Kitabı oku: «Original Linzer Tortur», sayfa 4

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»Anita Ligula!«, rief Korab den Vor- und Nachnamen seiner besten Freundin und Lieblingskollegin, der Hauptkassierin des LinzMuseums und Königin des menschenleeren Foyers, während er über die gepflegte Schiebetürschwelle trat. »Lumen Gentium! Licht der Völker und Licht meines schattigen Daseins! Du Stern des Südens und letztes Stützrad am Vehikel meiner Moral! Du Sonne der Sinne, du Samen der Seele, du Salz der …«

Bevor Korab das Wort Ursuppe aussprechen konnte, unterbrach seine Gesprächspartnerin die kolossale Einleitung mit einem ebenso kolossalen Gebrüll: »Stopp! Klink dich wieder ein und komm zur Sache, Pius! Dein Vorschleim verätzt unsere frisch geputzte Halle! Hör auf mit den verdammten Floskeln und leg endlich die Fakten auf den Tisch! Namen, Zahlen, Schuhnummern und so weiter!«

»Doktor Johann Gruber«, begann Korab sachlich, während er an Anitas ausladenden Eckschreibtisch herantrat, sein Sudelbuch auspackte und auf seine Notizen schielte. »Er war ein oberösterreichischer Priester und wurde 1944 im KZ Gusen ermordet, und jetzt soll er seliggesprochen werden. Dieser Prozess ist einer gewissen Frau Wagner ein ganz besonderes Anliegen. Sie ist eine ehemalige Schülerin von Dr. Gruber. Nach fünfzig Jahren Ehe mit dem Waffenhändler Ernst Wagner hat sich Frau Wagner von ihm getrennt und ist untergetaucht. Jetzt, im Untergrund, treibt sie die Seligsprechung auf ihre Weise voran … was immer das heißen mag. Das Ungute aber ist: Ernst Wagner wurde entweder bei dieser Trennung oder kurz danach ermordet. Lotte Wagners Bekannte, eine gewisse Frau Sarah Rabental, hat mich engagiert, um Frau Wagner noch vor der Polizei zu finden. Ich soll von ihr Geld für ein Dokument Dr. Grubers entgegennehmen, das ein südamerikanischer Neffe Rabentals verhökern möchte. Dieses Dokument ist für beide Frauen von überragender Bedeutung. Für die eine, weil sie damit ein großes, ihrer Familie in der NS-Zeit enteignetes Zinshaus an der Landstraße zurückfordern kann, für die andere, weil das Dokument die Seligsprechung ihres Leitsterns Dr. Gruber enorm beschleunigen würde. Ende der Primärfakten.«

»So gefällt mir das. Kein zähes Herumgelaber«, sagte Anita, während sie wild auf ihrer Tastatur herumhackte. »Ich weiß doch, an dir ist ein Nachrichtensprecher verloren gegangen.«

»Bloß nicht«, wehrte Korab ab, »das ist einer der gefährlichsten Berufe der Welt. Denk an das Schicksal vom alten Belcredi. Das geht mir heute noch nahe. Der hat vor Urzeiten im ORF das Wetter angesagt. Und immer wenn es nicht ganz so schön geworden ist, wie von ihm verkündet, dann haben ihm die alten Frauen im Supermarkt aufgelauert.«

Anita sah kurz und skeptisch auf von ihrer Tabulatur.

»Großes Hundianereherenwort«, beschwor Korab seine Behauptung, »das ist eine Tatsache, das hat er selber erzählt. Und wenn er mit seinem Einkaufswagen um die Ecke gebogen ist, dann haben ihm die Omas als Strafe für die falsche Vorhersage ihre Regenschirme auf den Rücken gewuchtet. Der Mann hat Striemen wie ein alter Galeerensträfling.«

»Und das hat er von seiner eigenen Leber weg erzählt?«, fragte Anita.

