Kitabı oku: «Original Linzer Tortur», sayfa 2

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Isonzos Jurte stand auf einem fünf Hektar großen Augrundstück zwischen Traunmündung und Donau. Dieses Areal hatte sein früh verstorbener Vater, der durch eine Fleischhauerei reich geworden war, vor Jahrzehnten billig gekauft. Damals waren die Baumarten im Auwald – vorwiegend Pappeln und Weiden – wirtschaftlich uninteressant gewesen, ebenso wie der Wert eines Rückzugsgebietes für bedrohte Tierarten und die Bedeutung einer immobilienfreien Überschwemmungszone.

Nachdem er den Auwald und ein Zinshaus in Linz geerbt hatte, war Isonzo in die Mongolei gefahren und hatte so lange bei den Einheimischen gelebt und von ihnen gelernt, bis er eine Jurte selbst bauen konnte. Dann war er wieder zurückgekommen und hatte sich durch die Mitarbeit als Wildfütterer bei den hiesigen Jägern so beliebt und unentbehrlich gemacht, dass die nichts anderes als Ja sagen konnten, als er ihnen den Plan von der Aufstellung seiner Jurte vorlegte. Offiziell war die exotische Rundhütte ein transportables Futtermitteldepot für Rehe. Diese Funktion seines Bauwerks war das Bollwerk gegen den immer und überall drohenden Einfall von Beamtenhorden aus der Linzer Baubehörde, die den Hunnen und Hussiten an Abrisswut in nichts nachstanden.

»Moment«, rief Korab, als die Jurte schon in Sichtweite gekommen war, »mein Schuhband ist offen.«

Er kniete nieder und zwirbelte so langsam und ausführlich an den Bändern, als sollte er anstelle der Schlaufe eine Lotosblüte knüpfen. Um sich zu beruhigen, verdrängte er den Kraken und seine Truppe und klammerte sich an die Aura der Gegenstände in Isonzos rundem Heim. Das erdweiche Ocker und das krustige Blutrot der Nomadenteppiche, der kleine, mit feinen Ziselierarbeiten versehene Ofen, auf dem immer irgendein Fischeintopf vor sich hin köchelte, der gläserne Bücherkasten, der die Quintessenz von Isonzos papierenen Freunden enthielt, sowie die beiden einzigen Bilder an den Jurtenwänden. Auf einem war Dostojewski mit Ölfarben verewigt. Er stand in einem dunklen Keller, der sich in eine unüberschaubare Zahl von immer noch dunkler werdenden Abteilen verliert. Das zweite Bild war eine DIN-A3-Fotografie von Anna Politkowskaja. Auch sie war eine von Isonzos Heldinnen. Zwei Russen, zwei Seelen so tief wie der Baikalsee, unbeugsam und ohne Angst vor den großen Dämonen. Borgt mir etwas von eurem Drachentötermut, bat Korab im Stillen, erhob sich neu motiviert, ging noch die paar Schritte und trat endlich ein.

»Howdy, Pius«, hörte er jemanden sagen. Ein Cowboygruß. Wie sollte er diese transkontinentale Grußvariante beantworten? Wieder einmal stand ihm sein Vorausdenken so sehr im Weg, dass er sich für seinen Notgruß entschied: »Ahoi.«

Im Nachklang fand er diesen maritimen Ton gar nicht so unstimmig. Kuhbuben und Seebären. Grüne Weide und blaue Weite.

»Fein von dir, dass du dir Zeit nimmst für uns«, sagte ein fleischig-muskulöser Mittdreißiger, der entspannt auf den Teppichen lümmelte und auf dessen Kopf ein totgegrillter Oktopus lag, mit verkohlten Tentakeln, die über Schläfen, Nacken und Schultern hingen. Dreadlocks, hörte Korab seinen inneren Modefachmann flüstern, dessen Stimme von den vielen vergeblichen Beratungen ganz heiser geworden war, das sind Dreadlocks, kein toter Oktopus, du modischer Totalausfall.

