Kitabı oku: «Herbst der Vergeltung», sayfa 2
5.
Die Wettervorhersage im Radio hatte einzelne Schauer und einige heitere Abschnitte vorausgesagt, aber der Himmel war bleigrau, als Verner früh am Morgen aus dem Küchenfenster schaute. Die Aussicht war zwar begrenzt durch einen Baum und das Ziegeldach der Waschküche, aber wenn er sich dicht vor die Scheibe stellte und den Blick nach oben richtete, konnte er einen breiten Streifen Himmel über der Häuserfront sehen und auch die bepflanzten Höfe gegenüber.
Es war halb acht. Verner hatte schlecht geschlafen. Er hatte lange wach gelegen und war erst eingeschlafen, als das erste Licht das Zimmer zu erhellen begann, um dann kurz darauf wieder vom Zeitungsboten geweckt zu werden, der an den Briefkästen der Nachbarn klapperte. Er selbst hatte keine Zeitung abonniert, er hatte auch keinen Fernseher und bekam nur selten Briefe, dafür aber eine tägliche Dosis unterschiedlicher Reklameprospekte. Er nickte den Nachbarn zu, wenn er sie im Hauseingang traf, sagte aber selten etwas. Rechts unten wohnten Mihailovic und Mehmet, links unten Järvinen und Malmgren; eine Dreizimmerwohnung, drei Zweizimmerwohnungen und Verners Appartment mit Kochnische. Das Haus war Eigentum der Familjebostäder. Verner wohnte hier seit drei Jahren, genauso lange wie er ohne Arbeit war, seine Medizin nahm und vor sich hin lebte.
Er stand im Bad und rasierte sich, als es an der Tür klingelte. Er hatte nicht vor zu öffnen, denn er nahm an, dass es ein Vertreter war oder Schulkinder, die Geld für ihre Klassenfahrt sammelten. Aber das Klingeln hörte nicht auf, wiederholte sich immer schriller in immer kürzeren Intervallen, nervtötendes Klingeln, das minutenlang anhielt.
Verner hatte sich entschieden, nicht zu öffnen. Als es endlich wieder still war, war er sicher, den Störenfried losgeworden zu sein. Er dachte, dass das vielleicht der Ausdruck eines neuen Zeitalters war, nicht aufzugeben, sich festzubeißen, den widerspenstigen Kunden zu überwältigen. Verkaufen, niederreden, verkaufen.
Da hörte er ein Klopfen am einzigen Fenster des Raumes. Er war gerade fertig mit der Rasur, stand mit nacktem Oberkörper vor dem Waschbecken, sah im Spiegel, dass er sich mit der Klinge leicht am Hals geschnitten hatte, denn er blutete. Er wischte das Blut mit dem Handtuch weg, behielt es in der Hand und ging ins Zimmer bis zum Fenster.
Eine Frau stand dort zwischen den Sträuchern. Sie kam näher und hielt etwas in der Hand, das sie dann gegen die Scheibe drückte. Verner konnte sehen, dass es sich um einen Polizeiausweis handelte. Sein Blick traf den ihren und er glaubte, sie wiederzuerkennen. Sie nickte in Richtung Tür und verschwand. Verner zog sich schnell ein Hemd über, bevor er öffnete. Die Frau stand dort, die Hände in den Taschen vergraben. Sie trug lange, dunkle Hosen, eine blaue Sportjacke, hatte kurzes Haar und trug keinerlei Kopfbedeckung.
»Verner?«, fragte sie.
»Mmh«, antwortete er. Sie hatte die Hand bereits auf die Klinke gelegt, und er begriff, dass sie entschlossen war. Er konnte sie bitten einzutreten, aber eigentlich war das unnötig. Und jetzt erinnerte er sich wieder an ihren Namen.
»Margret Mattsson, oder?«, fragte er.
Sie war jetzt im Flur, schloss die Tür hinter sich und blieb stehen. Sie lächelte ihn an, er erwiderte den Blick, ohne zu lächeln.
»Bist du im Dienst?«, fragte er.
»Sowohl als auch«, antwortete sie.
