Kitabı oku: «Pflegekinder», sayfa 7

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Typologische Auswertung

Nachdem die Anstalten und Vereine auf regionale, konfessionelle und geschlechtsspezifische Faktoren hin untersucht wurden, soll eine typologisierte Klassifikation Aussagen über die verschiedenen Arten von Anstalten und Vereinen zulassen (siehe Grafik 4 im Anhang): 1) Waisenhaus, Anstalt, Armenerziehungsanstalt, 2) Sonderheime (Blinden-, Taubstummen-Anstalten, Einrichtungen für «Epileptische» und so weiter), 3) Vertreter der nicht dauerhaften Platzierung wie Tageshorte und Kindergärten, 4) Vereine mit Fremdplatzierungscharakter, 5) Pflegekinderkontrollbehörden privater oder öffentlicher Natur, Amtsvormünder.

Die ältesten Vertreter der schweizerischen Fürsorgelandschaft stellten die städtisch-bürgerlichen Waisenhäuser und einzelne Erziehungsanstalten dar. Diese wurden ab den 1830er-Jahren durch Institutionen für Kinder mit speziellen Bedürfnissen ergänzt. Die Vereine mit Fremdplatzierungscharakter zählten ebenfalls zu den bereits um 1800 vorhandenen Typen, wuchsen jedoch bis 1860 nur sehr schwach an, ihre Zahl stieg erst ab den 1880er-Jahren kontinuierlich. Die interessanteste Entwicklung weisen die Tageshorte, -krippen und Kindergärten auf. Ihre Anzahl nimmt ab 1860 rasant zu und widerspiegelt nicht zuletzt ein neues «Angebot» im Fürsorgefächer, nämlich die zu Beginn städtische und nach und nach auch in ländlicheren Gegenden einsetzende «Tagesaufsicht». Wobei hier davon ausgegangen werden muss, dass die Anzahl Plätze in Kindergärten oder Anstalten sehr ungleich waren.

Interessant ist dieser Zuwachs insofern, als er nicht das Ende der Entwicklung von Anstalten oder auch Vereinen besiegelte. Nach wie vor schienen die steigenden Institutions- und Vereinsgründungen für die dauerhafte Fremdplatzierung einen erhöhten Bedarf wiederzugeben. Auch die nach 1900 eingesetzten Fremdplatzierungskontrollorgane (seien sie privater oder öffentlicher Natur) und die Amtsvormundschaften nahmen nach wie vor offenbar regen Gebrauch davon, ihre Mündel über die traditionellen Anstalten und Vereine zu platzieren.

Rationalisierung der Fürsorge

Die vorgestellten Überblickswerke über die schweizerische Fürsorgelandschaft sollten im Rahmen einer Bestandsaufnahme primär einen Einblick in die verschiedenen Facetten der Fremdplatzierung und deren Kontextualisierung in kantonale und regionale Rahmenbedingungen bieten. Zu bedenken gilt es, dass immer nur die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen der Unterschichten im Fokus stand, nie die längerfristige Platzierung vermögender Kinder beispielsweise in Internaten oder Landerziehungsheimen. Darüber hinaus waren die Werke sehr kontextgebunden, die ältesten entstanden im Vorfeld von Weltausstellungen und wurden von einer «freisinnigen» Schweiz initiiert, die von sich selbst das Bild eines modernen, zeitgenössischen und «humanen» Umgangs mit ihren armen Mitbürgern portieren wollte. Hierbei kamen die von katholisch-konservativen Kräften bereits früher oder insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts initiierten Einrichtungen oder Fonds ins Hintertreffen.102

Im Fokus standen dann auch meistens die auf Bürgerinitiative geschaffenen Vereine oder die neuen, modernen und humanitären Anstalten und weniger die nach wie vor existierenden kommunalen Armenspittel, Siechen- und Waisenhäuser. Natürlich trug auch die aus Deutschland stammende Kritik an den veralteten Waisenhäusern ihren Teil dazu bei, dass neue Modelle wie die landwirtschaftlichen Armenschulen oder Armenerziehungsanstalten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts prosperierten.103 Die jüngeren Werke aus dem 20. Jahrhundert besitzen dagegen mehr den Charakter eines Adressenverzeichnisses für Gemeinde-, Schulbehörden und Fachstellen und deuten letztlich auch auf die Professionalisierung und Diversifizierung der sozialen Berufe hin.104