»Aber frisch und froh«, sagte Korab, »anlässlich eines Interviews kurz vor seiner Pensionierung.«

»Jaja, unterschätze nie die alten Frauen«, schmunzelte Anita, »und was ist mit den jungen? Was tut sich bei dir und Julia Hofer?«

»Pattstellung.«

»Hui«, frohlockte Anita, »die kenn ich ja noch gar nicht. Wie muss man sich die vorstellen?«

»Ich war mit Julia im Kino bei einem Tolkien-Revival«, überging Korab den kamasutrischen Hintergrund der Anspielung und trat ein paar Schritte vom Schreibtisch zurück, wo Anita thronte wie Leutnant Uhura im Raumschiff Enterprise.

»… wir sitzen also in der Mitte, so zehnte Reihe von zwanzig und um uns gut und gerne zweihundert Leute. Und auf der Leinwand werden Orks abgeschlachtet, so ratzfatz, weil die ja aussehen wie Atommutanten und deshalb überhaupt kein Mitleid verdienen, aber irgendwann zwischendurch kommt auch einer von den Guten dran … also ein Zwergenkönig, ein Guter aus dem zweiten Glied sozusagen … und alle anderen Zwerge scharen sich um den Sterbenden und knien nieder, und nach und nach knien auch die großen Hauptdarsteller nieder, und wie dann irgendwann alle knien und erhaben blicken, also da wird es mir zu bunt und ich rutsche aus dem Sitz und knie mitten im Kino auch nieder, so ungefähr …«

Vor Anitas interessierten Augen sank Korab inmitten des menschenleeren Museumsfoyers auf den Teppich, ließ den linken Arm sinken, legte den rechten auf die Brust und begann mit ein paar ausladenden, weihevoll grüßenden Gesten.

»Und wie ich da so knie und dem sterbenden Königszwerg meine Referenz erweise, drehen sich ungefähr hundert Kinobesucherhälse in meine Richtung, vor allem die, die hinter uns sitzen. Und alle schauen mich mit großen Augen und irgendwie ratlos an, weil ihnen die Aktion nicht geheuer ist. Aber egal. Was dann kommt, ist noch viel trauriger. Statt mit mir zu knien oder wenigstens zu schmunzeln, bleibt Julia mental irgendwie bei den anderen … sie sinkt immer tiefer in ihren Sitz, so nach dem Motto: Ich kenne den Typen eigentlich nicht wirklich, ich sitz’ nur zufällig in seiner Nähe …«

In diesem Moment sah Korab die drei Schatten. Als er schärfer stellte, erkannte er Ughde, unseren geliebten Herrn Direktor Ebner, den Chef des LinzMuseums, der plötzlich in einer Nische stand und zusammen mit zwei anderen, sehr ernst gekleideten und noch ernster blickenden Männern zu ihm herübersah. Ughde fragte nicht: »Was tun Sie hier?!« Dann hätte Korab sich erklären und von einer theatralischen Demonstration für Frau Ligula sprechen können. Diese Chance ergab sich aber nicht. Ughde stand stumm wie ein mittelalterliches Katapult und schleuderte mindestens zwei von seinen berühmten vielsagenden Blicken, die wie zehn Tonnen schwere Geschoße durch die Luft sausen und den Selbstwert des Betreffenden zu Fall bringen, sodass dieser die atomare Struktur ändert und zu Staub zerbröselt. Schließlich setzte sich Ughde kommentarlos in Bewegung. Die beiden Totengräber folgten ihm ebenso wortleer, und das frostige Grüppchen verschwand im Aufzug.

»Scheibe«, jammerte Korab, »jetzt bin ich mit der Aktion zum zweiten Mal eingefahren.«

Anstatt sich aufzurappeln, gab er sich nun ganz der Schwerkraft hin. Er sank auf den Foyerteppich, der trotz neulich erfolgter Reinigung die unauslöschlichen Spuren von Menschengrüppchen trug, die bei Regen und Matsch ins LiMu marschiert waren, nicht um sich eine Ausstellung anzusehen, sondern um hier vor dem Wetter Zuflucht zu finden.

»Vielleicht solltest du diese Nummer noch ein wenig überarbeiten«, schlug Anita vor.

