Kitabı oku: «Beziehungsweisen», sayfa 6

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* Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Joachim Günther, JoachimGünther – eine Schlüsselfigur in der Geschichte des Aphorismus im 20. Jahrhundert. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 104, 2012, S. 527–553. Mit einer Bibliographie auch der Rezensionen Günthers zum Aphorismus in den „Neuen deutschen Heften“; Vielzeitig, S. 284, 289 et. pass.

** Neue deutsche Hefte. Hg. von Joachim Günther, JoachimGünther (1905–1990)

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 17. Oktober 2010 Nr. 67

Im Ganzen bietet die Anthologie* wieder eine gute Gelegenheit, über das Phänomen „Auswahl“ nachzudenken. Manchem Aphoristiker haben Sie gut aus der Fülle herausgeholfen, bei anderen erscheint mir Ihre Hilfsbereitschaft zu groß (bei Michael Rumpf, MichaelRumpf** etwa). Besonders danken möchte ich Ihnen dafür, dass Sie mir zeigen, wie gut Gabriel Laub, GabrielLaub und wie schlecht Hans Kudszus, HansKudszus*** doch sein können. Joachim Günther, JoachimGünther ist makellos; er erscheint hier im schönsten Licht seiner Denkart. Da ist Ihnen ein Porträt gelungen. Ich habe ihn gesehen und gehört und empfand so etwas wie Sehnsucht.

* Friedemann Spicker, FriedemannSpicker (Hg.): Deutsche Aphorismen. Stuttgart: Reclam 2012 (RUB 18695)

** Michael Rumpf, MichaelRumpf (geb. 1948), Lyriker, Aphoristiker, Essayist

*** Hans Kudszus, HansKudszus (1901–1977), Journalist, Essayist, Aphoristiker in Berlin

An Harald Weinrich, HaraldWeinrich, 3. Mai 2011 Nr. 68

Zweimal die traurige Pflicht, beide Mal ging sie mir zu Herzen: Walter Helmut Fritz, Walter HelmutFritz, mit dem ich seit 1961 auf unauffällige Weise verbunden war*, und Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp**, mit dem Du lange und intensiv verbunden gewesen bist. Für W. H. Fritz, Walter HelmutFritz habe ich keine Adresse, ich vermisse sie, für Kemp, FriedhelmKemp, so fühle ich, müsste und könnte ich Dir kondolieren. Du hast oft von und für ihn gesprochen, immer mit Sympathie und gebührendem Respekt. Als wir uns das letzte Mal sahen, hast Du mir noch seine Integrität in der Nazizeit bestätigt.

Lieber Harald, Dein Freund, ein wichtiger Teil Deines „München“, ist nun von Dir weggegangen, ein ziemliches Stück von Dir, weil auch „romanistisch“ erheblich – und überhaupt: wie viele Kemp, FriedhelmKemps gibt es in einer Generation? Vor Jahren sagte ich Dir, man müsste ihm ein Denkmal setzen, so hoch schätzte ich ihn: als Lektor, Editor, Übersetzer, als Leser, auch als Sammler. Er hatte ja „alles“, und hatte ich, was er nicht hatte, zum Beispiel Däubler, TheodorDäubler, TheodorDäublers „Nordlicht“ in der Florentiner Ausgabe, dann war sie gewiss „nicht bedeutend“ genug, um sie besitzen zu müssen (immerhin 600 Exemplare …).

Jetzt teile ich mit Dir die Trauer um ihn, der hoch in die Jahre kam, ein großer Liebhaber der Poesie, ein Nichtautor, der seine Mitstreiter (Hohoff, CurtHohoff*** und Holthusen, Hans EgonHolthusen****) um vieles, in vielem überlebte. Er hat nicht gedichtet, nur geleistet, und es war Poesie, ohne Dichtung zu sein. Das ist das Phänomen Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp.

Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp, ich fühlte diesen Namen immer bedeutend über meine Lippen gehen. Ich weiß nicht, ob er zum Lieben war, ich habe es vielleicht versucht, aber zu großem Erfolge habe ichs mit ihm ohnehin nicht bringen können, er hatte allerlei gegen mich einzuwenden – bei einer gewissen Achtung, die er sich nicht verkneifen konnte. Ich werde ihn vermissen, so wenig ich von ihm auch hatte. Das muss ich Dir sagen – und schreiben, denn Du hattest nicht wenig von ihm. Meine Korrespondenz mit Kemp, FriedhelmKemp erstreckte sich über dreißig Jahre (1960–1990) und war eher dürftig, weil nur meinerseits erwartungsvoll, hier ein Beispiel:

Jerusalem, den 30.8.1990

Lieber Herr Kemp, FriedhelmKemp,

Dank für Ihren Brief und für Ihre Bereitschaft, mein Experiment zu betrachten. Es erfordert Kritik, ist sie hoffentlich auch wert. Ich denke: Wäre ich meiner Sache sicher, ich suchte Ihre kritische Weite nicht auf. So muss ich mich damit nicht weiter zieren, und Sie brauchen keineswegs zimperlich zu sein. Vor hundert Jahren, am 19. Juli 1890, nach dem Tode Gottfried Keller, GottfriedKellers, schrieb Conrad Ferdinand Meyer, Conrad FerdinandMeyer an Julius Rodenberg, JuliusRodenberg:

„Obwohl ich mit ihm nicht in nähern Verhältnissen gestanden, geht mir die Sache doch nahe, auch ganz abgesehen von seiner literarischen Größe, wegen seiner innerlichen Liebenswürdigkeit; deshalb würde ich mich gar nicht wundern, wenn in seinem Nachlass etwas Unangenehmes für mich zum Vorschein käme – ich verzeihe es im Voraus.“

Es ist ein merkwürdiges Wort: „deshalb“ – im Anschluss gerade an die „innerliche Liebenswürdigkeit“. Ihre innere Liebenswürdigkeit, lieber Herr Kemp, FriedhelmKemp, wird deshalb ohne Abstriche fortbestehen, und ich müsste Ihnen, wenn Ihre Lektüre Unangenehmes für mich zeitigt, nicht einmal im Voraus verzeihen. Noch lebe ich und werde mich verteidigen können. Das Beste, was Sie mir bieten können, ist kritischer Widerstand. Dafür wäre ich Ihnen dankbar. Auf Ihre Kritik, fiele sie sehr hart aus, würde ich vielleicht erwidern mögen, und wenn es dann zwischen uns Funken gibt, darüber freuen wir uns sicher nur.

Dies freilich gilt ganz und gar nur hinsichtlich „Ihres Verhältnisses zu manchem“, was ich schreibe, das „gelegentlich problematisch ist“, wie Sie sagen; nicht gilt es ganz und gar bezüglich „der Art, wie ich schreibe“. Wäre diese doch nur anfechtbar – ich selbst stehe mit ihr auf Kriegsfuß. Aber „wer spricht von Siegen …“, und wenn auch Sie meine Art angreifen wollten, was wäre damit gewonnen? Es sei denn, Sie wollen mir eine bessere vorspielen oder vorschreiben, die ich mir so gut aneignen könnte, dass aus ihr wiederum ein Werk hervorginge, darin ich mich, den Anfechtbaren, erkennen kann. Ich würde darum vorschlagen, dass Sie alles, was Ihnen an meiner Art missfällt, ohne Rücksicht rot oder dick im Manuskript streichen. Ich werde es schon verstehen und sehen, was mir zu verantworten bleibt. Eitelkeit ist in diesem Manuskript zum Stilprinzip erhoben, das Zitat auf seine Spitze getrieben; dass „ein Wort das andere gibt“, ist das Auffallendste, wenn auch als der Weisheit letzter Schluss nicht ohne weiteres erkennbar.

* Siehe Verzeichnis der Briefpartner(innen); vgl. EB: Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 39

** Friedhelm Kemp, FriedhelmKemp (1914–2011), Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer; Vielzeitig, S. 16

*** Curt Hohoff, CurtHohoff (1913–2010), Literaturkritiker und Essayist

**** Vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 54

An Werner Helmich, WernerHelmich, 6. November 2011 Nr. 69

Ich habe etwas Absurdes, wohl auch Sträfliches unternommen, ob Sie bereit wären, darüber kurz nachzudenken, mir ein Wort zu sagen? Vermochte ich eine echte Stimmung zu erzeugen? Lassen sich beide Stücke zusammendenken (muss nicht sein)? Weil Sie es unbefangen (und ohne Rücksicht auf mich) lesen sollen, erfahren Sie von mir nichts Näheres, aber dann!

Wieder auf dem Wüstenpfade

reitet der Jahrtausendgeist

Wenn sich der Pfad vor deinem Fliehen engt,

wenn sich der Pass vor deinen Augen schließt,

welch ein Weg beginnt vor deinen Füßen!

Gen Abend liegt das Totenreich im Meer,

dort hausen Tote ganz im Schein des Lebens.

Abgründlich droben tut sich sternlos auf

nordlichterhelltes Nichts.

Wer durfte wandeln Dich zur Aschensaat?