»Ja«, antwortete Korab ausufernd. Es war nicht der Anblick des Kraken oder gar seine zwanglos freundliche Begrüßung, die Korab verwirrten. Es war auch nicht der erstaunlich normalhaarige, ein wenig dehydriert wirkende Seinfreund, der im Hintergrund der Jurte in seinem Laptop versunken war, als wäre der Bildschirm seine aufgeklappte Bauchhöhle. Es war Molly Müller. Diese Frau, diese junge Frau hatte Korabs innerem Teufelandiewandmaler mit ihrem Anblick glatt die Kehle durchgeschnitten. Nicht einmal ein kleines Röcheln war noch zu hören in der umfassenden Stille, die Korabs Staunen immer weiter in die Unendlichkeit dehnte. Molly Müller war nackt. Zumindest vom Nabel aufwärts. Mit gekreuzten Beinen saß sie auf einem der Teppiche, zwischen dem Kraken und Seinfreund, und bemalte ihre linke Brust mit Henna. Im Gegensatz zur Weichheit des feinen Pinsels waren ihre Brüste so hart und voluminös wie zwei mit Haut überzogene Sturzhelme für Hochgeschwindigkeitsschirennen. An der Spitze dieser mammagenen Haubitzen wirkten die Warzen wie zwei Zyklopenaugen, weil Molly feine Adern malte, die von einem dieser Augen weg ins Innere der milchschweren Berge führten. Aber das alles war noch harmlos verglichen mit dem eigentlichen visuellen Ereignis: Molly Müller trug einen kapitalen Nasenpflock und Ohrringe, die ihre Läppchen zu kleinen Lassos dehnten. Damit kannst du mindestens ein Kalb einfangen, sollten den Cowboys einmal die Schnüre ausgehen, kam endlich wieder eine halbwegs pragmatische Einflüsterung aus Korabs Innerem. Und außerdem, sinnierte sein innerer Prähistoriker weiter, freut sich jedes Pfahlbaudorf, sollte Molly einmal die Lust an ihrem Nasenpflock verlieren und ihn spenden wollen. Der Krake und Isonzo wechselten ein paar verständnisinnige Blicke, die Korabs beredtem Schweigen galten, während Molly weitermalte und Seinfreunds Finger wie Hagelschauer auf die Tastatur niedergingen.

»Wir haben da ein kleines Problem«, setzte der Krake frisch an, obwohl sich die Halbwertszeit von Korabs Staunen noch nicht einmal halbiert hatte, »bei dem wir deine Hilfe benötigen.«

Wobei, fragte sich Korab, kann eine Blattlaus drei ausgewachsene Nilpferde unterstützen?

»Wir brauchen dein Museum«, wurde der Krake konkreter. »Du hast da einen unauffälligen Zugang. Sollst was deponieren. Vorübergehend …«

»Was denn deponieren?«, brachte Korab eine Rückfrage zuwege.

»Bloß ein Bildchen«, antwortete der Krake. »Braucht aber perfekte Lagerbedingungen. Du weißt schon, richtige Luftfeuchtigkeit, staubfrei und immer schön gleichmäßig temperiert. Sowas hat’s nur im Museum.«

»Aber …«, begann Korab, wurde aber von Molly Müller unterbrochen, die mit ihrer Malarbeit innehielt und ihm plötzlich mit voller Aufmerksamkeit ins Gesicht sah.

»Soll ich dir’n Safd ausbrrressn?«, fragte Molly schneeflockenweich, mit flappenden Labiallauten, blubbernden Lippenwülstchen und Augen, die sich immer weiter vergrößerten, wie zwei über einem Bergrücken nebeneinander aufgehende Vollmondscheiben. Korabs Seele zerfloss in einem See voll heißem Kakao.

»Ich … na ja … was …«, stammelte er.