»Heraklit hat gesagt, du kannst nicht zweimal in denselben Fluss steigen«, sinnierte Korab und starrte dabei auf die Foyerdecke, die sich wie ein trost- und sternenloses Himmelsgewölbe über ihm aufspannte, »aber es gibt Menschen, die können zweimal in denselben Fettnapf steigen. Und wenn du erkennst, dass du zu diesen Menschen gehörst, dann ist das ein denkwürdiger Moment … wer waren übrigens die Spaßvögel an Ughdes Seite?«

»Rechnungsprüfer«, sagte Anita.

»Und welche Rechnungen prüfen die?«

»Meine«, antwortete Anita, »mein Ex-Mann Günther hat mich angezeigt und behauptet, ich unterschlage Eintrittsgelder.«

»Wie bitte? Er hat was getan?«, rief Korab. »Aber der Ughde kann dem Günther so etwas doch nicht geglaubt haben? Sogar der Ughde muss nach zwei Sätzen erkennen, dass der Günther ein besonders durchgeknallter, dummdreister und fieser Stalker ist.«

»Darum geht’s nicht, Pius. Der Ughde muss jedem Hinweis nachgehen … irgendwie funktioniert das Anpatzen anderer immer … Du hast doch bestimmt auch die Nacktfotos von mir bekommen, oder?«

Korab wandte seinen Blick von Anita ab und zögerte. Schließlich hatte er eine Antwort gefunden. »Ja, schon … aber ich hab sie sofort verbrannt.«

»Siehst du, es nützt nichts. Er wird mir wieder und wieder und wieder schaden, solange bis ich nicht mehr kann …«, sagte Anita und fing an zu weinen. Dieses große starke Muttertier, das eine ganze Herde sicher und behütet auf die steilste Alm führen konnte, sank plötzlich in sich zusammen.

Korab sprang sofort hinter das Kassenpult, umarmte seine Assistentin und sagte dabei: »Nein, das wird er nicht mehr. Ich kümmere mich darum, glaub mir.«

»Das ist aussichtslos, Pius«, schniefte Anita. Sie löste sich aus seiner Umarmung, rollte an eine Schublade heran, öffnete sie, zog ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich.

»Hast du ein Foto von ihm?«, fragte Korab.

»Von wem?«

»Von Günther.«

»Sicher …«

»Kann ich es haben?«

»Ja … aber, warum?«

»Ich habe gerade einen Mediator kennengelernt«, sagte Korab. »Der ist wirklich gut und kann vielleicht vermitteln.«

»Und was würde das kosten?«, erkundigte sich Anita.

»Gar nichts«, sagte Korab, »weil ich noch was gut habe bei ihm.«

Mit diesem Satz waren Korab zwei Dinge klar geworden. Erstens: Er hatte keine Wahl mehr. Er musste den Schiele des Kraken unter diesen neuen Umständen auf jeden Fall im Museum deponieren, auch wenn, was wenig wahrscheinlich war, sein Freund und Archivar Hinrich Mayr alias Hinrichtung Nein sagen sollte. Und zweitens: Er musste – ebenfalls unter allen Umständen – vermeiden, dass Anita von der Anwesenheit des Bildes erfuhr. Sie steckte schon in mehr als genug Nervenklemmen, die ihr unermüdlich Lebensenergie absaugten. Jede zusätzliche Belastung war unbedingt zu vermeiden.

Zum Glück stellte Anita keine weiteren Fragen, tippte etwas herum und druckte schließlich ein Porträtfoto von Günther aus. Als er das Blatt in Empfang nahm und sich den Porträtierten ansah, musste sich Korab erneut zurückhalten. Der Typ sah aus wie eine Mischung aus Dschingis Khan, Frankensteins Monster und einem Bombenkrater. Dabei war das noch eine gute Aufnahme Günthers, in einem Stadium, wo er noch halbwegs bei Sinnen war. Korab fragte sich einmal mehr, was an diesem Typen so anziehend gewesen war, dass eine derart feinfühlige, witzige und herbfrische Frau wie Anita etwas an ihm finden konnte. Einfach unfassbar.