Ausbau, Individualisierung und Professionalisierung der Armenpflege

Aus den «althergebrachten» Institutionen, 105 die noch vor der Aufklärung insbesondere reine lebenserhaltende «Aufbewahrungsanstalten» und Ballungszentren finanziell und sozial benachteiligter Waisen und sozial Devianter waren, wurden mit den Ideen Pestalozzis, 106 Fellenbergs und Wehrlis – mittels einer pädagogischen Armutsbekämpfung durch Erziehung – Orte der Sozialisierung. Es lassen sich grundsätzlich drei verschiedene Typen von Anstalten unterscheiden: die philanthropischen Armenerziehungsanstalten nach Vorbild der Wehrlischule, die pietistischen Rettungshäuser und einige nach den Leitsätzen von Pater Theodosius Florentini geführte, katholisch geprägte Heime.107 Vereine zur Fremdplatzierung bestanden in viel kleinerer Zahl.

Diese Erziehung zum mündigen Erwachsenen stand unter verschiedenen Vorzeichen. Sie ging davon aus, dass die leiblichen Eltern in ihren Erziehungspflichten versagten und deshalb die Gesellschaft korrigierend eingreifen musste; nach wie vor wurde Armut kriminalisiert. Die Vorstellung der Unterscheidung einer unverschuldeten und selbstverschuldeten Armut führte zu armenpolizeilichen Massnahmen, die Zwangsarbeit oder Anstaltseinweisung ermöglichten. Zudem führte die Unterstützungsabhängigkeit, sprich «Armengenössigkeit» teilweise zum Verlust einiger Bürgerrechte und zog weitere restriktive Massnahmen (Heiratsverbot für Vermögenslose) nach sich, die die Betroffenen aus dem Gemeindeleben ausschlossen.

Eine der schärfsten Massnahmen lag in der sogenannten «Auflösung der Familie», wobei Eltern wie auch Kinder von der Heimatgemeinde an verschiedene Orte fremdplatziert wurden.108 Diese Intervention fand in Form der Familien- oder Anstaltsplatzierung statt, um die Kinder und Jugendlichen aus dem angestammten «nachteiligen Umfeld» zu lösen und in eine «heilsame» Umgebung mit patriarchalisch-familiären Strukturen zu bringen. Der neue Anstaltstypus, der sich von den Armenspitteln durch die Grösse, einheitliche Altersstruktur und «pädagogische Ideale» unterschied, stellte die Exklusion der Insassen aus der Gesellschaft dar mit dem Ziel, dieselben später als mündige und würdige Bürger wieder zu integrieren.109 Anstalten und Pflegefamilien sollten mittels mustergültigem Familienleben den Kindern eine schützende Umgebung bieten und waren somit in gewisser Weise ein Familiensurrogat.

Die idealisierte Erziehung armer Kinder orientierte sich an bürgerlichen Werten einer Mittel- und Oberschicht und musste im noch «bildungsfähigen» Kindesalter zwischen vier und zwölf Jahren erfolgen: In dieser Zeitspanne zahlte sich anscheinend der Aufwand für die Gesellschaft noch aus.110 Die Erziehung zum «rechtschaffenen» Bürger trug in sich auch das Ziel der Erwerbsfähigkeit und der finanziell selbsttragenden Lebensführung. Insbesondere bei den pietistischen «Rettungshäusern» oder den industriellen Arbeitserziehungsanstalten hatte die Arbeit einen pädagogischen Stellenwert.111 Die Erziehung war stark konfessionsgebunden112 und unterschied sich zwischen Stadt und Land.113 Konsens bestand allerdings in den Erziehungszielen:

«Ganz allgemein war in Bezug auf die Erziehung armer Bevölkerungsschichten das Ziel, die jungen Menschen zur Arbeit zu erziehen, zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft und guten Christen zu machen, damit sie keine Gefahr für die bürgerliche Ordnung darstellten, sich selbst ernähren konnten und somit später nicht wieder durch die öffentliche Hand unterstützt werden mussten oder straffällig wurden.»114

Die Gründung von Anstalten und Vereinen muss aber auch im Spannungsfeld zwischen einer engagierten ortsansässigen Bevölkerung und einem starren behördlichen Unterstützungssystem gesehen werden. Insbesondere die «freiwilligen Armenpflegen» unterstützten ortsansässige Arme, deren armenrechtlich zuständige Heimatgemeinde anderswo lag. Die Armenunterstützung war eine kommunale Aufgabe und somit wie das Vereinswesen dezidiert lokal. Armut war eine sichtbare Grösse (Physiognomie, Kleidung), mit der sich die Ortsbürger in ihrem Alltag konfrontiert sahen. Der Zusammenschluss zu Trägerverbänden für Anstalten oder zu Vereinen mit dem Ziel der Fremdplatzierung von Kindern ist Ausdruck einer gewünschten philanthropischen Intervention mit dem Ziel, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und eine spürbare Veränderung zu bewirken.115

«Sozietäten konnten aufgrund dieser schwachen staatlichen Infrastruktur und der zunehmenden Komplexität des ökonomischen Systems sowie vor dem Hintergrund eines zunehmenden staatlichen Interventionismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Status parastaatlicher Institutionen erlangen: Die staatliche Verwaltung war auf die Expertisen der Sozietäten angewiesen, weil sie diese angesichts der eigenen beschränkten Ressourcen selbst nicht generieren konnte.»116

Die von Privaten ausgehende und auch von öffentlichen Stellen aufgenommene Professionalisierung der Armenfürsorge und insbesondere die Differenzierung der verschiedenen Anstaltstypen führten dazu, dass das 19. Jahrhundert in der Forschung als «Anstaltsjahrhundert» bezeichnet wird. In der Regel herrschte gesellschaftlicher Konsens, wie die Anstalts- und Familienerziehung oder Nacherziehung von sozial Devianten zu erfolgen habe.117 Die Rahmenbedingungen in der praktischen Armenfürsorge stellten vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der Bevölkerungsvermehrung insbesondere die städtischen Armenpflegen vor Herausforderungen. Die Bevölkerung war vor existenziellen Risiken wie Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit nicht gesichert. Die föderalistischen Strukturen der Schweiz brachten mit sich, dass die in den Gemeinden und Kantonen angesiedelten Kompetenzen untereinander stark variierten, was von Zeitgenossen als hinderlich angesehen wurde. Eine Harmonisierung der Strukturen, eine Professionalisierung der Abläufe und eine internationale Vernetzung wurde von der 1905 durch Carl Alfred Schmid und Albert Wild gegründeten Schweizerischen Armenpflegerkonferenz eingefordert:118 «Das zentralste und verbindendste Element der frühen Exponenten der Schweizerischen Armenpflegerkonferenz war ihre Vision einer ‹rationellen› Armenpflege, die unkoordinierte Formen der öffentlichen Armenpflege ablösen sollte. ‹Planmässige› Hilfe konnte aber nach der Ansicht zahlreicher Fürsorgebehörden nur dort ansetzen, wo die spezifischen Bedürfnisse der Notleidenden bekannt waren.»119 Angesprochen war die Individualisierung der Unterstützungsbedürftigen, wie sie 1853 erstmals im deutschen Elberfeld praktiziert wurde. Das «Elberfelder Armensystem», das in verschiedenen Schweizer Städten rezipiert wurde, fusste auf einer bezirksweise organisierten Armenpflege, wobei jeweils ein ehrenamtlicher Armenpfleger Ansprechperson für die Hilfsbedürftigen war und direkte Unterstützungen verabfolgen konnte. «Die einzelnen Armen sollten in ihrer spezifischen Bedürftigkeit erfasst, von anderen Armen unterschieden und entsprechend ihrer Notlage betreut werden.»120