»Du gefällst mir«, sagte der Krake trocken, »bist ein Scherzkeks.«

»Museumsmäßig betrachtet bin ich sogar noch weniger«, ergänzte Korab, »ich bin sowas wie das letzte Segment vom Enddarm. Freiberuflicher Kunstvermittler. Ich hab’ zwar ein Kunstgeschichtestudium abgeschlossen und sogar eine Diss geschrieben, über Stahlskulpturen und die ästhetische Bedeutung von Rost, falls ihr es genau wissen wollt, aber das hilft mir überhaupt nichts. Ughde, das ist die Abkürzung für Unser geliebter Herr Direktor Ebner, der Oberboss des LinzMuseums, also Ughde, mein Herr und Gebieter, kennt noch nicht einmal meinen Namen. Kunstvermittler wie ich, die durch sein Museum schwirren, haben für ihn den gleichen Stellenwert wie die Bakterien, die durch seine Darmzotten wandern. Wir freien Mitarbeiter haben null hoch minus null Befugnisse. Ich kann nicht einfach den Direktor fragen, ob ich etwas in seinem Depot abstellen darf.«

»Du sollst auch niemanden fragen«, erklärte der Krake. »Stellst das Bild einfach unauffällig ins Eck, zwischen die anderen Bilder. Dort, wo garantiert kein Mensch nachschaut. Ist ja zeitlich beschränkt.«

Der fleischige Kopf des Kraken machte einen Schwenk Richtung Tisch. Beim Anblick der dort abgestellten schmalen, aber professionellen Klimakiste sprangen Korab die letztwöchigen Zeitungs-Schlagzeilen wie eine bösartige Affenbande vor den inneren Projektor: Wertvolles Schiele-Bild aus dem Lentos gestohlen. Professionelle Kunstdiebe stehlen Schieles Gemälde »Frau mit Katze«. Unersetzlicher Verlust für Linz. Profibande raubt den teuersten Schiele.

Korab räusperte sich. Dieses Bild, das da so ruhig und unsichtbar in seiner Holzverschalung lag, war mit grässlicher Wahrscheinlichkeit eine Ikone der Moderne. Eine der Ikonen. Unbezahlbar, einzigartig und von dubiosen Kunstsammlern sicherlich begehrt wie ein reifer Apfel von der Schwerkraft. Daran bestand für Korab kein Zweifel. Der bestand nur darin, ob er diesem Moment und den in diesem Moment auf ihn einstürmenden Ansprüchen gewachsen war.

Der Krake ist ein konsensualer Typ, hörte Korab Isonzo in Gedanken wiederholen. Es geht da nur um eine kleine Gefälligkeit. Eine winzige Zuarbeit. Natürlich hatte er es besser gewusst. Natürlich hatte sein Problemabwehrzentrum völlig zu Recht den Großalarm zeitgerecht ausgelöst. Und jetzt stand er da, mit den Zähnen im Mund, wie sein Großvater gerne formuliert hatte. Korab wäre sogar bereit gewesen, in ein Kanonenrohr zu steigen, nur um sich von hier wegzuschießen.

»Ich überlege …«, sagte Korab und erlebte einen Glücksfall, der viel zu ideal war, um real zu sein. Aus seiner rechten Hosentasche kam sein neuester Klingelton, das plätschrige Klatschen eines original ungarischen Wallerholzes, mit dem man laut Isonzo sogar die vorsichtigsten Welse aus ihren Unterwasserhöhlen locken konnte. Korab entschuldigte sich bei den Anwesenden, griff nach seinem Telefon und verließ die Jurte.

Im Freien marschierte er sofort Richtung Nordpol, bevor er sich mit seiner Detektivstimme meldete, die er deutlich rauer anlegte als seine Kunstvermittlerstimme. Er sprach seinen Namen sogar ein wenig unwillig aus, als hätte er einen Haufen anderer Fälle am Hals, die dringend nach einer Lösung verlangten.

»Guten Tag. Hier spricht Sarah Rabental«, erklärte ihm die Stimme einer vermutlich etwas älteren Frau. »Sind Sie der Detektiv aus der Zeitung?«

»Ja«, bestätigte Korab, »ich hab da ein kleines Inserat geschaltet.«

»Gut. Sehr gut. Ich habe nämlich ein dringendes Anliegen, Herr Detektiv. Meine Bekannte ist verschwunden. Jetzt brauche ich jemanden, der sie sucht.«

»Das ist sehr bedauerlich, aber da müssen Sie sich an die Polizei wenden«, versuchte Korab, die Affäre zu umschiffen. »Die hat ganz andere Möglichkeiten. Ich suche aus Prinzip keine Verschollenen. Verschollene waren entweder nur besoffen und liegen dann in irgendeiner Bar länger am Klo – und niemand will dafür etwas zahlen, wenn ich die heimbringe – oder sie sind tatsächlich verschollen und daher mit noch so viel Aufwand unauffindbar. Und für ergebnislose Recherchen zahlt auch niemand gern. Verschollene sind für einen Detektiv eine echt miese Mission.«

»Das verstehe ich schon«, antwortete Frau Rabental, »aber an die Polizei kann ich mich nicht wenden. Die soll meine Bekannte gar nicht finden.«

»Und warum?«, fragte Korab mit erhöhter Aufmerksamkeit.

