedeln. Er äußerte die Vermutung, sie könnten Vitamine und Antibiotika produzieren und so Infektionen verhüten, die von Krankheitserregern verursacht werden. Er erklärte, das Mikrobiom kehre nach einer Antibiotikabehandlung in seinen Normalzustand zurück, könne sich aber bei einer chronischen Anwendung solcher Wirkstoffe auch längerfristig verändern. Und mit den meisten seiner Aussagen behielt er recht. »Vieles von der Verachtung, mit der die normale Flora seit langer Zeit gestraft wurde, ist noch nicht wiedergutgemacht worden«, schrieb er. »Dieses Buch soll unter anderem den Vorschlag machen, genau das zu tun.«

Es gelang. Roseburys zusammenfassende Darstellung erweckte ein daniederliegendes Fachgebiet zu neuem Leben und wurde zum Anlass für zahlreiche neue Forschungsarbeiten.27 Einer der Wissenschaftler, die zu diesem Vermächtnis beitrugen, war der liebenswürdige, in Frankreich geborene Amerikaner René Dubos, der sich bereits einen Namen gemacht hatte. In Anlehnung an die ökologischen Lehren der Delfter Schule erforschte er die Mikroorganismen im Boden; aus ihnen hatte er Wirkstoffe isoliert, die dazu beitrugen, das Anti biotikazeitalter einzuläuten. Aber Dubos hielt seine Wirkstoffe nicht für Waffen zum Abtöten von Mikroorganismen, sondern für Hilfsmittel, mit denen man sie »domestizieren« kann. Selbst in seinen späteren Arbeiten über Tuberkulose und Lungenentzündung verzichtete er darauf, Mikroorganismen in die Rolle von Feinden zu drängen, und entsprechend vermied er militaristische Metaphern. Er war im Kern ein überzeugter Naturliebhaber, und Mikroorganismen sind nun mal ein Teil der Natur. »Es war sein lebenslanges Credo, dass man Lebewesen nur in ihrer Beziehung zu allem anderen verstehen kann«, schrieb seine Biografin Susan Moberg.28

Dubos erkannte den Wert unserer symbiontischen Mikroorganismen und war betrübt darüber, dass man ihren Nutzen bislang übersehen hatte. »Das Wissen, dass Mikroorganismen für den Menschen hilfreich sein können, ist für die Allgemeinheit nie besonders reizvoll gewesen, denn Menschen sind in der Regel von den Gefahren, die ihr Leben bedrohen, stärker gefesselt als von den biologischen Kräften, auf die sie angewiesen sind«, schrieb er. »Die Geschichte der Kriegsführung ist stets glanzvoller als Berichte über Kooperation. Pest, Cholera und Gelbfieber haben den Weg in Romane, auf die Bühne und auf die Kinoleinwand gefunden, aber niemand hat jemals eine Erfolgsgeschichte über die nützlichen Funktionen der Mikroorganismen in Darm oder Magen geschrieben.«29 Zusammen mit seinen Kollegen Dwayne Savage und Russell Schaedler trug er dazu bei, diese Funktionen aufzuklären. Wie die drei zeigen konnten, gewinnen schlechte Siedler unter Umständen die Oberhand, wenn man die angestammten Mikroorganismenarten mit Antibiotika vernichtet. Sie untersuchten keimfreie Mäuse, die man in sterilen Brutkästen aufgezogen hatte, und konnten nachweisen, dass diese Nagetiere kürzer lebten, langsamer heranwuchsen, ein anormales Verdauungs- und Immunsystem besaßen und anfälliger für Stress und Infektionen waren. »Für die Entwicklung und die physiologische Tätigkeit normaler Tiere und Menschen spielen mehrere Mikroorganismenarten eine unverzichtbare Rolle«, schrieb er.30

Aber Dubos wusste auch, dass er nur an der Oberfläche kratzte. »Mit Sicherheit stellen sie [die bisher identifizierten Bakterien] nur einen sehr kleinen Teil der gesamten einheimischen Mikrobiome dar, und zwar noch nicht einmal den wichtigsten«, schrieb er. Der Rest – vielleicht bis zu 99 Prozent – wollte einfach im Labor nicht wachsen. Diese »nicht kultivierte Mehrheit« war ein beängstigendes Hindernis. Obwohl seit Leeuwenhoeks Zeit so vieles geschehen war, wussten die Mikrobiologen über die meisten Organismen, die sie eigentlich erforschen sollten, immer noch nichts. Leistungsfähige Mikroskope allein konnten das Problem nicht lösen. Auch Methoden zur Aufzucht von Mikroorganismen konnten das Problem nicht lösen. Man brauchte einen anderen Ansatz.