Um die Jahrhundertwende stiessen diese freiwilligen Armenpflegen allerdings aufgrund von Bevölkerungswachstum und Rekrutierungsschwierigkeiten oftmals an ihre Grenzen. Das Elberfelder wurde durch das Strassburger System abgelöst, das die Quartierstruktur nicht mehr berücksichtigte, sondern ein zentrales Armenamt vorsah. Diese rationelle Armenpflege brachte somit die Individualisierung der Unterstützungsleistungen als Einzelfallhilfe mit sich und mit der Ausdifferenzierung und Professionalisierung der (städtischen) Armenpflegen auch einen erweiterten Behördenapparat. Insbesondere für männliche Fürsorgefunktionäre, Armeninspektoren und Berufsarmenpfleger entstanden Arbeitsmöglichkeiten, für die nun eine spezifische Berufsausbildung verlangt wurde.121 Bei weiblichen Ausbildungsgängen waren es insbesondere Exponentinnen der frühen Frauenbewegung, die sich erfolgreich einbrachten und die «Sozialen Frauenschulen» etablierten. Aufgrund des hohen Schulgelds standen diese aber meist nur Töchtern der oberen Bürgerschicht offen. Der Abschluss vergrösserte die Chancen zur Ausübung der im «Zuge des Ausbaus des Sozialstaates» geschaffenen besoldeten Stellen für Frauen.122 Nach dem Zweiten Weltkrieg verdreifachten sich bis 1965 die Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit, der Bedarf an Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern stieg in der «Expansionsphase des Schweizer Sozialstaates».123 Initiativen, die Soziale Arbeit auf universitärer Stufe anzusiedeln, misslangen lange Zeit. Erst 1961 erfolgte die Akademisierung an der Universität Freiburg am Institut für Pädagogik, Heilpädagogik und angewandte Psychologie.124

Nach dem Zweiten Weltkrieg prosperierte die Schweizer Wirtschaft, der Arbeitsmarkt bot Chancen, medizinische Fortschritte und die stärker ausgebauten Sozialversicherungswerke führten letztlich dazu, dass armenrechtliche Platzierungen zurückgingen. «Familienergänzende Betreuungsmodelle wie Kinderkrippen und Horte gewannen zunehmend […] an Bedeutung.»125 Die Fremdplatzierung galt nicht mehr länger als zwingendes und einziges Fürsorgemodell für Kinder, sodass vermehrt «Hilfe» in die Familien gebracht wurde.

Die «Jugendfürsorge» privater und öffentlich-rechtlicher Träger

Mit dem «Ersten Schweizerischen Informationskurs in Jugendfürsorge» im August 1908, der «Ersten Jugendfürsorgewoche in Bern» im Jahr 1914 und den ab 1922 gehaltenen «Kursen in Jugendhilfe» in Zürich kristallisierte sich eine professionalisierte und insbesondere vernetzte Jugendfürsorge heraus.126 Unter dem Präsidium des Sekretärs der Zürcher Erziehungsdirektion Friedrich Zollinger (1858–1931) fanden sich die Teilnehmer des «Ersten schweizerischen Informationskurses in Jugendfürsorge» in Zürich zusammen, um die «Förderung und Verbreitung der Jugendfürsorgebestrebungen in der Schweiz» vorzunehmen. Zollinger umschrieb die Jugendfürsorge in dem im selben Jahr gedruckten Tagungsbericht. Das Ziel der Jugendfürsorge richte sich dahin, «durch soziale Einrichtungen die Lücken in den Erziehungsbedingungen auszufüllen, die teils bei den Eltern und den sozialen Verhältnissen liegen, teils durch anormale physische, intellektuelle oder moralische Eigenschaften des Kindes bedingt sind».127