»Weil sie unschuldig ist.«

»Woran?«

»Kommen Sie einfach zu mir, bitte«, forderte Frau Rabental, »dann erkläre ich Ihnen alles ausführlich.«

Korabs inneres Sparschwein machte ein paar heftige Grunzer. Seine letzte Fütterung lag ein gefühltes Jahrhundert zurück, irgendwann zu der Zeit, als Picasso sein erstes abstraktes Bild gemalt hatte.

»Falls ich zu Ihnen komme, Frau Rabental«, sagte Korab wenig enthusiastisch, »dann kostet dieser Besuch in jedem Fall einhundert Euro. Ohne Rechnung und bar auf die Hand und ohne neuerliche Aufforderung in genau dem Moment, wo ich bei Ihnen eintrete. Und unabhängig davon, was bei unserem Gespräch rauskommt. Nur wenn Sie damit einverstanden sind, schaue ich heute noch bei Ihnen vorbei.«

»Ich bin einverstanden«, sagte Frau Rabental, ohne zu zögern, »sehr sogar. Ich mag Menschen mit Prinzipien …«

Nachdem sie ihre Adresse durchgegeben hatte, legte Frau Rabental auf. Korabs Bewegungen zurück Richtung Jurte waren so zäh, als wäre der Auboden mit klebrigen, kurz vorgekauten Kaugummiklumpen gepflastert.

»Also …«, sagte Korab beim Eintreten, »es war echt nett mit euch, aber ich muss jetzt los. Ich hab einen neuen, extrem dringenden Auftrag … ja, und … also … genau, das Bild … was das betrifft, da rede ich heute noch mit unserem Archivar. Ohne den und seine Zustimmung geht gar nichts. Aber der ist ein Freund von mir, schwer in Ordnung, ein patentes, unkompliziertes Bürschchen …«

»Kann der auch das Maul halten?«, wollte der Krake wissen.

»Absolut«, bestätigte Korab.

Der Krake nickte nachdenklich, während Molly Müller gerade damit anfing, auch noch ihre rechte Brust zu bemalen. Mit einem Rundumnicken verabschiedete sich Korab von den Anwesenden.

»Und was ist mit Mampf?«, fragte Isonzo vorwurfsvoll. »Der Eintopf köchelt schon. Brachsen und Schleien werden uns freuen.«

»Heb mir was auf«, bat Korab, »ich komm irgendwann später wieder … aber jetzt muss ich wirklich los.«

Vor der Jurte atmete Korab tief durch. Hier war die Luft deutlich weniger mit Altlasten kontaminiert und frischer, trotz der omnipräsenten Bärlauchschwaden. Pro Kubikzentimeter schwirrten genug Sauerstoffatome herum, um Korabs Gedankenglut neu anzufachen. So viel stand fest: Frau Doktor Molly Müller war das unkomplizierteste weibliche Wesen, das ihm je begegnet war. Ihr Nacktsein war derart selbstverständlich gewesen, dass sie gar nicht unbekleidet gewirkt hatte. Im Gegenteil. In ihrer Gegenwart waren es eher die mit Gewand Behängten gewesen, die den Anschein erweckt hatten, als übertünchten sie mit Ihrem Bedeckungsfimmel irgendwelche gröberen Psychoprobleme. Aber was hatte Molly mit diesem ausgepressten Saft gemeint? In Isonzos Jurte gab es weder eine Presse noch irgendwelche Früchte.