---------------

Wer sagts dir an, was du gesehn? Kein König

kann seine Träume deuten, wie sie auch

ihn siebennächtlich quälen. Er muss doch

den jungen Seher rufen, der allein

die Magier beschämt. Horchen muss er

der grausen Deutung und den Deuter töten,

auf dass sie sich erfüllt. Wer herrscht, erblindet.

wer schaut, verfällt dem Schwert.

Falsche Versöhnung streitet wider Gott.

Zusammengeflickt aus Ernst Bertram, ErnstBertrams „Nornenbuch“, 1925

Von Werner Helmich, WernerHelmich, 7. November 2011 Nr. 70

Lieber Dichter,

ja, Sie sind hier ganz Lyriker und kein Spruchdichter; mir war, auch ohne Ihre frühere hebräische Dichtung zu kennen, immer klar, dass Sie mehrere Saiten auf Ihrem Bogen haben. Der Ton gefällt mir, auch als Diptychon (auch wegen der weitgehend parallelen Metrik). Ist der metrische Bruch in „die Mágièr bescháemt. Hórchen múss er“ an der Satzgrenze (keine Senkung) gewollt? Ich könnte mir’s vorstellen. Mir fiel er nur wegen der ansonsten durchgehenden Blankversstruktur besonders auf. War ich Kritiker genug?

An Werner Helmich, WernerHelmich, 7. November 2011 Nr. 71

Lieber, abenteuerlicher, geneigter und entzückender Kritiker,

Sie haben sich kühn auf ein Abenteuer eingelassen, das schwere Folgen haben könnte (müsste), theoretische und moralische. Ich habe Sie gelegentlich schon heranzuziehen versucht, mit geringen, aber offenen Karten. Die heutigen Karten lagen Ihnen nicht offen vor, ein Eröffnen folgt auf Wunsch, dann teile ich Ihnen eine Seite dazu aus meinem Tagebuch mit, doch muss ichs erst Helmich, WernerHelmich-würdig gestalten, wiewohl nicht entstammeln, denn mitunter zittert meine Hand dabei.

An Werner Helmich, WernerHelmich, 8. November 2011 Nr. 72

AUF BIEGEN ODER BRECHEN

ODER

FEINDE AUS ERZ

Mit dem Zitieren beginnt das Gegenwerk

Kosal Vanít

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Wieder auf dem Wüstenpfade

reitet der Jahrtausendgeist

Wenn sich der Pfad vor deinem Fliehen engt,

wenn sich der Pass vor deinen Augen schließt,

welch ein Weg beginnt vor deinen Füßen!

Gen Abend liegt das Totenreich im Meer,

dort hausen Tote ganz im Schein des Lebens.

Abgründlich droben tut sich sternlos auf

nordlichterhelltes Nichts.

Wer durfte wandeln Dich zur Aschensaat?

Ernst Bertram, ErnstBertram,

„Das Nornenbuch“. 1925

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„Nie wusstest du was hinten und was vorne,

Rülpsen des Augenblicks schien dir Raun und Norne.

Warst lang bereit fürs braune Miss-Geschick,

uns kennend, zischtest du vom ›Rattenblick‹.

Schriest von der ›Großzeit‹, aller Zeiten Ernte,

die Zeit wars, wo man Juden gelb besternte,

wo man, gewiss, den Erdball zu erbeuten,

die Bücherreihn bezog mit Judenhäuten …

O, auch dein Quantum Auschwitzasche

bekamst du, dass man schwärzere Kirschen nasche,

mit Düngerfolg den Führer überrasche.“

Karl Wolfskehl, KarlWolfskehl, An E[rnst] Bertram, ErnstB[ertram]

(unveröffentlicht)

Schwarze Segel wachsen auf der Welle

Wer sagts dir an, was du gesehn? Kein König

kann seine Träume deuten, wie sie auch

ihn siebennächtlich quälen. Er muss doch

den jungen Seher rufen, der allein

die Magier beschämt. Horchen muss er

der grausen Deutung und den Deuter töten,

auf dass sie sich erfüllt. Wer herrscht, erblindet.

wer schaut, verfällt dem Schwert.

Falsche Versöhnung streitet wider Gott.

Das ist eine Fälschung, ein nicht zu überbietender Frevel. Ernst Bertram, ErnstBertram, der Bonner „Bücherverbrenner“, Verleugner seiner Freunde – gegen den Karl Wolfskehl, KarlWolfskehl eine Empörung schrieb in Versen, die in wenigen Zeilen großmächtig sind (darum sage ich eine Empörung, nicht eine Dichtung).