Die Unterstützungsbedürftigkeit der Jugendlichen wurde demnach erstens durch eine ökonomisch-strukturelle Grösse (zum Beispiel Arbeitslosigkeit der Eltern) oder eine soziale Komponente abhängig vom Zivilstand (Scheidung, Verwitwung) und zweitens durch individuelle (gesundheitliche) Merkmale der Kinder selbst verursacht; eine lange Zeit beständige Kategorisierung. Zollinger führte weiter aus: «Diese anormalen Verhältnisse offenbaren sich vornehmlich nach zwei Richtungen: entweder beziehen sie sich auf das Elternhaus, oder sie liegen beim Kinde.»128 Hier sollte die Jugendfürsorge ansetzen: Sie versuchte im Idealfall die kleinen Missstände im Elternhaus «in der Sorge für das Wohl des Kindes durch Massnahmen der Erhaltung und Einrichtungen der Erziehung, der allgemeinen, beruflichen und wissenschaftlichen Ausbildung»129 zu beheben. Mit dem «Endziel», dass die Kinder zu Erwachsenen geformt würden, die ihre «Lebensaufgabe möglichst vollkommen und selbständig erfüllen» könnten.130

Falls signifikante, sprich erheblich «anormale» Zustände in den Familien vorherrschten, sah sich die Jugendfürsorge in die Pflicht genommen, die Kinder in fremde Familien zu «platzieren».131 Diese Vorgehensweise stützte sich insbesondere auf das im Informationskurs immer wieder auftretende eugenische Gedankengut. Die Eltern konnten in moralischer (sittliche oder soziale «Minderwertigkeit») oder in medizinischer Hinsicht (Alkoholismus, Tuberkulose und «nervöse Störungen») schlechte Wesensmerkmale an ihre Kinder vererben. Durch das «schlechte Milieu» im Elternhaus konnten aber auch negative Eigenschaften «erworben» werden: zum Beispiel Infektionskrankheiten, Epilepsie oder eher allgemein eine schlechte Erziehung. Zollinger begründete die Notwendigkeit der Jugendfürsorge dahingehend, dass sie aus diesen gefährdeten Kindern «gesunde Glieder» für die Gesellschaft formen solle. Der sogenannte Kinderschutz war anlässlich der Delegiertenversammlung der Solothurner Armenerziehungsvereine auch ein Referatsthema Pfarrer Albert Wilds.132

Standen im Kongress von 1908 noch die Schaffung ökonomischer Unterstützungsformen für erwerbstätige Eltern wie Krippen, Horte und Suppenküchen zur Diskussion, so waren in der Berner Jugendfürsorgewoche im Juni 1914 die Vormundschaftsbehörden (insbesondere die Amtsvormundschaft) zentrales Thema. Somit verlagerte sich der Akzent von der begleitenden Unterstützung der Kinder und ihrer Eltern hin zum regulierenden «invasiven» Eingriff in die Familien und zur Fremdplatzierung der Kinder, was über lange Zeit das Wesen der Jugendhilfe ausmachen sollte.133 Grundsätzlich war es das erklärte Ziel der Tagung von 1914, Behörden und Vereine in beruflicher Hinsicht und bezüglich der Rechtslage weiterzubilden. Die Tagungsthemen verdeutlichten zudem, dass «die Professionalisierung der Fürsorgeberufe definitiv Richtung öffentliche, sozialstaatliche Alimentierung und weniger Richtung Sozietäten ging».134 Ein wichtiges Anliegen war, die Kantone für die Notwendigkeit von kantonalen Jugendämtern zu sensibilisieren, ausgehend von den neuen Bestimmungen des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs und den Möglichkeiten der Amtsvormundschaften. Die 1908 hoch bewertete «Prophylaxe» durch arbeitsmarktergänzende Massnahmen wurde im Kongress von 1914 durch eugenische und biologistische Ansätze abgelöst.135 Auch die Armenerziehungsvereine nahmen an diesen Anlässen teil und setzten sich mit der aus diesen Impulsen geschaffenen Fachliteratur auseinander.136 Die Vertreter der solothurnischen Armenerziehungsvereine führten ihre Delegiertenversammlung am 19. Juni 1914 während der Fürsorgewoche in Bern durch, die Teil der schweizerischen Landesausstellung war.137

