Kitabı oku: «Herbst der Vergeltung», sayfa 3
7.
Margret machte erst spät Mittagspause. Seit halb neun hatte sie an einer Zusammenstellung dessen gesessen, was sie und ihre Kollegen bei den Gesprächen mit den Mietern im und um den Törnrosväg herausbekommen hatten: Knapp siebzig Befragungen, davon einige auf englisch mit neu zugezogenen Ausländern, einige wortkarge auf schwedisch, an die zehn brauchbare mit Details und Zeitangaben und auch einige völlig fehlgeschlagene, weil derjenige, der die Tür geöffnet hatte, nichts verstand: Achselzucken, nach oben gewendete Handflächen, Lächeln, aber keine Worte, keine Beobachtungen.
Es wäre absolut falsch gewesen, das Ergebnis als mager zu bezeichnen: Es war wertlos, niederschmetternd, nichtssagend. Das Dezernat war unterbesetzt. Es war Ferienzeit, dazu kamen drei Krankmeldungen: eine Lebensmittelvergiftung, ein Blinddarmdurchbruch, ein akuter Hexenschuss. Gleichzeitig gab es mehrere andere schwere Gewaltverbrechen, in denen das Dezernat die Ermittlungen führte: der Bikermord, der Fernfahrerüberfall, mehrere brutale Ladenüberfälle, Bandenkriege in Fittja. Neue Verbrechen an fast jedem neuen Tag.
Margret saß am Computer, gab die Befragungen ein, stellte sie zusammen, überprüfte Namen, schrieb, schrieb, schrieb, vergaß die Zeit und bemerkte erst spät, dass sie die Mittagspause verpasst hatte. Es war zwanzig nach eins. Sie verließ ihr Zimmer, der Korridor war leer, und die meisten Türen zu den Zimmern ihrer Kollegen standen offen, auch die vom Zimmer des Dezernatsleiters Lennart Philipsson. Einige Sekunden bevor Margret dessen Zimmer passierte, erhob sich der Chef von seinem Schreibtisch, zog sein Jackett an und trat hinaus in den Korridor.
»Hej«, sagte Margret und nickte.
»Hej Margret«, antwortete ihr Chef.
Sie gingen beide zum Fahrstuhl. Margret dachte, dass Philipsson oft schnell ging. Er war groß und mager und war in seiner Jugend vielleicht Sportler gewesen. Er bewegte sich wie ein Läufer, oder vielleicht auch wie ein Orientierungsläufer. Er war einer der Menschen, von denen man zu sagen pflegte, dass sie einen federnden Gang hatten. Lennart Philipsson war sechzig Jahre alt. Er hatte aufgehört, auf höhere Sprossen der Karriereleiter zu hoffen, er gab sich damit zufrieden, das größte Dezernat der Bezirkspolizei zu leiten.
»Fährst du runter in die Kantine?«, fragte er.
»Ja, wird ein spätes Mittagessen heute«, antwortete Margret.
»Ich werde auch eine Kleinigkeit essen, wir können uns ja zusammensetzen.«
»Ja, klar.«
»Oder wolltest du auswärts essen?«
»Nein, ich hab es ziemlich eilig, also nur Aquarium heute.«
»Okay, wie du willst.«
Sie verließen den Fahrstuhl im Erdgeschoss, gingen durch die Gänge zur Kantine neben dem Schwimmbad. Margret bestellte Kartoffelpuffer mit gebratenem Speck, Philipsson entschied sich für Gemüsesuppe. Sie ließen sich an einem Tisch ganz in der Nähe der Glastrennwand zum Schwimmbecken nieder. Es waren einige Schwimmer im Wasser, junge Mädchen. Sie schwammen schnell, Bahn für Bahn.
»Schwimmst du auch?«, fragte Philipsson.
»Nicht wirklich«, antwortete Margret.
»Aber du bist doch eine Sportskanone, meine ich doch. Irgendein Kampfsport, oder ...«
»Ich trainiere hin und wieder.«
»Jemand hat gesagt, dass du richtig gut bist.«
»Ach, was die alle so erzählen.«
»Wie geht‘s mit Älvsjö voran?«
»Nichts Neues, geht nur schleppend vorwärts.«
»Und ich kann euch noch nicht mal Verstärkung anbieten, ich habe bei der Fahndung und der Ausländerbehörde um Unterstützung gebeten, aber die haben genauso wenig Leute übrig wie wir.«
»Ja, das sieht schon ziemlich finster aus.«
»Ich hoffe, dass bald etwas passiert, ansonsten müssen wir da kürzer treten.«
»Das verstehe ich.«
Sie hielten im Gespräch inne und widmeten sich dem Essen. Margret blickte auf die Uhr und sah, dass von ihrem Arbeitstag nur noch wenige Stunden übrig waren.