»Komm rein, kann ich dir etwas anbieten? Eigentlich habe ich nicht wirklich etwas anzubieten, aber du kannst eine Tasse Kaffee haben oder Tee.«
»Danke, ich möchte nichts.«
Er ging ins Zimmer, sie folgte ihm. Das Bett war ungemacht, eine Unterhose lag auf einem der Stühle am Tisch, auf dem anderen lagen zwei Zeitungen. Verner warf die Unterhose aufs Bett und zog hastig die Bettdecke darüber, um sie zu verstecken, und strich die Decke glatt. Dann fegte er die Zeitungen vom anderen Stuhl, zog ihn vom Tisch weg und machte eine einladende Geste in Richtung seines Gastes, selbst setzte er sich auf den Stuhl, der gerade erst von der nicht ganz sauberen Unterhose befreit worden war.
Aber die junge Frau mit dem Polizeiausweis ließ sich nicht nieder, sie ging zum Fenster und öffnete es, erst einen Spalt, dann ein wenig weiter.
»Möchtest du rauchen?«, fragte Verner.
»Nein«, antwortete sie. Schnell sah sie sich im Zimmer um. Es gab nur wenige Möbelstücke, keine Bilder, keine Teppiche. Neben dem Bett hing ein Regal mit einigen Büchern, einem Lexikon, einem Stapel Heftchen. Ganz oben im Regal stand ein Dekorationsgegenstand, und zwar der einzige im ganzen Zimmer: ein bemalter Gipskopf, an die fünfzehn Zentimeter hoch, der ein junges Mädchen darstellte.
Dann setzte sich die Frau Verner gegenüber. Sie sagte eine ganze Weile gar nichts, lächelte ihn aber die ganze Zeit über an, so hatte die Stille nichts Beklemmendes für Verner. Schließlich sagte sie mit fragendem Tonfall:
»Du weißt nicht, warum ich hier bin, Verner?«
»Vielleicht wolltest du ja einfach mal hallo sagen.«
»Schon, aber ich frage mich auch, ob du mir nicht vielleicht bei einer Sache behilflich sein könntest. Diese ›Sache‹ ist vorgestern passiert, das heißt, um genau zu sein, ist sie wahrscheinlich vorgestern am späten Abend passiert oder gestern sehr früh am Morgen.«
»Aha.«
»Du weißt nicht, dass hier etwas passiert ist?«
»Nein.«
»Ein Mann wurde tot aufgefunden, erhängt. Erst sah alles nach Selbstmord aus, aber jetzt wissen wir, dass es nicht so war.«
»Und was war es dann?«
»Der Mann wurde ermordet, erst misshandelt und dann getötet. Stranguliert und dann auf dem Speicher von einem der Aufgänge hier zu deinem Hof aufgehängt. Er hieß Anders Björkman, sagt der Name dir etwas?«
»Ich habe den Namen noch nie gehört. Ich höre manchmal Radio, aber da haben sie nichts davon gesagt. Und ich gucke am Kiosk auf die Schlagzeilen.«
»Die Abendzeitungen bringen es heute Abend, da kannst du dir sicher sein.«
»Aha.«
»Und du hast nichts gehört oder gesehen?«
»Nein.«
»An diesem Abend beziehungsweise in dieser Nacht, warst du da hier?«
»Ich glaube schon.«
»Du glaubst?«
»In meiner Erinnerung verschwimmt das alles oft, das kommt von den ganzen Medikamenten, die ich nehme. Ich vergesse die Zeit.«
»Denk bitte nach.«
Verner sah aus dem Fenster und versuchte sich zu erinnern, was er getan hatte. Die Tage glichen sich und die Nächte ebenso, schlaflos und unruhig, so dass er manchmal aufstand und einige Stunden spazieren ging.