Ende der 1960er-Jahre machte sich der junge Amerikaner Carl Woese an ein verschrobenes Nischenprojekt: Er sammelte verschiedene Bakterienarten und analysierte die Moleküle ihrer sogenannten 16S-rRNA, die in allen Mikroorganismen vorkommt. Kein anderer Wissenschaftler erkannte den Wert einer solchen Arbeit, und so hatte Woese keine Konkurrenten: »Es war ein Rennen mit nur einem Pferd«, sagte er später.31 Außerdem war es ein teures, langsames und gefährliches Rennen, zu dem der Umgang mit beunruhigend großen Mengen an radioaktiven Flüssigkeiten gehörte. Aber es war auch revolutionär.

Zu jener Zeit konnten Biologen die Verwandtschaften zwischen verschiedenen biologischen Arten ausschließlich aus ihren körperlichen Merkmalen ableiten: Durch Vergleich von Einzelheiten der Größe, Form und Anatomie fanden sie heraus, wer mit wem verwandt war. Woese erkannte, dass er mit den Lebensmolekülen besser vorankam: mit DNA, RNA und Proteinen, die allen Lebewesen gemeinsam sind. In ihren Molekülen sammeln sich Veränderungen im Laufe der Zeit an, das heißt, eng verwandte Arten haben ähnlichere Versionen als solche mit weitläufigen Verwandtschaftsverhältnissen. Wenn er die richtigen Moleküle bei einem ausreichend vielgestaltigen Spektrum verschiedener Arten verglich, mussten sich die Zweige und Äste des Lebensstammbaums zeigen.32

Woese konzentrierte sich auf die 16S-rRNA, die von einem Gen gleichen Namens produziert wird. Sie gehört zu dem unentbehrlichen Proteinsyntheseapparat, der in allen Organismen vorhanden ist, und erwies sich damit als die von Woese gewünschte, überall vergleichbare Einheit. Bis 1976 hatte er Profile der 16S-rRNA von ungefähr dreißig verschiedenen Mikroben erstellt. Im Juni desselben Jahres begann er mit der Arbeit an einer Spezies, die sein Leben verändern sollte – und nicht nur sein Leben, sondern auch die Biologie, wie wir sie kennen.

Sein Untersuchungsobjekt stammte von Ralph Wolfe, der zu einem führenden Experten für eine rätselhafte Gruppe von Mikroben geworden war, die Methanogene. Diese Organismen brauchen zum Leben kaum mehr als Kohlendioxid und Wasserstoff, aus denen sie Methan herstellen. Sie sind in Sümpfen, Ozeanen und dem Darm des Menschen zu Hause; die Spezies, die Wolfe geschickt hatte, hieß Methanobacterium thermoautotrophicum und lebte im warmen Schlamm von Kläranlagen. Woese ging wie alle anderen davon aus, dass es sich einfach um eine weitere Bakterienart handelte, wenn auch um eine mit seltsamen Lebensgewohnheiten. Als er aber ihre 16SrRNA analysierte, wurde ihm klar, dass sie eindeutig nicht bakterientypisch war. In der Frage, wann er die Bedeutung seiner Beobachtung in vollem Umfang begriff, wie überschwänglich oder vorsichtig er war und ob er eine Wiederholung der Experimente forderte, gehen die Berichte auseinander. Eines aber ist klar: Im Dezember hatte seine Arbeitsgruppe mehrere weitere Methanogene sequenziert und bei allen die gleiche Gesetzmäßigkeit gefunden. Wolfe erinnert sich, dass Woese zu ihm sagte: »Diese Dinger sind noch nicht einmal Bakterien.«

Woese veröffentlichte seine Befunde 1977 in einem Fachartikel und gab den Methanogenen darin den neuen Namen Archaebacteria. Später wurden sie schlicht Archaea genannt.33 Woese beharrte darauf, sie seien nicht einfach seltsame Bakterien, sondern eine vollkommen andere Lebensform. Es war eine erstaunliche Behauptung. Woese hatte diese rätselhaften Mikroorganismen im Schlamm ausgegraben und stellte sie auf die gleiche Stufe wie die allgegenwärtigen Bakterien oder die mächtigen Eukaryonten. Es war, als hätte man eine Weltkarte vor sich, und Woese würde in aller Stille ein ganzes Drittel entfalten, das bisher verborgen war.