Nach dem Essen tranken sie Kaffee, sprachen weiter über die Unterbesetzung und kamen dann wieder auf den Älvsjö-Mord zurück.
»Was glaubst du?«, fragte Philipsson.
»Es ist zu früh, ich hab noch keine richtige Theorie.«
»Hast du mit Verner Lindgren gesprochen?«
»Ich wurde aufgefordert, mit ihm in Kontakt zu treten, und das habe ich auch getan.«
»Hat es etwas gebracht?«
»Kaum, er hatte nichts Interessantes zu bieten.«
»Wie geht es ihm?«
»Er hat ein schlechtes Gedächtnis, nimmt starke Medikamente, glaube ich.«
»Hm.«
Mehr wurde über Verner nicht gesagt. Margret überlegte, ob Lennart Philipsson vielleicht mehr über Verner wissen wollte und dass der Dezernatsleiter vielleicht aufrichtiges Mitgefühl für seinen alten Kollegen hegte.
Nach der Arbeit ging Margret hinunter in den Trainingsraum. Nach dem normalen Training blieb sie noch und absolvierte ein hartes Spezialprogramm mit Pelle Mogren vom Reichskrim und Morgan Larsson von der Citypolizei. Sie hielt bei allen Ausdauerübungen mit den Jungs mit, und auch beim Training von Beweglichkeit und Schnelligkeit. Sie machten am liebsten Liegestütze, aber Margret hatte kein Interesse an starken Armen mit Muskelpaketen daran. Zum Schluss trainierte sie einige Schlagserien mit mehreren Arten von Fußtritten. Sie erhöhte das Tempo, die Schläge gegen einen imaginären Gegner waren blitzschnell, die Konturen ihrer Fäuste lösten sich auf, Arme und Beine wurden zu fließenden Schatten. Sie bat Morgan, das Lederkissen für sie zu halten. Wollte er, traute er sich? Sie lachten, Morgan kannte das schon, das hier war schließlich nicht das erste Mal. Als sie gegen das dicke Lederkissen schlug, schob sie den fünfundachtzig Kilo schweren Kollegen rückwärts über den Boden. Er bediente sich all seiner Muskelkraft und Schwere, um bei den Schlägen gegenzuhalten, stand aber bald mit dem Rücken an der Wand.
Margret fuhr mit dem Auto zur Arbeit, ihrem dunkelblauen, nicht ganz neuen Saab 9000. Das Auto zu nehmen war eine neue Angewohnheit, sie brauchte es, um sich schneller von Ort zu Ort bewegen zu können, vor allem zu denen, die sie neben dem Dienst noch aufsuchte. Ein solcher Ort war Älvsjö. Sie wohnte selbst in der Gegend, in Årsta, im Långhalsväg. Dort hatte sie eine Einzimmerwohnung mit einer kleinen Küche mit Gasherd, einem großen Zimmer mit Balkon und einem kleinen Badezimmer mit grünen Wänden.
Sie war gegen sieben zu Hause, trank Tee, aß ein paar Butterbrote und legte sich mit den Abendzeitungen in die Badewanne. Nach einer guten Stunde stieg sie aus der Wanne, trocknete sich ab, setzte sich im Bademantel vor den Fernseher und zappte. Sie ließ die Zeit vergehen, dachte bei Flimmerbild und Stimmengewirr nach. Wetterbericht, ein Dokumentarfilm über Bauernboote aus Dalarna, die Nachrichten, Sport. Sie war in Gedanken beim Älvsjömord, bei Verner und seiner Abgeschiedenheit und bei seinen Gewaltausbrüchen, von denen sie gehört hatte. Sie dachte: Er ist abweisend, vielleicht nicht mal nett, und wohl auch sehr misstrauisch. Aber ist er ein möglicher Täter? Sie wusste es nicht, denn sie kannte ihn nicht. Seinen Ruf kannte sie zwar, aber sie wusste nicht recht, was sie von ihm halten sollte.
8.
Es kamen noch einige schöne Tage am Ende der Woche. Am Donnerstag hatte es geregnet, aber der Freitag wurde warm mit niederschlagsfreiem Wetter und dünnen Wolken, die sich nach dem Mittagessen auflösten. Birgitta hatte um drei Uhr Schluss, im Lagerbüro des Kaufhauses Åhléns, wo sie in der Buchhaltung arbeitete, galt die Sommerarbeitszeit.