Bertram, ErnstBertram war ein sich auch poetisch germanisierender Deutscher. Menschlich kann ich ihn nicht beurteilen, ich kenne ihn zu wenig, kenne seinen Mythos-Nietzsche, FriedrichNietzsche, seinen Briefwechsel mit Thomas Mann, ThomasMann, kleinere Studien über Kleist, Heinrich vonKleist, Stifter, AdalbertStifter, nicht als Dichter. In meiner Jugend, als ich Deutsch zu lesen begann, mit dem Verstehen aber nicht weit war, habe ich „Das Nornenbuch“ bei Nissim in Tel-Aviv gekauft. Die Ausgabe gefiel mir, der Einband, das Papier – Insel-Verlag 1925, stockfleckig. Der Titel nornig, raunig, mir unverständlich. Ich führte es heim, wie ein Geheimnis fürs Leben. Nun habe ichs zur Hand genommen, aufgeschlagen – bin auf die Abschrift eines frühen Gedichts von mir gestoßen, auf Firmenpapier des Rabbi Kook Instituts getippt, demnach war das Buch 1959 bereits in meinem Besitz, ich werde auch versucht haben, aus ihm Inspiration zu schöpfen. Davon findet sich bei mir (nun auch in der Erinnerung) keine Spur. Es sind mehr Gedichte von Bertram, ErnstBertram als Gedichte. Sie wiegen nicht schwer, wiegen nichts auf, sie sind gewichtig. Gebärde, Grimasse: „Er stirbt und sinnt noch immer: / Solch eine Rune steht ihr im Gesicht.“ (Hebbel, FriedrichHebbel, Die Nibelungen: Der gehörnte Siegfried)

Mehr Orakles denn Siegfried. Weizenhaar des Kindes, Blauaug des Mannes, eisiger Norden, männlich, mannmännlich

Er schwingt die Keule

Gegen die nordhoch

Fliehende Frau

Für Wolfskehl, KarlWolfskehl warʼs ein Rülpsen, er wird gewusst haben, was er sagt, er hatte das blinde Aug des Sehers. Dieses Wissen gilt jenseits der Gerechtigkeit. Es gibt eine strafende und sträfliche, eine sündhafte und sühnende, eine triumphierende und eine zerknirschte Dichtung, aber keine gerechte.

Das „Nornenbuch“ ist auch im poetischen Sinn nicht Bertram, ErnstBertrams wichtigstes Buch, viel bedeutender scheinen seine aphoristischen Dichtungen zu sein (ich kenne sie nur aus Spicker, FriedemannSpickers Wälzer*) und sein Nietzsche, FriedrichNietzsche**. Er hatte etwas zu sagen, immer auf einer Leiter stehend, hochgreifend, während seine Seele sümpfelte. Er war von Rang und hatte kein Niveau – so wie viele Nazigelehrte aus Kaiserzeiten. Er wusste, wo der Dichter wohnt (sagen wir, Stefan George, StefanGeorge), entschied sich aber für die Norne. Sein Auge streifte den Süden, die Stifter, AdalbertStifter-Forschung weist einige Bertram, ErnstBertram-Streifen auf.

Mit seiner Dichtung ist nicht viel zu wollen, manches hat in sich einen künstlichen, gestelzten Zauber, doch im Germanischen und Germanisierenden gab es eben Größere. Nichts zu wollen, aber – auf Wolfskehl, KarlWolfskehl hin – vielleicht doch etwas zu machen?

Das Nornenbuch lesend, die Olivenbäume im Hintergrund, kam mir der Gedanke, aus dem Nornenbuch eine „Antwort“ auf Wolfskehl, KarlWolfskehl, auf Vertreibung und Mord der Juden vorwegzugeben. Unter dem mich lange beschäftigenden Motto: „Mit dem Zitieren beginnt das Gegenwerk“.

Es gehört dazu die Frage, ob man in der Poesie Gott spielen – seine Worte in Bileams Mund legen dürfe, dem zum Fluchen Bestellten Segenssprüche auf die Zunge schmieren. Zitieren wir Bileam oder Gott? Ja, was zitieren wir überhaupt, wenn wir zitieren? Nicht alles, was uns entgegenkommt, steht uns zur Verfügung. Auch umgekehrt. Wir haben die Wahl, solange wir nicht gewählt haben.