»Vielleicht war ich draußen und bin eine Runde gegangen.«
»Hier in der Gegend?«
»Anzunehmen.«
»Und du hast nichts besonderes gesehen oder gehört?«
»Wie ich gesagt habe, ich bin mir nicht mal sicher, ob ich in der Nacht wirklich draußen gewesen bin, vermutlich war ich das, aber ich kann die Tage nicht auseinanderhalten.«
»Okay Verner, ich glaube dir, aber wenn dir doch noch etwas einfallen sollte, kannst du mich gerne anrufen, falls die Erinnerungen sozusagen zurückkommen sollten.«
»Das tun sie für gewöhnlich nicht.«
»Aber falls doch, dann rufst du an, ja?«
»Wo bist du denn zu erreichen?«
»Ich bin jetzt bei der Bezirkspolizei, bei der Kriminalabteilung.«
»Du warst dort wohl gerade neu, als ich aufgehört habe.«
»Ich war noch in der Ausbildung, als du verschwandest, wir haben uns nur ein paar Mal getroffen, du hast damals Vorlesungen für uns gehalten, erinnerst du dich?«
»Auf der Polizeihochschule?«
»Nein, die hatte ich da bereits hinter mir, das war während der praktischen Ausbildung.«
»Ach so, ja. Sie hatten mich ab und zu darum gebeten, euch Vorträge zu halten.«
»Weil du dein Handwerk verstanden hast, Verner.«
»Das ist lange her.«
»Aber du konntest dich noch an meinen Namen erinnern.«
»Das muss Zufall gewesen sein, vielleicht hast du irgendeinen besonderen Eindruck hinterlassen.«
»Obwohl drei Jahre ja auch wieder nicht so lang sind.«
Verner erhob sich und ging in die Kochnische. Er drehte den Wasserhahn auf, spülte zwei Tassen aus und setzte den Wasserkessel auf. Die junge Polizeiinspektorin blieb sitzen, sie begriff, dass er über das, was passiert war, nicht sprechen wollte.
»Darf ich mal die Toilette benutzen?«, fragte sie.
Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie hinaus in den Flur, öffnete die Tür zum Badezimmer, machte sie hinter sich zu und schloss ab. Sie stand eine Weile still, bevor sie ein Stück Papier von der Rolle zog, es zusammenknüllte und es in die Toilette fallen ließ und spülte. Dann öffnete sie das Spiegelschränkchen, fand Rasierer, Zahnpasta, Pflaster, eine Rolle Kupferdraht und fünf Pillendöschen mit Etiketten: Tolvin, Cipramil, Valium, Rohypnol, Leponex. Dazu noch zwei Döschen ohne Aufschrift. Sie zog ihr Notizbuch aus der Tasche und schrieb die Namen der Präparate auf.
Als sie wieder in den Flur kam, stand Verner noch in der Kochnische. Das Wasser hatte angefangen zu sieden.
»Ich möchte am liebsten Tee«, sagte sie.
Als er nicht antwortete, ging sie zum geöffneten Fenster hinüber, zog es ein Stück weiter zu und sah einige Kinder vorbeigehen, ein Mädchen und zwei Jungen, der eine trug eine leuchtend gelbe Mütze. Margret erinnerte sich, dass das Mädchen, mit dem ihr Kollege gesprochen hatte, orangefarbene Kleidung getragen hatte, das hatte im Bericht gestanden, als ob dieses Detail wichtig gewesen wäre.
»Es war ein kleines Mädchen, das das Mordopfer gefunden hat«, sagte sie.
»Aha«, murmelte Verner und stellte zwei Teetassen auf den Tisch.
»Ja, ein Mädchen und ein Müllmann.«
»Aha.«
»Und es war Philipsson, der mich gebeten hat, mit dir zu sprechen.«
»Dein Chef?«
»Ja, er meinte, dass du vielleicht etwas wissen könntest.«
»Bin ich für die Ermittlungen von Interesse?«
»Er hat mich nur gebeten, mit dir zu sprechen, mehr nicht, weil du hier wohnst und weil du mal Polizist gewesen bist.«
»Ich bin so vieles gewesen, und jetzt weiß ich mal gerade noch, wie ich heiße, und Philipsson ist übrigens einer von denen der ... ach, ist egal.«
»Nein, sag, was du sagen wolltest.«
»Du weißt es sicherlich, Margret, oder? Natürlich weißt du es.«
Verner erhob ein wenig die Stimme, atmete so aus, dass es ähnlich wie ein tiefer Seufzer klang, und schüttelte den Kopf, blieb aber still. Margret nickte, sagte aber nichts. Sie hob die Teetasse, trank einen Schluck, erhob sich und streckte Verner die Hand entgegen.