Wie nicht anders zu erwarten, stießen Woeses Behauptungen selbst bei anderen wissenschaftlichen Bilderstürmern auf lautstarke Kritik. Die Fachzeitschrift Science bezeichnete ihn später als »den seelisch vernarbten Evolutionär der Mikrobiologie«, und tatsächlich trug er die Narben bis zu seinem Tod im Jahr 2012.34 Heute ist sein Vermächtnis nicht mehr zu leugnen. Seine Behauptung, die Archaea seien etwas anderes als Bakterien, erwies sich als richtig. Und was vielleicht noch wichtiger war: Der von ihm vertretene Ansatz, durch den Vergleich von Genen die Verwandtschaftsbeziehungen biologischer Arten aufzuklären, wurde zu einem der wichtigsten in der modernen Biologie.35 Außerdem ebneten seine Methoden anderen Wissenschaftlern wie beispielsweise seinem langjährigen Freund Norman Pace den Weg, nun wirklich die Welt der Mikroorganismen zu erkunden.

In den 1980er-Jahren analysierte Pace erstmals die rRNA von Archaea, die in extrem heißen Umgebungen leben. Besonders eingenommen war er vom Octopus Spring, einem tiefblauen Kessel im Yellowstone-Nationalpark, dessen Wasser mit einer Temperatur von 91 Grad Celsius beinahe siedete. Die Quelle war voller nicht identifizierter, hitzeliebender Mikroorganismen, die darin in so großen Schwärmen wuchsen, dass sie als rosafarbene Fasern sichtbar wurden. Pace kann sich noch gut daran erinnern, wie er etwas über die Quelle las, sofort in sein Labor lief und rief: »He, Leute, seht euch das mal an! Kilo grammmengen! Schnappen wir uns einen Eimer und fahren hin.« Darauf sagte ein Mitglied seiner Arbeitsgruppe: »Aber wir wissen doch nicht einmal, was für Organismen das sind.« Worauf Pace erwiderte: »Das macht doch nichts. Wir können sie ja sequenzieren.«

Er hätte ebenso gut »Heureka!« rufen können. Pace war klar geworden, dass er Mikroorganismen mit Woeses Methoden studieren konnte, ohne dass er sie heranzüchten musste. Er brauchte sie nicht einmal zu sehen. Es reichte, wenn er ihre DNA oder RNA unmittelbar aus der Umwelt gewann und sequenzierte. Dann würde sich zeigen, was dort lebte und wie es in den Stammbaum der Mikroorganismen passte – Biogeografie und Evolutionsbiologie in einem. »Wir sind mit unserem Eimer zum Yellowstone-Park gefahren und haben es gemacht«, sagt er. Im Wasser dieses »stillen, schönen und tödlichen Ortes« identifizierte Pace’ Arbeitsgruppe zwei Bakterienarten und ein Archaeon. Keines davon war schon einmal gezüchtet worden, und alle waren für die Wissenschaft neu. Die Befunde wurden 1984 veröffentlicht.36 Zum ersten Mal hatte damit jemand einen Organismus ausschließlich aufgrund seiner Gene entdeckt. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben.

Im Jahr 1991 analysierten Pace und sein Student Ed DeLong verschiedene Planktonproben, die sie aus dem Pazifik gefischt hatten. Darin fanden sie eine noch kompliziertere Mikroben-Lebensgemeinschaft als im Yellowstone-Park: fünfzehn neue Bakterienarten, darunter zwei, die zu keiner bekannten Gruppe gehörten. Langsam sprossen an dem kargen Stammbaum der Bakterien neue Blätter, Zweige und manchmal ganze Äste. In den 1980er-Jahren hatten noch alle bekannten Bakterien fein säuberlich in ein Dutzend Hauptgruppen oder Stämme gepasst. Bis 1998 war deren Zahl auf ungefähr vierzig angestiegen. Als ich 2015 mit Pace sprach, sagte er mir, wir seien jetzt bei ungefähr hundert, und rund achtzig davon seien noch nie in Kulturen gezüchtet worden. Einen Monat später berichtete Jill Banfield über die Entdeckung von fünfunddreißig neuen Stämmen allein in einer einzigen grundwasserführenden Schicht in Colorado.37