»Kannst du mir bitte noch seine Adresse hintendrauf schreiben?«, bat Korab und gab das Blatt zurück.

»Wieso willst du Günthers Adresse auf deinem Arsch?«

»Uff«, atmete Korab auf. »Anita Ligula Major zurück im Ring.«

Die Angesprochene lächelte wieder ein wenig, verschmitzt sowie verschmutzt durch einen langsam verblassenden Tränenschleier. Korab hätte seine große Wahlschwester am liebsten ein zweites Mal umarmt, enthielt sich aber, weil die meisten Leute bei zweiten Umarmungen dazu neigten, sie falsch auszulegen.

Hinrichtung, der eigentlich Hinrich Mayr hieß und seinen martialischen Spitznamen einem besonders pfiffigen Museums-Praktikanten verdankte, kaute an einem winzigen Kaugummiklümpchen und erschien Korab vom Coolheitsgrad auf einer Höhe mit Lucky Luke. Beide konnten schneller ziehen als ihr Schatten. Lucky Luke seinen Colt und Hinrichtung seine selbstgewuzelten Zigaretten, die mit dem Begriff Lungenkiller noch unterbestimmt waren.

»Wann bringst du es denn?«, fragte Hinrichtung lapidar, nachdem Korab seine Grundsituation bild- und gestenreich dargestellt hatte. Es ging um die Kritik der reinen Möglichkeit, sozusagen neokantianisch, hier das Depot, da das Bild einer noch lose befreundeten Künstlerin. Sehr persönliche Sache sozusagen, geschenkmäßig irgendwie. Im Wohnwagen klarerweise noch kein Platz zum Aufhängen. Daher LiMu, Depot und dessen Meister als letzte Rettung. Aber Kürzestdauer. Quasi lidschlagmäßig. Platzbeschaffung voll angelaufen. Hängungsprobleme theoretisch gelöst. Praktisch eine Sache einiger weniger Halbtage.

»Wann immer du da bist«, antwortete Korab unscharf und devot angesichts der ihn plagenden Furcht, sein Gegenüber könnte vielleicht zum gegebenen Zeitpunkt doch schwach werden und rein interessehalber den Deckel der Klimakiste öffnen und das ganze Ausmaß der Bescherung erkennen.

»Passt«, sagte Hinrichtung, »noch einmal von vorne. Das Bild und du, Pius. Wann kommt ihr zwei Hübschen zu mir?«

»Gleich morgen in der Früh, wenn’s dir passt?«

»Mir passt’s immer.«

»Gut. Dann kommen wir morgen.«

»… bin da.«

»Acht Uhr?«

»Okay.«

»Könnte auch eine Minute später sein. Oder sogar früher.«

»Macht nichts.«

»Super. Danke.«

Drei Minuten und siebenunddreißig Sekunden später saß Korab im abhörsichersten Vernehmungszimmer des LiMu, im Männer-WC des ersten Stocks. Auf dem geschlossenen Klodeckel wippend hatte er dem Kraken im Stenostil mitgeteilt, dass für das Bild Platz war im Museumsdepot, und ihn noch im selben Atemzug um seine Fähigkeiten als Mediator gebeten.

»Kein Problem«, sagte der Krake, »gib mir das Foto und die Adresse und ich schau mal, was sich machen lässt.«

»Danke«, sagte Korab, »vielen Dank.«

»Das verkürzt die Zeit in der Warteschleife«, überging der Krake Korabs Danksagung.