»Ruf mich an, wenn dir etwas einfällt«, sagte sie, »oder ruf mich einfach so an, wenn du willst, das wäre schön.«
Nachdem Margret gegangen war, ging Verner ins Badezimmer, öffnete das Schränkchen, nahm zwei Pillen aus dem einen Döschen und spülte sie mit einer Handvoll Wasser hinunter. Er wusste, dass seine Besucherin in den Schrank geguckt hatte, und dass sie aufgeschrieben hatte, wie die Pillen hießen. Er wusste, dass es ein Fehler von ihr gewesen wäre, das nicht zu tun, und er wusste, dass sie wusste, dass er wusste, was sie im Badezimmer gemacht hatte.
Er hatte sogar Vorlesungen darüber gehalten, war er es also selbst gewesen, der ihr beigebracht hatte, in den Badezimmerschränken anderer Leute herumzuschnüffeln?
Verner verließ gegen zwei das Haus. Er war auf dem Weg ins Zentrum, um im Konsum einzukaufen, ging aber nicht auf direktem Weg dort hin. Er sagte sich selbst, dass er sich nur ein wenig die Beine vertreten wollte, sich bewegen, ein bisschen bummeln. Nachdem er einen Kilometer auf dem Trimm-dich-Pfad neben der Eisenbahntrasse zurückgelegt hatte, wusste er, dass er dem Stadtzentrum auswich, den Schlagzeilen in den Zeitungsständern und den ganzen Informationen über das, was geschehen war.
Plötzlich blieb er stehen, stand einige Minuten still auf dem Weg, atmete tief ein und versuchte sich einzureden, dass er nichts zu befürchten hatte; das, was geschehen war, hatte nichts mit ihm zu tun. Es war ein Mord, einer von unzähligen, er hatte selbst eine große Anzahl Opfer gesehen, einige kaputt geschlagen, einige schon verwest, hatte den Gestank gerochen, Würmer gesehen, Kinder getroffen, die ihren Vater verloren hatten, war derjenige gewesen, der einer Mutter erzählen musste, dass ihre Tochter ermordet worden war.
Verner versuchte sich selbst daran zu erinnern, dass er das Schlimmste schon erlebt hatte. Aber er fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte. Er hatte Angst.
Trotzdem drehte er um, sah die Schlagzeilen: ›Brutaler Mord in Älvsjö‹. ›Hinrichtung ohne Gnade‹. Er kaufte den Expressen, einen Liter Milch, ein Brot, ein Päckchen Butter, zwei Tomaten, eine Dose Erbsensuppe. Er wartete mit dem Lesen, bis er zu Hause war.
Das Opfer war ein einundfünfzigjähriger Mann. Er war zuvor nicht polizeibekannt gewesen, er wohnte in Solberga, arbeitete als Gehilfe an einer Tankstelle, er war geschieden, hatte eine erwachsene Tochter. Die Polizei hatte noch niemanden festgenommen, sie hatten an den Haustüren geklopft und erhofften sich Hilfe von der Bevölkerung, jemand musste den Verdächtigen gesehen haben, da er höchstwahrscheinlich über den offenen Hof zwischen den Häusern gelaufen sein musste, in denen es zweiundneunzig Wohnungen gab, alle mit Fenstern zum Hof.
So stand es im Expressen. Verner hatte keinen Anlass, an diesen Angaben zu zweifeln. Und er war der gleichen Meinung, es war gut möglich, dass jemand etwas Ungewöhnliches beobachtet hatte, irgendjemand war immer wach, saß schlaflos am Fenster, ging zur Spätschicht, kam aus der Kneipe nach Hause.
Jetzt wusste Verner ein wenig über das Opfer: ein gewöhnlicher Mann in seinem Alter. Aber diese unbedeutende Tatsache half ihm wenig. Seine Unruhe war immer noch da, die Erinnerungslücke, das Gefühl von Schuld.
6.
Der August kam und es regnete immer noch, Schauer, Dauerregen, Nebel, einzelne blaue Streifen zwischen den Wolken, aber keine Sonne. Das Wasser in den Badeseen wurde nicht warm, grüner Schleim blubberte vor der Zeit von den schlammigen Gründen hoch, rund um die Strände des Långsjö wurden Warnschilder aufgestellt: ›Bitte nicht baden! Giftige Algen! Achtet auf Kinder und Hunde.‹
Verner hörte öfter als sonst die Nachrichten im Radio. Er kaufte beide Boulevardblätter, Expressen und Aftonbladet, las die Tageszeitungen Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet in der Bibliothek im Stadtzentrum. Nach den groß aufgemachten Schlagzeilen und Artikeln der ersten Tage hatten die Zeitungen nicht mehr viel zu berichten. Die Fahndung lief weiter, der Sprecher der Polizei schwieg sich aus. Zunächst wurde ihm unterstellt, er würde wichtige Fakten unterschlagen, dann begriffen die Reporter, dass er überhaupt nichts wusste.