Sie dachte immer noch oft an den Mord. Vielleicht nicht die ganze Zeit, wie sie es in den ersten Tagen getan hatte. Da war sie oft aufgewacht, zu den Jungen hinein geschlichen und hatte sich wieder hingelegt, aber doch nicht wieder einschlafen können, war wieder aufgestanden und hatte die Tür überprüft. Jetzt kam die Unruhe nur noch hier und da, wie in Wellen, und es waren immer die Jungen, an die sie dachte. Nur die Jungen.
Jemand in Älvsjö hatte von der Polizei gehört, dass der Mörder vermutlich nicht aus der näheren Umgebung kam, das glaubten sie jedenfalls nicht. Derjenige, der getötet worden war, wohnte wohl nicht dort. Warum der Mord in ihrer Umgebung geschehen war, wusste die Polizei offenbar nicht, es war vielleicht einfach nur Zufall.
Birgitta versuchte sich einzureden, dass es wohl so war. Und sie hatte in der Zeitung gelesen, dass der Mörder absolut nicht pädophil war. Es war ein Experte, der das gesagt hatte, einer von diesen Typen, die immer etwas zu sagen hatten, wenn es um Mord ging.
Birgitta hoffte, dass es so war, doch, sie fühlte sich fast sicher.
Viertel vor fünf war sie zu Hause in Älvsjö. Bengt war schon wieder da, dabei hatte sie ihn erst gegen sechs erwartet.
Er saß auf dem Balkon, sagte aber nichts, als sie die Tür öffnete. Sie sah nicht einmal seine Jacke, da er sie anbehalten hatte. Erst, als sie die Einkäufe auf der Arbeitsplatte in der Küche abstellte, sah sie die verschüttete Bierlache und begriff.
»Bist du zu Hause?«, rief sie und ging dabei hastig zur Balkontür.
Er las eine Zeitung, nahm einen Schluck aus dem Bierglas, sah auf, verstand nicht, warum sie so zu ihm hastete.
»Du bist ja wieder spät«, sagte er.
»Es gab überall nur lange Schlangen.«
»Mmh, sollen wir noch eine Kleinigkeit essen, bevor wir aufbrechen?«
»Ein Brot vielleicht, ich kann schnell welche machen, willst du etwas Besonderes drauf?«
»Na ja, ich weiß nicht, ist egal.«
Er war wieder zu seiner Zeitung zurückgekehrt. Birgitta war schon auf dem Weg zurück in die Küche, als sie anhielt.
»Schreiben sie was?«, fragte sie.
Es war der Mord, den sie meinte. Aber Bengt las den Sportteil, Hammarby hatte Örebro zwei zu eins geschlagen. Er hörte Birgittas Frage, verstand sie aber nicht und gab keine Antwort.
Als sie Brotlaib, Butter und Belag zurechtlegte, dachte sie immer noch an den Mord und an die Jungen, aber eine andere Sorge gewann die Oberhand:
Wie würde der Abend werden? Sie wusste es noch nicht, es war noch zu früh, aber vielleicht würde es ja gut gehen. Sie hoffte es. Sie wusste es nicht, aber sie hatte gelernt, dass das Blatt sich schnell wenden konnte. Aber sie hoffte immer.
Sie aßen die Brote in der Küche. Bengt öffnete noch ein Bier, sagte, dass er es ruhig angehen lassen wolle, es mache nichts, wenn sie erst gegen acht kämen. Sie könnten ja das Auto nehmen, und Birgitta könnte später zurückfahren.
»Natürlich«, antwortete sie, »ich fahre.«
Bengt pflegte selten im Voraus zu sagen, dass sie ja nach Hause fahren könnte, wenn sie eingeladen waren, aber es war meistens der Fall, da er gerne trank und sie sich zurückhielt. Aber jetzt sagte er es, und sie fragte sich, warum.
Nein, sie fragte sich wohl nicht, sie hatte es verstanden. Er wollte ausspannen, er hatte sicherlich die ganze Zeit an das Abendessen gedacht, sich darauf gefreut, seinen Bruder und seine Schwägerin zu treffen, mit ihnen essen und trinken zu können.
Leila kam, bevor sie fuhren. Sie hatte eine Flasche Wein dabei, sie hatte versprochen, nach den Jungen zu sehen, sie ins Bett zu bringen und bei ihnen zu bleiben, bis sie eingeschlafen waren, vielleicht eine Weile zu sich nach Hause zu gehen, dann aber wieder hineinzuschauen, und sie würde anrufen, wenn etwas sein sollte.