Korab fragte nicht nach, worauf der Krake wartete. Es lag auf der Hand, dass es um ein gewaltiges Lösegeld ging, das der Krake und seine Truppe vom Lentos-Museum für die Rückgabe des Schieles fordern würden. Ein fett glänzender Ledersack voller Golddukaten geisterte durch Korabs Innenwelt. Bis der eintrifft, kam noch ein Begleitton aus dem Off, wachen Hinrichtung, Anita und ich über das Wohlergehen des Bildes. Wir bringen das ganze Museum in Gefahr. Wir sind jetzt eine verdammte Hehlerhöhle, spezialisiert auf die Einverleibung von Kunstwerken, die aus benachbarten Museen gestohlen wurden. Was würde Ughde sagen, wenn er in der Zeitung die Schlagzeile las: Direktor des LinzMuseums versteckt gestohlenen Schiele im Depot? Korab sah sich mit Anita und Hinrichtung aus dem Museum gehen. Geduckt und schlurfend mit Fuß- und Handfesseln und Sträflingsgewändern, während vier bodygebildete Wärter Ughde trugen, der sich in einer Zwangsjacke wand, Korabs Namen wie einen Fluch plärrte und dabei Spucke spie und rasend mit den Augen rollte. Der Krake war ein Teufel, und er, Korab, hatte einen Pakt mit ihm geschlossen. Paktpunkt eins war der schlimmste: dass die Arbeitsplätze seiner Freunde wackelten wie die Zahnstümpfe im Maul einer Mumie, der ein durchgeknallter Archäologe mit dem Eisenhammer hemmungslos auf den Hinterkopf schlug.

Wenn er seinen freien Dienstvertrag im LiMu verlor, dachte Korab, dann ging nur eine seiner Welten unter. Aber für Hinrichtung und Anita war das LiMu der Hauptarbeitgeber. Und dem, personifiziert durch Ughde, legten der Krake und er ein Drachenei in den Bauch, das, wenn es von unbefugten Augen ausgebrütet wurde, die Bude in die Luft sprengen würde. Wenn das alles gut geht, schwor sich Korab, dann spendiere ich Mooser zwei Packungen Eiswafferl.

»Wie geht’s dir, Hasenfuß?«, fragte eine weibliche Stimme, die so weiblich war wie die Innenseite einer reifen Papaya. Korab kam wieder zu sich und bemerkte, dass er das iPhone noch immer an sein Ohr hielt. Er war ein alter Fernseher mit nur zwei Programmen. Jemand hatte den Kraken ausgeschaltet und den anderen Sender zugeschaltet. Auf dem lief Mollys Lolly, eine Art Dschungeldokumentation mit märchenhaften Elementen. Die Hauptrolle spielte eine junge Frau, die zu schön war, um wahr zu sein, und deshalb virtuell blieb.

»Stressig«, sagte Korab endlich.

»Das kommt vom vielen Flüchten und Laufen«, erklärte Molly sanft und ruhig.

»… und zu viel Kamillenteesaufen«, hörte Korab Isonzo aus dem Hintergrund. Offensichtlich saßen sein Freund, Molly, der Krake und Seinfreund noch immer in der Jurte.

»Deine Schwester ist sehr besorgt um dich und lässt schon wieder nachfragen«, fuhr Molly milde fort, »wann du zum Essen kommst.«

Als seine Schwester hatte Isonzo noch niemand bezeichnet. Blutsbruder wäre richtig gewesen. Wahrscheinlich waren in Mollys Kosmos alle Wesen weiblich.

»Morgen«, antwortete Korab ausweichend, »allerfrühestens im Lauf des Tages irgendwann. Heute geht leider nicht mehr. Ich muss Anita helfen. Wir haben einen neuen, sehr komplexen Fall und müssen jetzt recherchieren. So wie du bei den Papuas.«

»Was weißt du von mir und den Papuas?«, erkundigte sich Doktor Müller belustigt, ohne dass sich die Frequenz ihres Herzschlags auch nur um ein Millimolly erhöht hätte.