Damit verbunden ist der große Fragenkomplex „Fälschung“; es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass mich diese Frage besonders in den letzten Büchern beschäftigt, beunruhigt wohl auch, weil ich Fälschung betreibe. Ich kann nichts unverändert lassen, Berühren heißt schon Verändern. Für mich ist alles Dichtung, und Dichtung – ein reißender, mitreißender Strom. Ich nenne es so, man kann es auch anders nennen, gut anders. Ich verlasse aber nie Boden und Himmel der Poesie, ich sage nicht Land, ich sehe nicht Land. Wie reagiert die Dichtung, wenn sie poetisch bleiben will, da alles Poetische verpönt ist? Ich will Zeitgenosse aller Zeiten sein – aber nicht „Zeitgenosse“. Ich muss viel experimentieren, abweichen, ausweichen, vornehmlich in diesem Sinn. Alles Deutsch-Jüdische, das ich für mein Teil mit „Treffpunkt Scheideweg“ erledigt zu haben meinte, ist nicht in allen möglichen Formen erledigt. Doch wollte ich nicht mehr gesagt haben. Also lasse ich andere sagen, wie Gott Bileam sagen ließ. Doch bin ich nicht Gott und will diese Rolle nicht spielen, nur vertreten, ja sogar verantworten: Ich lege kein Wort von mir in den Mund Bertram, ErnstBertrams – es sind alles seine Worte, von mir ausgesucht, zusammengebunden – und ihm wieder auf die Zunge gelegt.

Das alles sage ich jenseits des Gelingens, auch bleibt meine Intention nicht eindeutig.

Warum Bertram, ErnstBertram? Nicht nur der AnregungWolfskehl, Karl Wolfskehls folgend. „Treffpunkt Scheideweg“ war grundlegend, für mich selbst bahnbrechend. Zu den schwersten Aufgaben damals gehörte das Prüfen der Namen – auf Herz und Nieren. Den Boden der Poesie nie verlassend, musste ich mich, bei aller Poesie, der Geschichte stellen. Das tat ich zitatweise, die Zitate, an Namen gekettet, mussten gesichtvoll werden. So bekam ich die Gesichter zu sehen, viele Namen sind dabei hinfällig geworden. Manche Namen habe ich mir verbieten müssen (die Berühmten meide ich aus anderen Gründen). Kommen sie vor, hat sie die Not, habe nicht ich sie gerufen. Nun nehme ich mit den kommenden Büchern Abschied – wie es sein soll, nicht wie es sein muss. Mein Gefühl, das mit „Treffpunkt Scheideweg“ nicht erledigte, sagte mir – laut wurde es gegen Ende der „Olivenbäume“ –, dass ich den ausgeschlossenen Todfeind wieder einschließen müsste, sonst ginge meine Rechnung (Poesie und Leben in einem) nicht auf. Wieder geprüft, Rang und Schattierung in Rechnung gebracht, steht er nun in meinem letzten Buch, mit Namen: Gottfried Benn, GottfriedBenn, Ernst Bertram, ErnstBertram, Carl Schmitt, CarlSchmitt. „Falsche Versöhnung streitet wider Gott“, sagt Bertram, ErnstBertram, ich treibe keine falsche Versöhnung, aber ich besinne mich auf die Rolle des Todfeindes in meinem gelebten Leben, mit dem ich mich versöhnen soll.

Ich wollte Ihnen eine Ahnung vom Umkreis des bei mir Gedachten geben, ich habe wenig gesagt, mehr angedeutet, wir werden darüber weiter sprechen, jedenfalls Sie bei sich und ich bei mir.

Einiges davon sehen Sie klarer, wenn Sie das Buch bekommen haben, meine Methode geht über Bertram, ErnstBertram hinaus, sie betrifft z.B. auch Mombert, AlfredMombert, der am Anfang des Buches steht (hebräisch erstreckt sie sich über die Psalmen). Ich destilliere Gedichte auch aus nüchterner Prosa. Ich meine: Die Toten werden nie die Toten begraben, das tun die Lebenden, die den Tod auch feststellen müssen. Ich gehe suchend und lauschend über Leichenfelder.

Was ich Ihnen hier „verrate“, werden Forscher erst in Jahren herausfinden, nicht nur, weil Bequemlichkeit und blinder Glaube sie daran hinderten. Ja, wer wollte mir eine Unredlichkeit unterstellen. Doch jenseits von Moral und Rhetorik hat Poesie ihre bestimmte Unredlichkeit. Also gäbe es bei mir viel zu prüfen, zu vergleichen, zusammenzudenken und auseinanderzuhalten – dem Zitieren neue Dimensionen erschließend.