Leila Nurmes wohnte im Aufgang nebenan, sie hatte ihren Schlüssel.
Als sie sich von Leila verabschiedeten, dachte Birgitta, dass sie lieber mit ihrer Freundin zu Hause geblieben wäre, Wein getrunken und geredet, die Zeit hätte vergehen lassen. Und sie fühlte, dass Leila genauso dachte. Sie mochten sich, sie hatten immer eine Menge zu bereden. »Ein anderes Mal«, sagte Leila, als ob sie Birgittas Gedanken gelesen hätte.
Sie lächelten einander an, als sie sich verabschiedeten.
Bengt fuhr, obwohl er schon einige Starkbiere getrunken hatte. Er saß stumm hinter dem Steuer. Birgitta versuchte, über die Jungen zu sprechen, über Dinge, die sie auf der Arbeit getan hatte, über eine Fernsehsendung, die sie gesehen hatte, gab aber auf, als sie keine Antwort bekam. Erst als sie vom Nynäsväg nach Tyresö abbogen, murmelte Bengt etwas, das Birgitta nicht verstehen konnte.
»Wie bitte?«, fragte sie.
»Wie bitte?«, äffte Bengt sie nach.
»Es tut mir leid, ich habe dich nicht verstanden.«
»Ich sagte, du wärst vielleicht lieber zu Hause geblieben.«
»Nein, nein, ich finde es schön, Ann-Charlotte und Lasse zu sehen, wirklich.«
Bengt sagte nichts mehr. Das letzte Stück bis zum Zentrum von Tyresö fuhr er unnötig schnell, fand Birgitta.
Sie waren sieben Leute am Tisch, die beiden Gastgeber, ihre Nachbarn und ein Norweger in den Sechzigern, ein neuer Arbeitskollege von Bengts Bruder Lasse.
Der Norweger hieß Einar, und er hatte eine missgebildete rechte Hand. Er war der einzige in der Runde, der nicht rauchte. Er begrüßte alle mit der linken Hand, ergriff die ihm entgegengestreckte Hand mit einem umgekehrten Griff, schüttelte sie recht kräftig, lächelte lange, sah demjenigen, dem er vorgestellt wurde, in die Augen, wiederholte den Namen.
»Birgitta«, sagte er, »nett, dich kennen lernen zu dürfen.« Birgitta lächelte zurück, sagte aber nichts.
»Bengt«, fuhr der Norweger fort, »sehr schön, dich kennen zu lernen.«
Er hatte allem Anschein nach auch die anderen so lächelnd und umständlich begrüßt, bevor Birgitta und Bengt kamen.
»Mit dieser Hand wurde ich geboren«, sagte er. »Ich meine, wir werden natürlich alle mit unseren Händen geboren, aber diese Hand wollte einfach nicht mitwachsen, so bin ich also mit genau dieser geboren.«
Mehr wurde über die verkrüppelte Hand des Norwegers nicht gesagt. Aber er hatte mit seiner Freundlichkeit, seinem Lächeln und dem Interesse an seinem Gegenüber den Ton vorgegeben.
Der Abend wurde sehr nett, vielleicht war es das Verdienst des Norwegers. Bengt stieß oft mit seinem Bruder an, der Norweger nippte nur am Glas. Bengt trank aus und füllte sich selbst nach. Er war hier ja fast zu Hause.
Sie brachen um halb eins auf. Bengt schlief im Auto ein. Birgitta ließ ihn schlafen, hielt ihn unter einem Arm fest, als sie das letzte Stück zum Haus gingen, in den Eingang kamen, mit dem Fahrstuhl hochfuhren.
Leila war noch da, Bengt ging zur Toilette. Leila erzählte, dass alles ruhig gewesen war. Nein, sie wollte nicht bleiben, sie wollte nach Hause und schlafen.
Sie umarmten sich.
Birgitta hatte gehofft, dass Bengt richtig müde war und sofort ins Bett gehen würde. Aber er wollte noch aufbleiben und bat sie, noch etwas zu trinken zu holen und sich mit ihm aufs Sofa zu setzen.
Sie holte eine Flasche Wein und zwei Gläser.
Sie rauchten, sagten nichts, tranken die Gläser recht schnell leer, füllten sie wieder auf. Jetzt wusste Birgitta, dass etwas passieren würde, und sie entschied sich zu versuchen, so schnell wie möglich betrunken zu werden.
»Er war nett«, sagte Bengt.