Nachdem die Mikrobiologen jetzt vom Joch der Bakterienkulturen und Mikroskopie befreit waren, konnten sie eine viel umfassendere Bestandsaufnahme der Mikroorganismen auf unserem Planeten in Angriff nehmen. »Das war immer unser Ziel«, sagt Pace. »Die Ökologie der Mikroorganismen war zu einer todgeweihten Wissenschaft geworden. Die Leute gingen hinaus, drehten einen Stein um, fanden ein Bakterium und glaubten, es sei charakteristisch für alles, was es dort draußen gibt. Das war dumm. Als wir zum ersten Mal anders vorgegangen sind, haben wir die Tür zur natürlichen Welt der Mikroorganismen aufgestoßen. Ich will, dass das auf meinem Grabstein steht. Es war ein großartiges Gefühl, und das ist es bis heute geblieben.«

Man brauchte sich jetzt auch nicht mehr auf die 16S-rRNA zu beschränken. Sehr schnell entwickelten Pace, DeLong und andere neue Methoden, um alle Gene der Mikroorganismen in einem Klumpen Erde oder einem Becher Wasser zu analysieren.38 Sie gewannen die DNA aus allen Mikroorganismen von einer Stelle, zerschnitten sie in kleine Stücke und sequenzierten sie alle auf einmal. »Wir haben jedes verdammte Gen bekommen, das wir haben wollten«, sagt Pace. Schon anhand der 16S-rRNA konnte man sehen, welche Arten vorhanden waren, darüber hinaus aber konnte man jetzt auch herausfinden, welche Fähigkeiten die Arten an einem bestimmten Ort besaßen. Dazu sucht man beispielsweise nach Genen für die Vitaminsynthese, für die Verdauung von Ballaststoffen oder für Antibiotikaresistenzen.

Die neue Methodik versprach eine Revolution der Mikrobiologie; man brauchte nur noch einen einprägsamen Namen. Einen solchen schlug Jo Handelsman 1998 vor: Metagenomik, die Genomforschung an Lebensgemeinschaften.39 »Die Metagenomik ist vielleicht der wichtigste Durchbruch in der Mikrobiologie seit der Erfindung des Mikroskops«, sagte sie einmal. Endlich war man auf dem Weg, das Leben auf der Erde in seinem ganzen Umfang zu verstehen. Handelsman und andere erforschten nun Mikroorganismen aus den Böden von Alaska, den Graslandschaften in Wisconsin, den säurehaltigen Abwässern eines Bergbaubetriebs in Kalifornien, dem Wasser der Sargassosee, dem Körper von Tiefseewürmern und dem Darm von Insekten. Und natürlich wandten manche Mikrobiologen sich nach dem Vorbild Leeuwenhoeks auch sich selbst zu.

Wie Dubos und viele andere, die sich irgendwann in Bakterien verliebt hatten, so hatte auch David Relman ursprünglich vorgehabt, sie umzubringen. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er sich als klinischer Mediziner mit Infektionskrankheiten beschäftigt. Ende der 1980er-Jahre identifizierte er mit Pace’ neuer Methode unbekannte Mikroorganismen, die hinter rätselhaften Erkrankungen des Menschen steckten. Anfangs war er zutiefst frustriert, weil jede Gewebeprobe, die vielleicht einen neuen Krankheitserreger beherbergen konnte, von dem normalen Mikrobiom überschwemmt war. Diese Bewohner waren eine lästige Ablenkung – bis Relman erkannte, dass sie auch für sich genommen interessant waren. Warum sollte man nicht diese Mikroorganismen anstelle der pathogenen Minderheit charakterisieren?