Nach drei Tagen hörten die Tageszeitungen auf, über den Mord zu schreiben, denn es gab keine Neuigkeiten. Aftonbladet brachte eine halbe Spalte über den Mord und Expressen eine kleine Notiz; die bestanden jedoch fast nur daraus, die bekannten Fakten zu wiederholen.
Außerdem geschahen in derselben Woche noch mehrere schwere Gewaltverbrechen: Der Anführer eines Bikerclubs wurde in Trångsund ermordet, seine Anhänger drohten mit blutiger Vergeltung. Ein Fernfahrer wurde im Einkaufscenter Kungens kurva ausgeraubt, seine Ladung war verschwunden, und es wurde angenommen, dass eine internationale Verbrecherorganisation dahintersteckte. Dann noch ein Messermord in Sundbyberg. Der Älvsjömord geriet in den Schatten der neuen Ereignisse.
Eines Abends wurde Verner von Margret angerufen. Es war halb acht, er stand in der Tür und war gerade auf dem Sprung zu einem Spaziergang, vielleicht auch zu einem kleinen Ausflug mit dem Pendelzug in die Stadt, denn er fühlte sich rastlos.
»Störe ich?«, fragte Margret.
Verner antwortete, dass es gerade nicht so gut passe, aber dass sie sich ja kurz fassen könne.
»Dauert nur ein paar Minuten«, sagte Margret.
»Okay.«
»Er war mit einer dunklen, halblangen Jacke bekleidet, der Mann, den wir suchen, jemand hat ihn gesehen. Wenn er es denn war.«
»Ach ja?«
»Jemand war gerade auf und sah hinaus über den Hof, eine Dame, die von ihrem bellenden Hund geweckt worden war. Sie sah einen Mann in dunkler Jacke aus dem betreffenden Hauseingang kommen, so gegen drei Uhr nachts.«
»Ach ja?«
»Ich wollte nur deine Aufmerksamkeit auf dieses Detail lenken, die Jacke meine ich, falls dir dadurch noch etwas einfallen sollte, was du gesehen hast, wenn du draußen gewesen sein solltest. Denn vielleicht warst du da ja gerade draußen?«
»Ich erinnere mich nicht, wie ich bereits gesagt habe.«
»Ich weiß, aber ich glaube diese Jacke ist wichtig, schwarz und halblang. Vielleicht bringt das ja etwas hervor? Aus der Erinnerung, meine ich.«
»Ich werde versuchen darüber nachzudenken.«
»Wie geht es dir sonst?«
»Wie immer.«
»Okay Verner, vielleicht sehen wir uns, ich bin ab und zu in der Gegend.«
»Ja, vielleicht sehen wir uns dann.«
»Das war‘s schon, pass auf dich auf.«
Verner murmelte etwas, das Margret nicht verstehen konnte. Sie hielt kurz inne, wollte fragen, was er gesagt hatte, aber da hatte er schon aufgelegt.
Er ging nicht gleich hinaus, wie er es vorgehabt hatte. Er blieb eine Weile auf dem Bett sitzen. Er war sich nicht sicher, warum Margret das mit der Jacke so hervorgehoben hatte, aber er nahm an, dass sie es gesagt hatte, weil sie wohl gesehen hatte, dass er eine ähnliche Jacke besaß. Sie hing im Flur bei der Tür, neben Schals und anderen Jacken.
Und warum arbeitete sie so spät noch? Waren es angeordnete Überstunden, oder nahm sie ihre Arbeit mit nach Hause? War sie eine von diesen übermotivierten jungen Polizisten, die nur für die Arbeit lebten? Gab es solche Polizisten heutzutage noch? Und wenn, mussten sie abends und nachts umsonst arbeiten, ohne dass ihr Chef oder die Gewerkschaften ihnen Einhalt geboten, oder die betriebliche Gesundheitsvorsorge?