»Wen meinst du?«, fragte Birgitta, obwohl sie es wusste.
»Ja, wen zum Teufel glaubst du denn, den ich meine?«
»Meinst du den Norweger?«
»Genau den, der Norweger war so verdammt nett.«
»Na ja, es ging so.«
»Zum Teufel, lüg mir nicht ins Gesicht!«
Bengt sprach langsam mit leiser Stimme, machte kleine Pausen zwischen den letzten Worten im Satz.
»Er war eben ...«, versuchte Birgitta, aber Bengt unterbrach sie und erhob jetzt die Stimme, schrie die letzten Worte:
»Lüg nicht ... zum Teufel!«
Birgitta trank ihr Glas aus, füllte nach, die Flasche war leer. Sie sehnte sich nach mehr Alkohol, erhob sich mit dem leeren Glas in der Hand, ging hinaus in die Küche, wusste, dass ihr nur noch wenig Zeit blieb.
Sie fand keinen Wein, goss sich aber einen Schluck Whisky ein, trank ihn aus, füllte nach. Aber die Angst war schon zu groß. Der zunehmende Rausch war nicht ausreichend, der Alkohol würde es nicht schaffen, ihre tiefe Furcht einzuholen.
Widerwillig ging sie zurück ins Zimmer. Bengt empfing sie an der Tür, schlug mit der offenen Hand gegen ihre Wange. Ihr Kopf wurde zurückgeworfen, und sie schwankte, fiel aber nicht. Schnell näherte er sich ihr, und jetzt traf seine geballte Faust ihre Brust, dann folgte ein Schlag in den Bauch. Sie stieß gegen die Wand und sank dann auf den Boden, krümmte sich in Embryonalhaltung zusammen, versuchte, das Gesicht mit den Händen zu schützen. Er beugte sich hinunter, schlug weiter gegen ihren Körper, gegen die Schultern, gegen den Hals, gegen die Brust.
Sie lag ganz still, ließ die Schläge kommen. Und es war, als wäre sie gar nicht mehr richtig anwesend. Er war ein unbekannter Mann, und sie war eine andere Frau. Das Wohnzimmer lag an einem anderen Platz, in einem anderen Land, wo es keine Gefühle gab, keine Gedanken, keine normalen Menschen.
Sie war nicht länger jemand.
Sie kam in dem Augenblick wieder zu sich, als die Jungen im Zimmer standen. Zunächst begriff sie nicht, was geschehen war, dann wusste sie, dass es wieder passiert war. Bengt war weg, er hatte sich wohl hingelegt. Aber ihre beiden Söhne standen direkt vor ihr. Der Jüngere weinte, der Ältere stand da, ohne etwas zu sagen und ohne etwas zu tun.
Als Birgitta versuchte, mit ihnen zu sprechen, hörte sie, dass es seltsam klang. Sie fühlte mit der Hand am Mund nach und merkte, dass irgendetwas mit den Lippen und der Zunge passiert war.
9.
Verner hatte ziemlich lange gezögert, aber schlussendlich schluckte er die beiden weißen, ovalen Tabletten. Es war halb fünf am Nachmittag, er hätte seine Medizin nach ärztlicher Anweisung eigentlich schon um zwei nehmen sollen.
Er stand lange im Badezimmer vor dem Schränkchen und betrachtete die Reihe von kleinen Pillendosen. Dann öffnete er eine davon, ließ einige leuchtend gelbe Pillen auf seine Handfläche kullern. Er schloss die Faust, öffnete die Hand wieder, sah auf die Pillen. Dann nahm er zwei davon in den Mund, schluckte sie hinunter und steckte die restlichen in die Hosentasche. Erst danach trank er ein wenig Wasser. Eigentlich brauchte er das gar nicht, denn er hatte nur selten einen trockenen Mund.
Er war auf dem Weg nach draußen. Er würde irgendwo hingehen, vielleicht auswärts essen, dann weiter gehen, um müde zu werden, noch weiter gehen, um erschöpft zu sein, den Tag beenden zu können, schläfrig zu werden, spät nach Hause zu kommen und, wenn möglich, auch einzuschlafen. Nicht träumen, nur schlafen, die ganze Nacht.
Aber Verner wusste, dass das so gut wie nie geschah. Meistens lag er schlaflos im Bett und schlief nur wenige Stunden, fiel erst dann in Tiefschlaf, wenn der Tag dämmerte.