Als dritte Plattform boten sich für jugendfürsorgerische Diskussionen die Zürcher «Jugendhilfekurse» von 1922, 1924 und 1927 an. Diese fanden unter der Organisation von Robert Briner (1885-1960, Leiter des kantonalzürcherischen Jugendamtes) und Marta von Meyenburg (1882-1972, Leiterin der «Schule für soziale Frauenarbeit» in Zürich) statt. Nadja Ramsauer hält dazu fest, dass der Verwissenschaftlichungsprozess138 der Kinder- und Jugendfürsorge mit diesen Kursen einen Endpunkt erreicht hat.139 Die Akademiker nahmen einen «absoluten» Expertenstatus ein und vermittelten den öffentlich-rechtlichen sowie den privaten Organisationen ihre Forschungsergebnisse.140 Neben diesen Anlässen gab es auch weitere Gremien, die ständig über Jugendfürsorge informierten. Der Basellandschaftliche Armenerziehungsverein trat beispielsweise im Jahr 1922 der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft als Kollektivmitglied bei, denn «für den Inspektor ist die Zeitschrift für Gemeinnützigkeit wertvoll, besonders auch die darin erscheinenden Verzeichnisse der offenen Plätze in den schweiz. Anstalten».141 Drei Jahre später trat der basellandschaftliche Inspektor auch der Schweizerischen Armenpflegerkonferenz bei, «eine halbamtliche Institution», die «mitunter auch für den A.E.V. von Wert sein» kann.142

Die Kongresse boten nicht zuletzt eine Austauschplattform für forschende Wissenschafter und mit Erfahrungswerten ausgestattete Beamte. Durch die zunehmende Berichterstattung und das Abdrucken von Vorträgen in Vereinsorganen und Zeitschriften entstand im frühen 20. Jahrhundert ein «breites Forum für jugendfürsorgepolitische Debatten». Wie Nadja Ramsauer fernerhin erläutert, zeigen die Kongresse zudem die von Lutz Raphael aufgestellte These der «Verwissenschaftlichung des Sozialen» paradigmatisch auf. Die Untermauerung dieses neuen Gebiets der sozialen Fürsorge mit sozialwissenschaftlichen Theorien bedeutete seit der Einführung der obligatorischen Schulpflicht 1874 erstmals einen Eingriff in weitere Sphären der Kinder und Jugendlichen.143

Bereits in den Vorträgen des ersten Informationskurses im Jahr 1908 wurde die Strukturierung der Jugendfürsorge in verschiedene «Fürsorgefelder» und «Lebensstufen» vorgenommen. Diese Auffächerung der Jugendhilfe anhand individueller wissenschaftlicher Theorien und Vorgehensweisen wurde zum Beispiel auch in den vom Zentralsekretariat der «Pro Juventute» herausgegebenen «Jahrbüchern der Jugendhilfe» und ab 1931 in der bibliografischen Reihe «Die wichtigste Literatur für Jugendhilfe»144 angewandt und im Armenerziehungsverein des Bezirks Baden und weiteren nachweislich auch konsultiert.145 Die erste Unterscheidung wurde zwischen der spezialisierten «Hilfe für einzelne Altersstufen» beziehungsweise dann allgemeiner für «mehrere Altersstufen» getroffen. Als wesentliche Lebensphasen galten die Geburt und das Säuglingsalter («Hilfe für Mutter, Säugling und Kleinkind»), worunter im Sinn der Vormund- oder Beistandschaft auch die Rechtsvertretung unehelicher Kinder gegenüber ihren Vätern verstanden wurde, das Schulkinderalter sowie die Berufsberatung. Unter der «Hilfe für mehrere Altersstufen» wurden zwei Gebiete subsumiert: der Beistand auf «bestimmten Lebensgebieten» (in wirtschaftlicher, gesundheitlicher und erzieherischer Hinsicht) und für «besondere Gruppen der Jugend» («anormale» oder zum Beispiel die «Bergjugend», «Kinder der Landstrasse»).