So kam es, dass Relman eine große Tradition begründete, in der Mikrobiologen ihre eigenen Mikrobiome sequenzierten. Als Erstes bat er seinen Zahnarzt, ein wenig Belag aus seinen Zahnfleischtaschen zu kratzen und in ein keimfreies Sammelröhrchen fallen zu lassen. Er nahm die Masse mit ins Labor und entschlüsselte ihre DNA. Es hätte zu nichts führen müssen. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass der Mund bereits der bestuntersuchte Mikroben-Lebensraum im menschlichen Körper war. Schon Leeuwenhoek hatte ihn sich angesehen. Rosebury hatte ihn untersucht. Mikrobiologen hatten fast fünfhundert Bakterienstämme aus seinen verschiedenen Nischen in Kulturen gezüchtet. Wenn irgendein Körperteil immun gegen neue Entdeckungen hätte sein können, dann der Mund. Und doch fand Relman an seinem eigenen Zahnfleisch ein Spektrum von Bakterienarten, das weitaus größer war als alles, was er aus denselben Proben heranzüchten hätte können.40 Selbst dort, in den bekanntesten Lebensräumen des menschlichen Körpers, wartete also noch eine atemberaubende Zahl unbekannter Arten auf ihre Entdeckung. Genauso erging es Relman 2005 auch mit dem Darm. Er sammelte Proben von verschiedenen Orten im Verdauungstrakt dreier Freiwilliger und identifizierte darin fast vierhundert Bakterienarten sowie ein Archaeon – und 80 Prozent davon waren für die Wissenschaft neu.41 Mit anderen Worten: Dubos hatte mit seinen Vermutungen recht gehabt. Die Mikrobiologen seiner Zeit hatten noch kaum an der Oberfläche der normalen menschlichen Bakterienflora gekratzt.

Das alles änderte sich Anfang der 2000er-Jahre: Jetzt machten Wissenschaftler überall im menschlichen Körper Sequenz-Bestandsaufnahmen. Jeff Gordon – ein Pionier, der uns in einem späteren Kapitel wieder begegnen wird – wies nach, dass Mikroorganismen die Fettspeicherung und die Entstehung neuer Blutgefäße in unserem Körper steuern und dass fettleibige Menschen in ihrem Darm andere Mikroorganismen haben als schlanke.42 Relman selbst bezeichnete die Mikrobiome jetzt als »lebenswichtiges Organ«. Die Wegbereiter lockten Mitarbeiter aus allen Fachgebieten der Biologie an, erregten die Aufmerksamkeit der Publikumspresse und erhielten nun Millionenbeträge zur Finanzierung großer, internationaler Projekte.43 Jahrhundertelang hatte das Mikrobiom des Menschen sein Dasein an den Rändern der biologischen Wissenschaft gefristet, nur Rebellen und Bilderstürmer hatten sich für es eingesetzt. Jetzt war es zu einem Teil des Mainstreams geworden. Seine Geschichte ist eine Geschichte darüber, wie Gedanken über den menschlichen Organismus und über wissenschaftliche Fragen von den Rändern in den Mittelpunkt wandern.

Im Artis, dem königlichen Zoo in Amsterdam, steht gleich hinter dem Eingang ein zweistöckiges Gebäude, das auf seiner Seitenwand das Bild einer riesigen, schreitenden Figur zeigt. Sie besteht aus kleinen, flauschigen Kugeln in Orange, Beige, Gelb und Blau. Es ist die Darstellung des menschlichen Mikrobioms, und sie lädt die Besucher mit einer freundlichen Handbewegung ins Micropia ein – in das erste Museum der Welt, das ausschließlich den Mikroorganismen gewidmet ist.44

Das Museum wurde im September 2014 nach einer Entwicklungszeit von zwölf Jahren und einem Kostenaufwand von 10 Millionen Euro eröffnet. Dass es sich ausgerechnet in den Niederlanden befindet, passt. Im nur 65 Kilometer entfernten Delft machte Leeuwenhoek die Welt zum ersten Mal mit dem verborgenen Reich der Bakterien bekannt. Heute ist ein Nachbau eines seiner brillianten Mikroskope das Erste, was ich sehe, nachdem ich die Eintrittskartenkontrolle von Micropia hinter mir habe. Es steht – bescheiden, täuschend einfach und auf dem Kopf stehend montiert – in einem Glasgefäß. Darum herum sind Proben von Dingen, die Leeuwenhoek hätte untersuchen können, unter anderem Pfefferaufgüsse, Entengrütze von einem Teich in der Nähe und Zahnbeläge.