Eine Gruppe halbwüchsiger Jungen stand beim Tabakladen, vielleicht waren es Türken, Kurden oder Zigeuner, Verner wusste es nicht. Er machte einen Bogen um sie, hörte einige Kommentare, ging weiter und kümmerte sich nicht darum, was sie sagten oder taten. Er hatte keine Angst vor ihnen, dennoch war er zur Seite gegangen. Wenn ihn jemand gefragt hätte, warum, hätte er keine Antwort darauf gehabt.
Der Zug fuhr um fünf nach halb sechs. Er hatte nicht geplant, in die Stadt zu fahren, es kam einfach dazu.
Er stieg am Hauptbahnhof aus, ging die Vasagata in Richtung Kungsgata hinunter, bog nach links zum Hötorg ab, kam an erleuchteten Schaufenstern vorbei und erinnerte sich, wie er dort als Kind mit seinem Vater die Weihnachtsdekorationen betrachtet hatte. Das hatten sie wohl mehr als einmal getan, vielleicht nur um einer Art Tradition willen?
Er hatte seinen Vater nur zu besonderen Anlässen getroffen, seine Eltern hatten niemals zusammengelebt, und er hatte nur vage Erinnerungen an diese Treffen. Aber jetzt trat ein Bild aus dem Dunkel seines Gedächtnisses hervor: Er hielt die Hand seines Vaters, sie standen vor einem Kaufhaus. War es vielleicht das PUB, genau hier, wo Verner sich jetzt befand, viele Jahre später? Das Bild lebte noch einige Sekunden und verblasste dann. Verner konnte sich nicht entsinnen, sich an dieses Erlebnis schon vorher einmal erinnert zu haben, und zunächst zweifelte er, dann war er verwundert. Die Verwunderung dauerte einige Minuten, wurde durch eine stetig ansteigende Unruhe ersetzt und einen Druck auf der Brust. Verner nahm einige der leuchtend gelben Pillen aus der Hosentasche, schluckte sie und ging weiter.
Die Medizin wirkte recht schnell, die Unruhe war im Großen und Ganzen schon weg, als er sich dem Stureplan näherte.
Er aß einen Hamburger bei McDonald‘s, trank ein Glas Milch, dachte an etwas Stärkeres, Whisky vielleicht. Das pflegte er selten zu tun. Seit er angefangen hatte, die Medikamente zu nehmen, trank er nicht mehr.
Es war halb neun. Er setzte seine Wanderung fort, ging für mehrere Stunden planlos in der City herum. Er bekam aber nicht wieder Hunger, ging schnell, hielt nicht an, vermied es, andere Menschen anzusehen.
Zwanzig vor elf war er auf dem Rückweg zum Hauptbahnhof. Er kam vom Sergels Torg, ging nach links durch die Klarabergsgata zum oberen Eingang und sah zunächst flüchtig hinunter auf das Treiben auf der Vasagata unter der Fußgängerüberführung.
Zum ersten Mal, seit er den Hamburger gegessen hatte, hielt er an und blieb eine Weile stehen, fing an, die Menschen dort unten zu beobachten. Die meisten waren allein, es gab auch Paare und einige Gruppen von Jugendlichen. Jemand stand an der Wand, eine junge Frau. Vielleicht wartete sie? Nein, sie war wohl nicht allein, ein Mann stand ein Stück entfernt neben ihr und kramte in einer Tasche. Dann wandte sich der Mann der Frau zu und ging raschen Schrittes auf sie zu.
Alles ging sehr schnell. Der Mann ließ die Tasche fallen, hob die Hand und schlug die Frau. Sie hielt beide Hände vors Gesicht, doch der Mann schlug weiter. Die Frau, schwer getroffen, sank in sich zusammen und der Mann verpasste ihr noch zwei, drei weitere Schläge. Dann nahm er seine Tasche, stellte sich an die Wand und sah auf die Frau hinunter. Sie saß in der Hocke, stützte sich mit der einen Hand auf den schwarzen Asphalt. Langsam hob sie den Kopf, sah den Mann an, der sich nicht rührte.
Nach einigen Minuten tat der Mann einige Schritte zurück in Richtung der Frau. Er stellte die Tasche ab, auf die gleiche Art und Weise wie zuvor. Und als die Frau sich aufrichtete, schlug er sie wieder.
Jetzt fiel sie der Länge nach hin. Der Mann zog sich zurück, dieses Mal hob er seine Tasche nicht mehr auf.
Verner sah alles von der Überführung aus. Wenn der Mann und die Frau nach oben geblickt hätten, würden sie vielleicht Verners Gesicht über dem Geländer gesehen haben, aber die Frau lag auf dem Bürgersteig, und der Mann starrte auf sie hinunter, mit leicht erhobenen Händen, bereit zu neuen Schlägen.