Während er auauswärts schritt, spürte Korab, dass in dem Wort Molly ein konkreter Gegenstand enthalten war: der Lolly. Eine klebrig süße Tiefbohrschraube aus buntem Kringelzucker, die so weit durch Mund und Gurgel dringen konnte, bis man den eigenen Seelensee erreichte und an dessen Ende Gondwana, den Urkontinent. Dort stand er zusammen mit Molly, Hand in Hand, und sah voller Erstaunen, mit welchen Pflöcken, Ringen und Tätowierungen sie ihren restlichen Körper geschmückt hatte. Mit diesen Bildern im Kopf erreichte er den Rand der Au und stapfte hinüber in die Zivilisation. Ein besonders hybrider Linzer Stadtteil, die sogenannte Solar City, tauchte vor ihm auf und mit ihr die Ausläufer eines Straßenbahnnetzes, dessen Modernität ihm in diesem Moment so unglaubwürdig und trostlos erschien, als wäre er durch ein Wurmloch gefallen und in einer viel zu sauberen, unheimlich glatten, trostlosen und komplett unfruchtbaren Zukunft gelandet.

3

Ein grüner Teppich, gewoben aus unschuldigen Blättern und Blüten. Stärker als je zuvor sah Lotte das Bild in ihrer Erinnerung. Sie kauerte in ihrem Geheimversteck am Rande des Schulhofs. In der Geborgenheit hinter den Büschen war sie eine Fee mit übernatürlichen Kräften. Sie schloss die Augen, murmelte einen Zauberspruch und verwandelte ihre lautstark herumtollenden Mitschülerinnen in einen Vogelschwarm. Dann überlegte sie, wer im Schulhof bleiben durfte und wen sie nach Afrika schicken würde.

»Du unterschreibst das jetzt«, befahl eine herrische Stimme direkt auf der anderen Seite der grünen Wand, hinter der Lotte saß. Dorothea, durchfuhr es die unfreiwillige Lauscherin, während sie vor lauter Schreck noch tiefer in ihre Deckung sank. Dorothea war zwei Jahrgänge über ihr, aber mit Sicherheit eine der ersten, die sie ganz weit fortschicken würde. Die Silhouette der älteren Mitschülerin wirkte gespannt und unheilvoll, wie die Figur eines Boten, der eine üble Nachricht brachte.

»Aber warum? Er hat mir nichts getan«, widersetzte sich eine andere Mädchenstimme dem Befehl.

»Jetzt pass einmal gut auf, Klara Artner«, sagte Dorothea, jede Silbe straff betonend, »der Gruber muss weg. Er hat mir auf den Busen gegriffen. Ich hab gesagt, er soll aufhören, aber er hat nur dreckig gegrinst und mich weiter bedrängt. Wäre nicht zufällig jemand gekommen, dann hätte er mich vergewaltigt. Solange der Gruber an unserer Schule ist und hier weiter unterrichtet, kann das jeder von uns passieren. Also muss er weg. Und deswegen unterschreibst du das jetzt.«

»Aber das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Klara, »der Herr Gruber tut so was nicht. Er ist ein guter Lehrer. Er würde nie …«

»Halt endlich dein Maul«, unterbrach Dorothea den Einwand, »wer Volksschädlinge unterstützt, ist selber einer. Und wenn ich das melde, und das werde ich, dann kommst du auch weg. Zusammen mit deiner ganzen Familie. Möchtest du das?«

Das Gewicht dieser Frage erdrückte die Worte der Vernunft. Hinter der Hecke war es ruhig geworden. Lotte betete für Klara, wünschte ihr Widerstandskraft und rief sich ganz bestimmte Bilder in Erinnerung, als könnte sie damit die Situation doch noch zum Guten wenden. Den etwas korpulenten Dr. Gruber, wie er schwer atmend das Klassenzimmer betritt und lächelnd das Buch über die oberösterreichische Geschichte verteilt, das er selbst für seine Kinder geschrieben hat. Dr. Gruber als Fußballspieler, wie er in der schwarzen Ordenstracht nach dem mehlweißen Lederball tritt, angefeuert von einer Unzahl von Jugendlichen, die alle mehr in ihm sehen als einen bloßen Lehrer. Und schließlich seinen unvergesslichsten Satz: »Aus Waisenkindern werden hier weise Erwachsene, das verspreche ich euch.« Dr. Gruber, ihr väterlicher Mentor, hatte seine Versprechen immer gehalten. Und nie, niemals hätte er einem Schüler Schaden zugefügt.