Das fragte sich Verner, aber er kannte Margret ja schließlich gar nicht. Vielleicht wollte sie ja auch nur ein bißchen plaudern. Nein, das glaubte er nicht. Sie ist gewieft, dachte er, sie will mich zum Reden bringen, sie weiß schon, was sie tut, und auch gleichzeitig, dass ich das alles durchschaue. Als er hinausging, begriff er, dass sie ihn vermutlich verdächtigten. Vielleicht nicht offiziell. Sie hatten wohl noch niemanden wirklich im Verdacht, der Staatsanwalt war noch nicht eingeschaltet worden. Sie haben mich im Hinterkopf, dachte Verner. Sie haben meinen Namen noch nirgendwo aufgeschrieben, sie haben ihn vielleicht nicht mal ausgesprochen, als sie mögliche Verdächtige durchgesprochen haben. Und wenn schon jemand meinen Namen ausgesprochen haben sollte, dann unter dem Deckmantel: »Unser alter Kollege wohnt doch in der Gegend, das können wir nicht ignorieren«. Keine Beschuldigung, kein ausgesprochener Verdacht gegen ihn. Trotzdem würden alle die unterschwellige Andeutung verstehen, jeder Polizist, alle Fahnder und Ermittler. Denn alle wussten, was mit Verner Lindgren geschehen war, wer er war. Verner selbst war überzeugt davon, dass sein Name bei der Ermittlung des Mordes vom Törnrosväg eine Rolle spielte.
Als Verner gegen zehn Uhr abends von seinem Spaziergang zurückkehrte, hatte der Regen aufgehört. Er war zuerst zum Friedhof in Västberga gegangen, dann auf der Schnellstraße zur alten Kirche von Brännkyrka, war eine Weile über den Friedhof geschlendert, hatte die Inschriften der Grabsteine gelesen, an denen er immer stehen zu bleiben pflegte, denn sie waren alle für Menschen errichtet worden, die Verner geheißen hatten.
Zwei hatten lange gelebt, aber ein Verner war nur achtundzwanzig Jahre alt geworden. Verner und dieser jung Verstorbene hatten denselben Nachnamen, Lindgren. Als Verner den Grabstein zum ersten Mal sah, war er über den frühen Tod seines Namensvetters erschrocken. Er hatte es als schlechtes Omen angesehen.
Das war passiert, als er vor drei Jahren gerade nach Älvsjö gezogen war, und es hatte ihn noch mehr davon überzeugt, dass er bald sterben würde. Er hatte sogar einen Margeritenstrauß auf das Grab gelegt. Jetzt wusste er, dass ihm Aufschub gewährt worden war, für eine bestimmte Zeit, für wie lange, konnte er nicht wissen.
Es war noch nicht richtig dunkel, als Verner in seine Wohnung kam. Er machte kein Licht, sondern setzte sich ans Fenster und blieb dort eine halbe Stunde sitzen, ohne etwas zu tun. Plötzlich erhob er sich mit einem Ruck, ging schnell ins Badezimmer, öffnete das Spiegelschränkchen und nahm eines der Pillendöschen heraus. Er hätte zwei von den hellblauen Tabletten nehmen sollen, aber er nahm vier.
Ein Auto sprang unter dem Fenster an. Verner wachte auf und blickte auf den Wecker, der zehn nach fünf anzeigte. Er wusste, dass er nicht wieder würde einschlafen können. Er stand auf und trank Wasser, pinkelte, fand, dass der Urin ungewöhnlich stark roch und zu dunkel aussah. Er trank noch mehr Wasser und nahm zwei Tabletten. Legte sich wieder aufs Bett und wartete auf den Morgen.
Zwanzig nach sechs ging er nach draußen. Er hatte die dunkle, halblange Jacke an.
Er wusste, dass er jemandem auffallen konnte, jemandem, der nur von ihm gehört hatte, vielleicht durch Margret oder einen der alten Kollegen. Und derjenige, der zuerst die Jacke entdeckte, würde sich an seinen Streifenkollegen im Auto wenden oder später bei der Besprechung im Präsidium seine Beobachtung mitteilen. Etwas würde dazu gesagt werden, das war unausweichlich. Notizen würden darüber gemacht werden.
Verner war sich absolut sicher, dass ihn jetzt jemand beobachtete, vielleicht sogar mit der Videokamera aufnahm. Er hätte andere Kleidung wählen können: die kurze graue Jacke, ein Jackett, einen Mantel.