»Nichts Genaueres«, gab Korab zu, »aber Isonzo hat da was angedeutet.«

»Was denn?«

Dass der Ozean dein Fruchtwasser ist, dachte Korab und sagte: »Allgemeines … dass du dort deine Dissertation geschrieben hast. Aber nichts Konkretes.«

»Würdest du denn gerne was Näheres erfahren?«

»Na ja … schon … wenn das ginge.«

»Das ginge echt easy«, bestätigte Molly, »aber nicht am Hallofon.«

»Wir sehen uns ja hoffentlich wieder einmal.«

»Sehr hoffentlich sogar«, zog Molly die Schraube an, »da freu ich mich drauf.«

Nachdem er aufgelegt hatte, war sich Korab nicht sicher, ob diese Freude auch seinerseits war. Ganz bestimmt wusste er nur, dass die Geilheit mit ihm war. Aber der Preis, um diese auszuleben, erschien ihm relativ hoch. Molly war ein Eingeborenentempel. Als Gegengabe für die Himmelfahrt würde sie sein Herz aus der Brusthöhle reißen und es irgendeinem Xeptocotltschebotl in den Rachen werfen. Molly Müller war kein Fels in der Brandung, sie war die Erde selbst, auf der Felsen und Brandungen aufeinanderschlugen. Molly war der Acker und er ein Distelsamen, kurz davor hinunterzufallen in die Furche. Wilde Bilder frästen tiefe Schnitte in sein Hirnholz. Steh auf und geh hinunter zu Anita, sagte er sich, und fang an zu recherchieren.

6

Unter den gegebenen Umständen war Dorothea Porofsky mit den bisherigen Ergebnissen zufrieden. Sie hatte Timo, ihren unsäglichen Enkel, diesen Kretin, schon halbwegs vom Ernst der Lage überzeugt. Und was noch wesentlich wichtiger war: Sie hatte die Spur der irren Wagner wieder aufgenommen. Genau an dem Ort, wo sie es erwartet hatte: in der Kursana-Residenz. Dort saß die einzige noch lebende Mitverschwörerin von damals, Klara Artner, ihren Lebensrest ab. Wie gut, dass Porofsky sie im Auge behalten hatte.

Die alte Artner, dieses ewig ängstliche Opfertier, hatte ihr am Telefon erzählt, nach einem zugegeben donnernden Moment der Überraschung und des Schreckens, dass sich Wagner zu einem nachmittäglichen Besuch bei ihr angesagt hatte.

Natürlich hatte Porofsky diesen Schritt erwartet und Artner sofort an ihre Jahrzehnte alte Abmachung erinnert, unter keinen Umständen irgendetwas zu unterschreiben, was die Sache Gruber betraf. Täte sie das, müsste sie auf der Stelle aus dem Heim ausziehen und ins Gefängnis übersiedeln. Mord verjährt nicht! Und sie war eine der Anstifterinnen, deren Verleumdung zu Dr. Grubers Ermordung geführt hatte. Artners uralte Angst war sofort wieder mit aller Wucht aufgebrochen. Die meisten Menschen blieben ein Leben lang manipulierbar, sagte sich Porofsky und gönnte sich einen Moment des nachhallenden Triumphes. Sie saß neben Timo in seinem Porsche, den er ihr verdankte, und blickte abwechselnd hinüber zum Eingang des Luxusaltersheims und auf Timo, der das Teleobjektiv auf seiner Kamera justierte.

»Sobald die Wagner rauskommt«, sagte Porofsky, »machst du Fotos von ihr.«

»Das hab ich schon kapiert«, sagte Timo. Er klang ärgerlich. Schon seit sie hier angekommen waren, hatte ihn seine Großmutter mit diesem Befehl genervt.

»Und dann folgst du ihr«, überging Dorothea Porofsky die Unmutsäußerung, »unauffällig, wenn das mit diesem Wagen überhaupt möglich ist.«

»Ich bin ja kein Volltrottel«, verteidigte sich Timo.

»Was du noch nie beweisen hast müssen«, ergänzte seine Großmutter kühl.

»Sag einmal, spinnst du schon komplett?«, brauste Timo auf. »Was ist denn los mit dir? Zuerst kann ich gar nicht schnell genug bei dir sein und jetzt beleidigst du mich in einer Tour? Du hältst mich für zu blöd, dass ich eine alte Schachtel fotografiere und sie verfolge. Warum?«

»Du hast noch immer nicht kapiert, was auf dem Spiel steht.«

»Dann erklär’s mir – bitte!«

»Wenn du dein parasitäres Leben in dieser Form auch nur halbwegs weiterführen willst, dann müssen wir diese Alte stoppen. Wir müssen herausfinden, wo sie haust. Der Fortbestand unseres Vermögens und unseres Familienbesitzes ist in Gefahr.«

Timo schnaubte, versagte sich aber eine Reaktion. Seine Großmutter hielt das Heft in der Hand.