Zeilen zeugen gegen ihren Erzeuger, im gleichen, vertrauten, unverwechselbaren Ton, echt, nicht nachgeahmt – das Parodistische ausschließend, eine Willkür zum Vorschein bringend. Eine Grenze gebe ich zu: Mit Lebenden lässt sich das nicht machen, sie bleiben – und nicht nur urheberrechtlich – geschützt und unantastbar. So muss es sein, mit der Vergangenheit aber doch auch anders werden, sonst bleibt die Poesie um diese Möglichkeit verkürzt. Was bei mir steht, soll bei mir nicht stehen bleiben, es mache jeder daraus sein Bestes.

* Friedemann Spicker, FriedemannSpicker: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 320–328, 454–456

** Ernst Bertram, ErnstBertram: Nietzsche, FriedrichNietzsche. Versuch einer Mythologie. Berlin: Bondi 1918

Von Werner Helmich, WernerHelmich, 9. November 2011 Nr. 73

Also: Eine Überraschung war es schon für mich. Ich hatte beide Texte für (parodistische? da war ich mir nicht sicher) Rollenlyrik aus Ihrer Feder gehalten, ohne den Anlasstext zu kennen; nehmen Sie es als Bestätigung, dass Sie im zweiten den Ton des ersten, fremden getroffen haben. Dann habe ich erst einmal die Bileam-Erzählung* nachgelesen, um Ihre Bedenken überhaupt zu verstehen. Dann werde ich noch einmal „Treffpunkt Scheideweg“ lesen, um zu ahnen, wo Sie jetzt weitermachen. Das Verfahren ist gut und notwendig (für Sie und für die Schmachgeschichte der deutschen Literatur), aber: Wie hermetisch wollen Sie es halten? Wenn Sie Bertram, ErnstBertram, Mombert, AlfredMombert (und Wolfskehl, KarlWolfskehl) nur in Ihrem eigenen Zitatentext (einem Cento, so nennt man wohl in der älteren Tradition diese Form) durchklingen lassen, also ohne direktere Entschlüsselungshilfe, bin ich nicht sicher, dass die Germanistik je draufkommt – was aber auch nicht viel ausmacht: Der kluge Leser riecht da vielleicht etwas von einem zweiten Text, der darunter verborgen ist (Palimpsest sagt man heute gern metaphorisch), auch ohne ihn punktuell zu kennen. Andererseits, und das ist viel wichtiger: Soll denn des Bertram, ErnstBertram-Texts als solchen überhaupt gedacht werden? Da kommt eben alles darauf an, wieweit sich ein Zitate-Cento, ohne ein eigenes Wort einzufügen, selbst decouvriert. Spielen Sie weiter, mit allem Ernst, der dazugehört. Mehr Brosamen als diese Ermunterung habe ich nicht, brauchen Sie auch gar nicht.

* 4 MosesMoses 22–24

An Werner Helmich, WernerHelmich, 9. November 2011 Nr. 74

Ein Wort (mehr) zu Recht – kein Wort zuviel? Es ist ein quasi wissenschaftliches Buch, und dass es leicht verwirre, gehört zum Programm. Engen wir die Wissenschaft auch ein, wäre denkbar – für mich auch dankenswert, dass ein gediegener Germanist sich vor den Kopf gestoßen fühlte oder sich kundig machte. Wolfskehl, KarlWolfskehl trommelt auf Bertram, ErnstBertram herum, das ist nicht zu überhören, doch bleibt Bertram, ErnstBertram nicht stumm, was sagt er? Er sagt, was man nicht vermuten oder gar erwarten würde.

Das ist zu wenig, mag sein. In einem Werk, das auf Andeutungen gründet und der Winke voll ist, muss es genügen. Ich habe nichts zu sagen, ich stehe hinter meinem Wort, auch wenn es Bertram, ErnstBertram heißt. Einzig die Sprache und die Namen haben das Wort. Erklärungen stünden diesem Verständnis im Wege. Man wird sich Rat wissen oder gleichgültig daran vorbeigehen. Indes hatte Wolfskehl, KarlWolfskehl das Wort, das in meinem Olivenhain weder zum Sang noch zum Klang gekommen ist. Wolfskehl, KarlWolfskehl, ein sich ebenfalls stolz germanisierender Dichter, steht für den weitesten Weg: von Palästina – über Rom und Rhein – bis Neuseeland. Mir liegt der Prachtband, in Halbpergament, vor: „Älteste deutsche Dichtungen. Übersetzt und herausgegeben von Karl Wolfskehl, KarlWolfskehl und Friedrich von der Leyen, Friedrich von derLeyen. Im Insel Verlag Leipzig 1909“. Ich habe es für die „Sandkronen“ verwendet. Die Namen, dynamisch zu nehmen.

Nehmen Sie das Glatteis südlich, die Sonne bringt Vertrauen und Zuneigung an den Tag, etwas Spiel gehört ja auch dazu. Es ist nicht alles Bärenernst, nicht alles beerenstachlig.