Von dort begebe ich mich zusammen mit einem Freund und einer kleinen Familie in einen Aufzug. Als wir nach oben blicken, sehen wir unser eigenes Spiegelbild in einem Video, das an der Decke gezeigt wird. Während der Lift aufwärts fährt, zoomt die Kamera auf dramatische Weise auf unsere Gesichter; sie scheint immer näher zu kommen, zeigt Milben in den Wimpern, Hautzellen, Bakterien und schließlich auch Viren. Als die Türen sich in der zweiten Etage öffnen, sehen wir ein Schild aus kleinen Lichtpunkten, die sanft schimmern wie eine lebende Kolonie. »Wenn man ganz nah hinsieht, eröffnet sich eine neue Welt, schöner und spektakulärer als alles, was man sich jemals vorgestellt hätte«, steht dort. »Willkommen in Micropia.«

Einen ersten Eindruck von dieser neuen Welt erhalten wir sofort durch eine Reihe von Mikroskopen. Sie richten sich auf Mückenlarven, Wasserflöhe, Fadenwürmer, Schleimpilze, Algen und grüne Teichbakterien. Letztere sind 200-fach vergrößert, und ich wundere mich bei dem Gedanken, dass Leeuwenhoeks selbst gebautes Mikroskop aus der unteren Etage das Gleiche leistete. Auch er sah diese kleinen Wunder, allerdings auf viel unbequemere Weise. Während er angestrengt durch eine winzige Linse blinzeln musste, kann ich das Gesicht an ein bequem gepolstertes Okular halten und auf ein scharfes Digitaldisplay blicken.

Hinter den Mikroskopen zeigt eine große Darstellung die Biogeografie des menschlichen Mikrobioms. Die Besucher stehen vor einer Kamera, die ihren Körper abtastet und auf einem großen Bildschirm einen mikrobiologischen Avatar zeichnet. Der Avatar, dessen Haut mit weißen Punkten nachgezeichnet ist, während die Organe in bunten Farben dargestellt werden, ahmt die Bewegungen der Besucher nach. Sie gehen weiter, er geht weiter. Sie winken, er winkt. Durch Handbewegungen können sie verschiedene Organe auswählen und Informationen über die Mikroorganismen in Haut, Magen, Darm, Kopfhaut, Mund, Nase und an anderen Orten abrufen. Sie erfahren, welcher Mikroorganismus wo zu Hause ist und was er tut. In diesem einen Ausstellungsstück verkörpern sich die Entdeckungen vieler Jahrzehnte von Kendall über Rosebury bis zu Relman. Eigentlich ist das ganze Museum ein Tribut an die Geschichte. Unter anderem zeigt es eine Reihe von Flechten, jene zusammengesetzten Organismen, durch die Wissenschaftler im 19. Jahrhundert auf die Bedeutung der Symbiose aufmerksam wurden. An einer anderen Stelle zeigt ein Mikroskop die Milchsäurebakterien, in die Metschnikoff sich verliebt hatte – winzige Kugeln, die 630-fach vergrößert sind und hübsche Bewegungen vollführen.

Mir fällt auf, wie nüchtern die Informationen sind und wie schnell die Besucher sich mit dem Gedanken an eine Welt der Mikroorganismen abfinden. Niemand zuckt zurück, runzelt die Stirn oder rümpft die Nase. Ein Paar steht auf einer roten, herzförmigen Plattform und legt für einen langen Kuss die Lippen vor dem »Kiss-o-Meter« aufeinander, der ihnen sagt, wie viele Bakterien sie gerade ausgetauscht haben. Eine junge Frau blickt aufmerksam auf eine Wand mit Stuhlproben von Gorillas, Wasserschweinen, Kleinen Pandas, Kängurus, Löwen, Ameisenbären, Elefanten, Faultieren, Schopfaffen und vielen anderen, die alle in dem benachbarten Zoo gesammelt, in luftdichten Gefäßen eingeschlossen und dann in Plexiglaskästen untergebracht wurden. Eine Gruppe von Teenagern starrt auf eine Wand mit von hinten beleuchteten Agarplatten, auf denen Pilze und Bakterien wachsen. Manche stammen von Alltagsobjekten. Sie erkennen den Abdruck von Schlüsseln, Telefonen, Computermäusen, Fernbedienungen, Zahnbürsten, Türklinken und den rechteckigen Umriss eines Euro scheins. Sie staunen über die orangefarbenen Flecken von Klebsiella, die blauen Matten von Enterococcus und die grauen, schmierigen Massen von Staphylococcus, die aussehen, als wären sie mit dem Bleistift schraffiert.

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