»Und jetzt die ausführliche Fassung: Unser Zinshaus, dem wir alle unsere sorgenfreie Existenz verdanken, hat vor gar nicht so langer Zeit einer jüdischen Familie gehört. Dein Urgroßvater, Gott habe ihn selig, war bei dieser Familie Rabental als Hausmeister angestellt. Als die Zeiten für das jüdische Volk schwieriger wurden, hat ihm Herr Ariel Rabental das Haus zu einem günstigen Preis verkauft. Als Dank für seine Treue und seine redlichen, langjährigen Dienste. Gleich danach hat man diese Familie, die Eltern und zwei Töchter, abgeholt und nach Mauthausen deportiert. Aber ein gewisser Johann Gruber, ein geldgeiler, katholischer Priester, ein Schullehrer und selbsternannter Historiker, hat schon damals behauptet, dass ihn die jüdische Familie vor ihrer Deportation aufgesucht hätte, um ihm anzuvertrauen, dass das Zinshaus nicht freiwillig an meinen Vater abgetreten wurde. Das war natürlich ein typischer Schachzug dieser verfluchten Judenbrut. Zum Glück war dieser Priester in der damaligen politischen Landschaft schon schlecht angeschrieben. Er war bekannt als Judenversteher und, mindestens ebenso schlimm: Er hat sich uns jungen Mädchen unsittlich genähert. Das haben ich und ein paar andere Mädchen aus der Klasse beim Direktor unserer Schule zu Protokoll gegeben. Daraufhin wurde dieser Johann Gruber vom Unterricht weg verhaftet und nach Gusen ins KZ verfrachtet, wo er auch gestorben ist. Und jetzt plötzlich kommt diese alte Irre anmarschiert, die auch eine Gruberschülerin war, und behauptet, ich und die anderen Mädchen hätten gelogen und dieser Priester hätte die Wahrheit gesagt.«

»Und warum hat sie damit so lange gewartet?«, fragte Timo.

»Weil jetzt in irgendeinem Nachlass ein Dokument von diesem Gruber aufgetaucht ist, das ihre Aussagen angeblich beweist. Und falls dieses Dokument tatsächlich existiert, dann könnte sie uns damit dein Erbe streitig machen.«

»Und wo ist dieses Dokument?«, wollte Timo wissen.

»Das ist genau die Frage«, sagte seine Großmutter, »weshalb wir beide jetzt hier sitzen. Wir müssen herausbekommen, wo sie wohnt. Dann sehen wir weiter.«

»Aber was sie behauptet, stimmt doch nicht, oder?«

»Natürlich nicht«, sagte Porofsky, »aber in politisch verworrenen Zeiten wie diesen führen auch bloße Behauptungen zu Untersuchungen, die höchst unangenehm werden können. Auch wenn wir viele von diesen Ratten ausgerottet haben, gibt es immer noch genug, die plötzlich aus irgendwelchen Löchern kriechen und Besitzansprüche geltend machen, die in so politisch überkorrekten Zeiten wie den unseren leider geprüft werden. Und damit das unter keinen Umständen passiert, müssen wir dieses verfluchte Miststück stoppen!«

»Was meinst du mit stoppen?«, fragte Timo.