Einige Minuten vergingen, und die beiden waren immer noch da, sie zusammengekrümmt, er in angespannter Kampfhaltung.
Dann ging Verner davon. Er ignorierte die Treppe, auf der er zu der Frau hätte hinuntergehen können, ging ein Stück weiter, schräg über die Straße und durch die Tür in die obere Eingangshalle des Hauptbahnhofs.
Eine Viertelstunde später saß er im Pendelzug Richtung Alvsjö.
Er ging nicht auf direktem Weg nach Hause. Er ging durchs Zentrum, vorbei an den Mietshäusern am Törnrosväg, wo er wohnte, hinauf Richtung Krankenhaus, in das kleine Wäldchen hinein. Er ging schnell, rannte, rang nach Atem, wusste, dass bald etwas geschehen würde. Etwas war dabei, nach ihm zu greifen, ein erstickendes Gefühl, eine zunehmende Angst.
Wieder sah er die verprügelte Frau vor sich, den drohenden Mann, und erlebte seine eigene Schwäche, seine Feigheit. Als er seinen Aussichtsplatz auf dem Fußgängerüberweg verließ, hatte er nichts gefühlt. Für eine lange Zeit, für mehrere Jahre vielleicht sogar, war er nicht mehr in die Nähe seines alten Zorns gekommen. Nun näherte der sich, und er kam in Form von Erschrecken und verwandelte sich in Selbstverachtung und Schuld.
Verner war stehen geblieben, ging jetzt aber hastig weiter, fing wieder an zu rennen, zwischen den Häusern von Solberga, vorbei an Spielplätzen, parkenden Autos, aufgestellten Containern. Und er spürte dieses Verlangen nach Schnaps, das er bereits vor einigen Stunden in der Stadt verspürt hatte.
Er rannte immer noch, er war erschöpft, er stolperte, als er am Kristalltorg ankam. Als er die Pizzeria betrat, schnaufte er gewaltig. Es war nach halb zwölf, die Gaststätte würde bald schließen. Aber Verner bekam eine Karaffe mit Rotwein, und er trank sie hastig leer, bestellte eine weitere. Der unrasierte Mann, der servierte, gab Verner die zweite Karaffe nur zögernd. Aber es saßen viele angetrunkene Männer im Lokal, warum sollte dieser Gast leer ausgehen? Er sah nicht heruntergekommen aus wie die meisten anderen, er war wohl nur durstig und hatte es eilig.
Nach drei Vierteln legte Verner drei Hundertkronenscheine auf den Tisch und erhob sich, um das Lokal verlassen. Er schwankte, stützte sich mit der Hand an der Wand ab, taumelte und fiel.
Der Unrasierte war gleich da, ergriff Verners Arm, zog ihn hoch und führte ihn zur Tür.
Verner schaffte es, fünfundzwanzig Meter zu gehen und die Hausecke zu umrunden, bevor er fiel. Er schürfte sich die Wange an einem Fahrradständer auf, schlug sich die Knöchel an der scharfen Bürgersteigkante blutig und blieb liegen.
Als die übrigen Gäste der Pizzeria aufbrachen, gingen sie in die andere Richtung. Niemand sah Verner.
Er lag immer noch da, das Blut gerann auf den aufgeschürften Fingern. Es war halb vier, als er hörte, dass jemand mit ihm sprach.
»Hier kannst du doch nicht liegen!«, sagte der Unbekannte.
Verner antwortete nicht. Jetzt merkte er, wie der, der ihn angesprochen hatte, seinen Kopf hob.
»Hör zu, es ist ein Polizeiauto in der Nähe, wenn du hier liegen bleibst, nehmen sie dich mit!«
Verner hörte das Wort Polizei, und ganz allmählich ging ihm auf, dass das Probleme bedeuten könnte. Er versuchte sich aufzurichten, aber er schaffte es nur, die eine Schulter ein wenig vom Bürgersteig zu erheben.
»Verdammt, so geht das nicht«, sagte der Unbekannte und begann gleichzeitig, an Verners rechtem Arm zu ziehen. Verner half mit, legte den Arm um den Hals des Mannes, schaffte es, dass das eine Bein ihm gehorchte und bewegte sich so langsam in eine halb sitzende Stellung, erhob sich mit Mühe. Sie begannen zu gehen, der Mann stützte, Verner stolperte langsam vorwärts, entlang der Häuserreihe, um eine Straßenecke, hinein in einen Hauseingang. Dort blieben sie stehen und ruhten sich aus.