Er ging durchs Zentrum, vorbei an den Bussen, und er drehte sich nicht um, schielte nicht verstohlen zur Seite. Er hätte auf die Beobachter zeigen können, er wusste, wo sie sich befanden, dachte, dass er bessere Stellen dafür ausgesucht hätte, wenn er hätte wählen müssen.
Zwischendurch kam kurz die Sonne heraus. Verner folgte der Eisenbahnlinie, bog zum Trimm-dich-Pfad ab, durchquerte den Wald, geriet außer Atem, verringerte das Tempo etwas, fühlte sich erschöpft.
Er ging knapp zwei Stunden lang, ohne anzuhalten. Als er zurück im Zentrum war, war es halb zehn. Er ging in den Konsum, denn er brauchte Milch und Käse, und der Kaffee war auch fast alle.
Im Laden befanden sich nur wenige Kunden, einige Frauen und ein älterer Mann. Verner nickte einer der Frauen zu, er kannte sie, denn sie wohnte im gleichen Häuserkomplex wie er, mit Mann und zwei Söhnen, er hatte sie dann und wann zusammen gesehen. Zufälligerweise wusste er, dass die Frau Birgitta Lundberg hieß. Sie hatte mal Zeitungen zum Container getragen, als Verner auch gerade mit einem seiner Altpapierbündel dorthin kam. Er hatte in eine der Tüten schauen können, die die Frau neben sich abgestellt hatte, und zuoberst hatten ein Werbeprospekt und ein Kuvert mit ihrem Namen und ihrer Adresse gelegen. Verner hatte sich den Namen eingeprägt, wohl eine alte Gewohnheit oder auch Berufskrankheit.
Jetzt nickte er der Frau zu, die Birgitta hieß, sie nickte zurück.
Als Verner ein Paket Kaffee aus dem Regal nahm, stellte sich die Frau auf die Zehenspitzen, um an eine Packung Filtertüten oben auf dem Regal heranzukommen. Dabei rutschte ihr Ärmel ein wenig zurück und entblößte Handgelenk und Unterarm. Quer über dem Arm verlief ein blauer Fleck, ein großer Bluterguss, als ob sie sich eingeklemmt oder einen Schlag abbekommen hatte. Verner sah den rotblauen Fleck. Er schaute schnell zu der Frau hinüber, traf für eine Sekunde ihren Blick. Sie hatte die Filtertüten noch nicht zu fassen bekommen, trotzdem ließ sie den Arm sinken und zog den Pulloverärmel herunter. »Ich kann dir helfen«, sagte Verner, »ich bin größer und komme dran.«
Er nahm eine Packung aus dem Regal und reichte sie der Frau, die sich beeilte zu lächeln.
»Danke«, murmelte sie.
Verner nickte ihr zu und folgte ihr mit dem Blick, als sie sich bückte, den Einkaufskorb hochhob, ihm den Rücken zudrehte und weiterging, mit dem Korb in der rechten Hand.
Er hatte auch vorher schon ähnliche Flecken auf den Armen der Frau gesehen. Er wusste, dass sie auf unterschiedliche Weise entstehen konnten. Aber in den meisten Fällen waren sie das Resultat unsanfter Behandlung, jemand hatte sie blau gequetscht, die Haut verletzt. Verner begriff, dass die Frau gemerkt hatte, dass er es gesehen und verstanden hatte. Das hatte sie erschreckt, denn sie hatte verstecken wollen, dass jemand sie misshandelt hatte. Auch das wusste Verner, da er in den Jahren bei der Polizei sehr viele misshandelte Frauen getroffen hatte. Er dachte, dass er vielleicht zu ihr hätte sagen sollen, dass sie ganz beruhigt sein konnte, dass er nichts weitererzählen würde, dass er sich nicht einmischen würde.
Er sagte nichts zu ihr, er ließ sie verschwinden, und ihm war nicht wohl zumute. Das verwunderte ihn ein wenig, denn es war lange her, dass er etwas von diesem alten, vertrauten Gefühl spürte, er hatte sich schon eingebildet, dass es völlig verschwunden war. Trotzdem war das Gefühl ganz anders als früher. Die Wut blieb aus.