Nach diesem Tag hatten die Dinge ihren Lauf genommen. Und es gab kein Wort in keiner Sprache, um die Ungerechtigkeit auch nur annähernd zu beschreiben, die ihrem verehrten Lehrer in weiterer Folge widerfahren war. Denn mit der großen, unfassbaren Leidensgeschichte Dr. Grubers hatte auch ein kleinerer Leidensweg begonnen, der, weil er viele Jahrzehnte dauerte, in Summe vielleicht nicht weniger schmerzvoll gewesen war. Allen Gefühlen voran war es die Ohnmacht, diese absolute Ohnmacht, die Lotte zeitlebens Tätern gegenüber verspürte. Dieses Gefühl, nichts tun zu können, war in sie hineingewachsen wie eine giftige Wurzel und hatte ihre Widerstandskraft gelähmt. Deshalb habe sie auch einen Täter geheiratet, hatte ihr die Psychologin erklärt, weil sie in der Beziehung zu ihm das Trauma der Ohnmacht wiederholen und überwinden wollte. Die Psychotante hatte allerdings nicht erwähnt, wie das gehen sollte, mit dem Täter fertigzuwerden, wenn man ein geborenes Opfer ist.

Jetzt, ganz am Ende ihres Lebens, nach mehr als siebzig Jahren der Erniedrigung, hatte sie vom Schicksal einen Trumpf in die Hand bekommen, den sie unter allen Umständen ausspielen musste. Dieses Spiel war furchtbar, weil sie keine Erfahrung damit hatte. Zu jedem Zug, zu jedem Schritt musste sie sich erst mühsam überwinden. Ernst hatte ihr wirklich leidgetan. Ihn zu betäuben, zu fesseln und mit Honig zu übergießen war ein Kraftakt gewesen, der sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geführt hatte. Aber nach ihrem Abgang aus der Villa war hinter den Wolkenfetzen aus Schuld und Selbstgeißelung auch ein Horizont sichtbar geworden, der eine freiere Landschaft in Aussicht stellte, auf der zu leben sich unbeschwerter und selbstbestimmter anfühlte.

Lotte Wagner stand im Wohnzimmer einer Gründerzeitvilla an der Linzer Landstraße, in der Nähe der Eingangstür. Ihr schräg gegenüber, hinter einem barocken Sekretär, thronte Dorothea Porofsky und erhob eine Stimme, die noch genauso herrisch klang wie vor mehr als siebzig Jahren, als sie Klara Artner und weitere drei Mitschülerinnen, lauter Mauerblümchen und Duckmäuschen, zu dieser unsäglichen Unterschrift gezwungen hatte.

»Und was willst du machen, wenn ich nicht kooperiere?«

»Herrn Doktor Gruber wurde im KZ Gusen in den Bauch geschossen«, sagte Lotte Wagner mit klarer und fester Stimme, »fünf Mal. Und dann hat man den Schwerstverletzten über Nacht in eine fensterlose, ungeheizte Baracke gesperrt. Damit er dort drinnen krepiert. Aber am nächsten Tag, als man seine Leiche entsorgen wollte, da hat Herr Gruber noch immer gelebt … stell dir das vor! Und stell dir auch vor, was er in diesen nächtlichen Stunden mitgemacht hat, während er mit zerschossenem Bauch auf seinen Tod gewartet hat! Und das alles wegen der Falschaussage von einigen Mädchen, die ihn eines Verbrechens bezichtig haben, das er nie begangen hat.«

»Diese Behauptung ist eine Lüge, dummdreist und unerheblich«, sagte Dorothea Porofsky. »Jeder Mensch bekommt den Tod, den er verdient.«

Lotte Wagner überging diese fragwürdige Feststellung.