An Werner Helmich, WernerHelmich, 23. November 2011 Nr. 75

Großen Gebärden „in eigener Sache“ misstrauend – bei Nicolás Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila wie bei mir, glaube ich nicht, dass seine Behauptung fruchten könnte: „Das Fragment umfasst mehr als das System“.

Es ist mehr Aufsicht denn Einsicht. Aber – dies meine Frage – ist mit „umfassen“ die richtige Bewegung übertragen? Das Fragment ist zwar kein Torso, doch sehe ich „es“ nicht mit ausgestreckten Armen, um-fassend. Umfassen, umfassend sein, ist gerade der Wunsch des „Systems“ (des Systematikers).

Von Werner Helmich, WernerHelmich, 28. November 2011 Nr. 76

Ich teile Ihre Bedenken bei „umfassen“, habe aber auch keine Lösung parat. „Intueri“ würde man im Lateinischen wohl sagen, das gehört zum Bildbereich des Schauens und der plötzlichen Einsicht, also mit einem Blick, punktuell das Wesentliche erfassen.

An Friedemann Spicker, FriedemannSpicker, 10. Februar 2013 Nr. 77

Ich freue mich, dass Ihr Günther, JoachimGünther-Aufsatz endlich erscheinen konnte,* ich habe ihn ja schon einmal gelesen, doch hätte ich ihn gern bei mir. Über alles, was in mir erwacht, wenn Sie „Günther, JoachimGünther“ sagen, sollte auch ich einmal schreiben. Manchmal empfinde ich etwas wie Liebe, und dabei gab es eine ziemliche Strecke von Abneigung zwischen uns; wir haben sie beide überwunden. Aber nach so vielen Jahre, nun selbst ein eher alter Mann, von Gefühlen zu sprechen, die auch noch schwer zu entwirren sind? Es lohnte sich dennoch, über das Nachwachsen eines verkannten Gefühls nachzusinnen.

Merkwürdig: Ähnlich ergeht es mir beim Stichwort „Hans Weigel, HansWeigel“**. Bei aller Sympathie, die uns augenblicklich verband, hatte ich seine Gegenwart als massiv und etwas grob empfunden, aber seit einigen Jahren erblüht mir seine Nähe, die ich erfolglos zu greifen versuche.

Sie sehen, was da alles erwacht – und alles ist noch nicht alles! Ungewollt kam ich auf beide Kritiker zu sprechen, die meine Anfänge gutherzig begrüßten. Es war übrigens Weigel, HansWeigel, der mich an Günther, JoachimGünther empfohlen hatte. In der Aphoristik tauchten Günther, JoachimGünther und ich fast gleichzeitig auf, waren eigentlich Rivalen, mir gegenüber hatte er sich als Kritiker und Gentleman bewährt. Neuerdings fiel mir sein Aphorismenband (mit Widmung) in die Hand, ich fragte mich, ob ich das wieder lesen soll, ich tat es nicht. Es wäre, sagte ich mir, ein Luxus, wenn ich darüber nicht auch gleich schreiben wollte. Und zum Schreiben will es nicht kommen, auch meine Aufzeichnungen legte ich beiseite. Keine Lust, sie fortzusetzen, die Arbeit macht mir Mühe, keine Liebesmühe.

* Vgl. Anm. zu Brief Nr. 66; Johann Siering (d.i. Joachim Günther, JoachimGünther): Rez. Benyoëtz, Einsätze. In: Neue Deutsche Hefte 22, 1975, S. 629–630; Rez. Benyoëtz, Eingeholt. In: Die Zeit, 6.4.1979, dann in: Neue Deutsche Hefte 26, 1979, S. 600–603

** Vgl. Vielzeitig, S. 279f., 298

An Jutta Czeguhn, JuttaCzeguhn, 24. Juni 2013 Nr. 78

Annette Kolb, AnnetteKolb hört nicht auf, mich zu begleiten und mir bedeutend zu sein – auch in ihrem unverwüstlichen Stil, der mir als Erinnerung über Jahrzehnte langsam auf der Zunge zergeht. „Torso“ hieß die erste Kolb, AnnetteKolb-Prosa, die ich zur Kenntnis und zu Herzen nahm – vor knapp 60 Jahren.* Diese Prosa bestimmte auch meinen Blick auf ihr Erscheinungsbild. Sie war nicht nur älter als alt, sie war urtümlich uralt. Auf dem alten Pergament ihres Gesichtes stand für mich ihre ätzende, muntere, schlagende, nicht handfeste Prosa. Bayerin durch und durch, Pariserin mehr und mehr, schrieb sie ihr Deutsch in vier Sprachen: Bayrisch, Französisch, Italienisch und nicht zuletzt Englisch. Das wäre vielleicht eine Basis für eine neue Betrachtung ihres Stils. Sie selbst war eine Metropole von Bekanntschaften und Erinnerungen, wir gingen durch sie wie durch Straßen, unterwegs klopften wir an vielen Türen, und alle öffneten sich.