»Das lass meine Sorge sein …«

Mit einiger Genugtuung registrierte die alte Frau, dass sie ihren Enkel in einer Tiefenschicht getroffen hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass etwas von ihr Gesagtes Bedeutung gewann in einer Welt, die sich abgesehen von einem starken, einseitigen finanziellen Band längst von ihren Vorstellungen entkoppelt hatte. Werten, die ihr hoch und heilig waren, Familie, Rassenreinheit, Besitz, stand dieser Schwächling gleichgültig gegenüber. Solange er seinen Porsche fuhr und sich eine Identität als Naturfotograf suggerierte, war er mit seiner kleinen Welt zufrieden. Dass sein Vater Gert im Gefängnis saß, weil er die Fackel hochgehalten hatte, das hatte dieser Weichling schon nach der ersten Woche verdrängt. Wie konnte ein Apfel nur so weit vom Stamm fallen? Immerhin, wenn sein Besitz in Frage stand, fing sogar dieser faule Apfel an zu rollen. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. Und vielleicht würde diese unsägliche Angelegenheit dazu beitragen, aus Timo einen ähnlich wehrhaften, tatkräftigen Mann zu machen wie seinen Vater.

»Das könnte sie sein«, sagte Timo und zeigte hinüber auf die Figur einer alten, kleinen Frau, die soeben durch die elektrische Schiebetür der Altersresidenz ins Freie trat.

»Ja, das ist sie«, bestätigte Dorothea Porofsky mit einem sardonischen Grinser, »drück ab.«

»Was glaubst du, was ich hier tue?«, fragte Timo. »Die Fotos werden spitze.«

»Und jetzt fahr ihr nach«, befahl seine Großmutter, »aber immer schön vorsichtig.«

»Du nervst sowas von«, jammerte ihr Enkel.

»Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«

Frau Wagner überquerte die Straßenbahnschienen und bog ein in die Sonnensteinstraße.

»Sie geht zum Busbahnhof«, sagte Timo.

»Dann nichts wie hin«, sagte seine Großmutter.

Am Bahnhof angekommen stieg die alte Frau in einen Bus Richtung Steyr. Timo folgte dem Fahrzeug in wechselnden Abständen, sodass seine Großmutter keinen Grund hatte, sich über mangelnde Vorsicht zu beschweren.

Unsäglich waren nur die vielen Zwischenstopps, die dieser Pemperlbus an allen möglichen und unmöglichen Haltestellen diverser Schweinsnester einlegte. Als er über die erste größere Hügelkuppe nach Linz hinausgefahren war und den kleinen Ort St. Hippolyt erreichte, berühmt für eines der größten Barockstifte Europas, stieg Frau Wagner aus. Sie bemerkte weder den roten Porsche, der keine hundert Meter von der Haltestelle entfernt an einer Bordsteinkante lauerte wie ein geducktes sprungbereites Raubtier, noch dessen Insassen, die jeden einzelnen ihrer Schritte aufmerksam verfolgten.

»Steig aus und geh ihr nach!«, befahl Frau Porofsky.

Der Enkel tat, wie ihm geheißen, und folgte mit dem Fotoapparat im Anschlag der alten Irren, die im Stiftshof nicht in den Haupteingang abbog. Stattdessen bewegte sie sich weiter an der Fassade entlang, gelangte schließlich zur Basilika, ging auch dort am Eingang vorüber und marschierte weiter über den Friedhof. Timo hatte alle Füße voll zu tun, um Frau Wagner nicht aus den Augen zu verlieren. Mit gezücktem Fotoapparat, einen Touristen mimend, folgte er der alten Frau in einem Abstand von etwa einhundertfünfzig Metern und sah gerade noch, wie sie in einem Seiteneingang des Stiftes verschwand. Was jetzt? Timo fragte sich, ob er warten oder zurückgehen und Bericht erstatten sollte. So wie seine Großmutter sich momentan aufführte, war wahrscheinlich beides falsch. Nach kurzer Zeit entschied er sich für die Rückkehr und erzählte seiner Großmutter vom Trick der alten Wagner. Irgendwie hatte es ausgesehen, als sei sie einfach in der Stiftswand verschwunden.

»Gut«, sagte die alte Porofsky, »jetzt wissen wir wenigstens, wo sich dieses Miststück verkrochen hat. Jetzt haben wir genügend Zeit, um die anderen zu alarmieren.«

»Welche anderen?«, fragte Timo.

»Echte Männer«, antwortete Dorothea Porofsky, »also das Gegenteil von dir.«

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