»Weißt du, Dorothea, ich war mein ganzes Leben kleinmütig. Ich habe zu oft nachgegeben. Ich wurde zu oft enttäuscht. Das Nachgeben hat mich ausgelaugt und erschöpft. Und es hat nichts gebracht, gar nichts, außer einer fortschreitenden Selbstauslöschung. Jetzt will ich nur noch eins: dass Johann Gruber seliggesprochen wird. In all der Würde, die ihm kraft seines integren Lebens und seines furchtbaren und ungerechten Todes zusteht. Dafür werde ich alles tun, was in meiner Macht steht. Und du solltest das auch. Deine Erklärung ist von größter Bedeutung. Ich habe aufgeschrieben, was damals im Schulhof wirklich passiert ist. Und jetzt bitte ich dich, diesen Bericht zu unterschreiben. Dann werde ich ihn der Kommission vorlegen. Du kannst auch gerne deinen eigenen Bericht schreiben oder meinen ergänzen, wo es dir sinnvoll erscheint. Aber was ich unbedingt brauche, das ist deine Unterschrift. Schreib auf, wie es wirklich gewesen ist, und steck den Brief in das Kuvert, das ich dir schon vorbereitet habe.«

»Sonst was?«, insistierte die Porofsky. »Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet.«

»Sonst«, sagte Frau Wagner, »werde ich ein Dokument aus dem Nachlass von Pfarrer Gruber meinem Anwalt übergeben. Ein Dokument, das jahrelang verschwunden war. Es beweist, dass euer Immobilienbesitz illegal ist. Und dann werdet ihr dieses große, schöne Haus, das euer Großvater damals einer jüdischen Familie gestohlen hat, eben dieser Familie zurückgeben müssen. Ich habe hier eine kopierte Seite des Originals für dich vorbereitet. Schau es dir in Ruhe an.«

Frau Wagner legte das vorbereitete Schuldgeständnis und die Kopie des Gruberdokuments auf den Sekretär, zog sich dann aber wieder rasch zurück auf ihren alten Platz.

»Du bist komplett verrückt«, sagte Dorothea Porofsky, »du gehörst in eine Anstalt für geistige Krüppel.«

»Und noch etwas, Dorothea«, ließ sich Frau Wagner nicht mehr beirren, weil sie spürte, dass sie in dieser verbiesterten Wut, die in ihrer Gesprächspartnerin ungehemmt aufkochte, doppelt geschützt war, von der Wahrheit und vom Geist ihres verstorbenen Mentors, »mir persönlich ist an einer möglichen Restitution überhaupt nichts gelegen. Gar nichts. Mich interessiert das alles nicht mehr – Besitz, Geld und dieser Tanz ums Goldene Kalb. Mir geht es nur darum, dass Dr. Gruber Gerechtigkeit widerfährt. Unterschreibe, dass ihr damals Dr. Gruber verleumdet habt, und das Immobilen-Dokument wird nie vor die Augen eines Richters gelangen. Du hast die Wahl.«

»Das kann doch alles nicht dein Ernst sein«, sagte Porofsky. »Du kommst hier herein, nach so langer Zeit, und drohst mir mit Geschichten, die deiner wirren Fantasie entspringen? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich an derlei Humbug auch nur einen Gedanken verschwende. Für mich hat dieses Gespräch nie stattgefunden. Und jetzt verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken.«

»Ja«, bestätigte Lotte Wagner, »ich werde verschwinden, so wie wir alle. Aber vorher hast du noch ein wenig Zeit, um dein Gewissen zu erleichtern.«

»Geh endlich!«, rief Porofsky.

»Du hast genau eine Woche«, sagte Lotte, bevor sie sich umwandte und den Raum verließ.

Nachdem die schwere Eichentür ins Schloss gefallen war, griff Dorothea Porofsky zu ihrem Mobiltelefon, wählte eine Nummer und hielt sich nicht mit einer Begrüßungsfloskel auf.

»Komm sofort her«, befahl sie in einem Ton, durch den jeder Spielraum für den Anderen verschwunden war. Dieser Andere war es offensichtlich nicht gewohnt, derart angeherrscht zu werden. Dorothea Porofsky schnitt ihm das Wort ab, wiederholte ihren Befehl und fügte noch etwas an.

»Wenn du nicht in zehn Minuten vor dem Haus stehst, dann ist dein Porsche weg. Dann fährst du in Zukunft mit dem Waffenrad. Und ich mache keine Scherze. Also beweg deinen verweichlichten Arsch hierher.«

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