Wie sie war? Mutig, kühn, abenteuerlich, rastlos, ungeduldig, aber täglich am Klavier, und bei guter Gelegenheit Karten auslegend. Waren meine Karten schlecht ausgefallen, lags an den Karten, sie mussten wieder gemischt werden. Sie lebte im Glauben und in schlechter Erinnerung ihrer Klosterschule. Ab und zu begleitete ich sie in die Kirche, sie sagte: Ich bin gläubig, aber nicht fromm. Meine Aphorismen über den Glauben hat sie beherzigt. Sie konnte gleichzeitig Dickschädel und Kindkopf sein. Wir waren oft, gern und lange zusammen, auch wenn sie zwischendurch einnickte. In einer ihrer Widmungen heißt es: „Dem wilden Hebräer von seiner christlichen Schwester“, mit „christlich“ meinte sie „sanft“ im Gegensatz zu „wild“. Aber die „christliche“ war mir recht, denn sanft war sie nicht, aber eine Schwester – durch dick und dünn.

Ich glaube nicht, dass ich von ihr das Wort „Heimat“ je hörte, mir ist, als hätte es zwischen uns auch keinen Erwähnungswert. Wir standen ganz in der Geschichte, deren letzte Phase eine unselige und unglückliche war. „Haimat“ [!] war in jenen Jahren noch Synonym für „Blut und Boden“, sie kam von Amerika nach Paris zurück, war stolz auf ihr Foto mit de Gaulle und mochte gern an das vereinte Europa denken.

Ob sie sich in München wohlgefühlt hatte? Das lässt sich mit Sicherheit nicht sagen, ein Mensch hohen Alters fühlt sich schon in seinen Tagen nicht glücklich. Sie kam nicht aus ganz freien Stücken zurück, sie lebte in einer gewissen Not, aus der ihr Joseph Breitbach, JosephBreitbach heraushelfen wollte und herausgeholfen hat. Sicher nicht er allein. Annette Kolb, AnnetteKolb hörte nie auf, von Sami Fischer, SamuelFischer als Mäzen zu sprechen. Die Verbindung zum Verlag blieb alle Jahre eng und warm – mit und ohne Veröffentlichungen. Händelstr. 1 in Bogenhausen war indes ihre letzte Adresse, und es war ihr klar, dass es auch ihre letzte Station sei. Damit sollte sie sich abfinden, das konnte sie nicht. Ob Heimat oder nicht – ihr Bruder Paul lebte in München und war da, gute Geschwister waren sie. Und dann das große Freundesnetz, die Ehrungen, die Sprache um die Ohren, war Deutsch doch der Sprachrest, der ihr für ein letztes Schreiben blieb. Ihre Handlungen, auch die launischen, waren immer charakteristisch, meistens charaktervoll. Es gab eben nur eine Annette Kolb, AnnetteKolb, und die, welche ich kannte, war die ihr Ähnlichste. Ich trauerte ihr lange nach, am Ende der Trauer lebt sie eben noch.

Annette Kolb, AnnetteKolb war um Ehrlichkeit bemüht, und ihre letzte Reise – nach Israel – bekam einen unehrlichen Anstrich, da man sie als Pilgerfahrt herausstellte, was sie nicht war. Ich weiß es nicht besser, aber genau, weil ich diese Reise für sie organisierte – gegen das (echte und falsche) Bangen einiger Freunde. Nicht alle, die hoch in die Jahre kommen, werden senil; Rücksicht ist immer geboten, Unehrlichkeit und Missbrauch nicht. Man wird nicht uralt, um sein Wort gebrochen zu bekommen. Annette Kolb, AnnetteKolbs letztes Wort, an mich geschrieben, lautete (München, 15. VII. 1967): „Dein Land ist schon mein Land geworden.“

* Annette Kolb, AnnetteKolb: Im Jahre 1905 beschrieb sie in der autobiografischen Erzählung „Torso“ ihre Begeisterung für Richard Wagner, RichardWagner. Die Hauptfigur Marie durchläuft, wie Annette Kolb, AnnetteKolb, eine verstörende Schulzeit im Klosterinternat.

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9783772001093
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