»Du kannst bei mir schlafen«, sagte der Mann.
Verner antwortete nicht, folgte ihm aber, denn er sah ein, dass er es nicht mehr bis zu sich nach Hause schaffen würde, und erst jetzt begriff er auch, dass das Polizeiauto, von dem der Mann gesprochen hatte, eine wirkliche Gefahr darstellte.
»Ich wohne im Erdgeschoss«, sagte der Mann, als er Verner durch den Hauseingang zum Haus bugsierte.
Verner antwortete nicht, nahm aber an, dass das, was der Mann sagte, etwas Positives war, er war müde und musste jetzt keine Treppen mehr steigen.
Der Mann schloss seine Tür auf, zog Verner hinein, schloss die Tür vorsichtig.
»Ich heiße Stig«, sagte er.
Verner murmelte seinen Namen, sogar auch den Nachnamen, er fühlte, dass er versuchen musste, so deutlich wie möglich zu sprechen.
Es war kurz nach sieben Uhr morgens, als Verner erwachte. Er lag auf einem Sofa, eine Wolldecke über sich gebreitet. Er richtete sich so leise wie möglich auf. Kopfschmerzen schossen ihm in den Nacken wie ein Hammerschlag und drückten ihn aufs Sofa zurück.
Einige Minuten später wagte er wieder einen Versuch, diesmal wesentlich langsamer. Der Schmerz war diesmal nicht ganz so erbarmungslos, trotzdem ließ er sich wiederum zurücksinken.
Der dritte Versuch war immer noch schmerzhaft, aber Verner zwang sich dazu aufzustehen. Ihm wurde schwarz vor den Augen, aber einige Minuten später sah er das Zimmer wieder. Er machte einen Schritt, hielt an, machte dann noch einen. Er schleppte sich in die Küche, zum Wasserhahn, fand ein Glas und trank, füllte es und trank wieder, ein ums andere Mal.
Dann verließ er die Wohnung, ohne den Mann zu wecken, der sich ihm als Stig vorgestellt hatte.
Verner wollte nach Hause. Die Kopfschmerzen waren noch da, der Druck auf der Brust auch und die wachsende Unruhe. Aber er wusste, dass das, was er gerade fühlte, noch viel schlimmer werden konnte. Er wollte seine Medizin nehmen, wie immer, bevor es unerträglich werden konnte. Aber unmittelbar nachdem er diesen Gedanken gedacht hatte, hielt er inne, ihm kamen kurz Zweifel, ein kurzer Einspruch, der im nächsten Augenblick wieder durch eine verstärkte und sich steigernde Unruhe ersetzt wurde, ein starkes Gefühl von Verzweiflung.
Er ging durch Solberga, langsam, atmete tief ein, blieb oft stehen.
Jemand rief nach einem Hund, als Verner in den Hof kam. Er beeilte sich aufzuschließen, setzte sich aufs Bett, ohne sich die Jacke auszuziehen, und blieb dort sitzen, eine Viertelstunde, zwanzig Minuten. Vielleicht war der Entschluss schon seit einiger Zeit in ihm gereift, ohne dass er sich dessen bewusst war, aber nun entschied er sich, trotz der Unruhe, trotz der bedrohlichen Angst. Er ging ins Badezimmer, stand eine Weile vor dem Spiegelschrank, nahm eins der Döschen heraus, schraubte es auf, stellte es zurück.
Er wusste, dass das, was er vor sich hatte, unerhört schwer werden würde, vor allem in der nächsten Zeit. Er war überzeugt davon.
Aber er dachte an die misshandelte Frau, die er gesehen hatte, und die Scham, die jetzt wieder in ihm auflebte, war größer als die Angst vor dem, was er würde durchstehen müssen, das Gefühl von Ekel über die Feigheit, bei der er sich selbst ertappt hatte, schien weitaus weniger erträglich.
Dennoch kamen ihm große Zweifel, als er das Döschen wieder aufschraubte. Dann schüttete er den Inhalt in die Toilette, das Gleiche tat er mit den anderen sechs Döschen.
Bevor er spülte, betrachtete er den Haufen unterschiedlich gefärbter Pillen, der sich unter dem ovalen Wasserspiegel der Toilette gesammelt hatte und er dachte, dass das, was er jetzt tat, genauso wahnsinnig war, wie auf einem sinkenden Schiff zu stehen und Löcher in die Rettungsboote zu bohren. Dennoch drückte er die Spülung, wartete und ließ den Spülkasten wieder voll laufen, spülte nochmals und dann noch einmal.