Emma Steiger (1895-1973, Redaktorin der «Schweizerischen Jahrbücher der Jugendhilfe»), behandelte in ihrem 1932 erschienenen Buch «Die Jugendhilfe. Eine systematische Einführung» im Kapitel über die «Erzieherische Jugendhilfe» die Erziehung ausserhalb der eigenen Familie.146 Sie bemerkte, dass Zehntausende von Kindern damals in Anstalten oder bei fremden Familien «versorgt» würden, aus Gründen der «ausserhäuslichen» Erwerbstätigkeit der Eltern(teile), wegen Krankheit oder Tod der Mutter, Erziehungsschwierigkeiten im Elternhaus oder Gebrechen der Kinder. Hier sollte ihrer Meinung nach die Verantwortung der Jugendhilfe ansetzen, indem sie Pflegeplätze zur Verfügung stellen und diese angemessen überwachen sollte. Dies war aber laut Steiger wegen der zeitgenössischen Rechtslage praktisch unmöglich. Sie führte unter anderem als Paradebeispiele die Städte Basel und Bern an, bei denen eine obligatorische Pflegekinderaufsicht bestehe, und leitete zu den Kantonen Basel-Landschaft, Solothurn, Thurgau und Aargau über, bei denen die Aufsicht durch «die sogenannten Armenerziehungsvereine» geschehe. Sie beanstandete grundsätzlich, dass die Pflegekinderaufsicht nur selektiv sei und eine zweifelsohne namhafte Dunkelziffer an Pflegekindern nicht kontrolliert werden könne.147

Steiger votierte eindringlich dafür, dass, wo kantonale Aufsichten bestünden, diese auch von Frauen ausgeübt werden sollten. Bereits ab 1910 gab es besondere Fürsorgerinnenkurse, und 1921 öffnete etwa die «Soziale Frauenschule Zürich» ihre Pforten. Die Professionalisierung der Sozialarbeiterinnen148 zielte in erster Linie auf Aufsichtsfunktionen ab: sogenannte Kontrollbesuche, Überprüfung der sachgemässen Ernährung und Verpflegung der Kinder sowie Beratung und Belehrung der Pflegeeltern. In vielen Fällen war die Fürsorgerin «die Gehilfin des Amtsvormundes», und als solches «hat sie dessen Weisungen entgegenzunehmen und darnach zu handeln. Eingreifende Massnahmen darf sie nur im vorherigen Einverständnis mit dem Amtsvormund treffen.»149 Dieser rein exekutiv ausgerichteten Rolle der Fürsorgerinnen standen auch kritische Stimmen gegenüber, so beispielsweise Pfarrer Albert Wild. Dieser bemerkte, dass nur in den wenigsten Kantonen Frauen in die Armenfürsorgebehörden wählbar waren. Er hoffte, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Frauen sich als «gleichberechtigte Mitglieder» aktiv und eigenkompetent in der sozialen Fürsorge betätigen könnten.150

In ihrer «Systematischen Einführung» kam Emma Steiger ferner auf die verschiedenen «Träger und Formen der Jugendhilfe»151 zu sprechen. Sie ging in diesem Kapitel im Besonderen auf das «Verhältnis von öffentlicher und privater Jugendhilfe» ein. Sie gestand der freiwilligen Fürsorge eine «Pionierarbeit» zu, verstand aber deren Tätigkeit nur als «Ergänzung der öffentlichen Hilfe».152 Diese privaten Institutionen – so Steiger – besässen ihre Daseinsberechtigung nur solange, als sich der Staat für «Ruhe und Ordnung, Krieg und Frieden» sorgen müsse.

«Wenn sich aber der Schwerpunkt des staatlichen Lebens auf die Sicherung und Förderung der Wohlfahrt seiner Glieder verlegt, so werden Staat und Gemeinden die gegebenen Träger eines grossen Teiles der Jugendhilfe. Denn ihr umfassender Charakter ermöglicht Einheitlichkeit, Planmässigkeit und Gerechtigkeit gegenüber allen Gliedern […].»153

Sie stellte ferner fest, dass sich die privaten Träger oftmals vehement gegen die «Verstaatlichung» der Jugendhilfe zur Wehr setzten, «weil dadurch ihr Helferwillen und ihre Mittel brachgelegt würden». Steiger sah dies aber auch als emanzipatorische Chance, insbesondere wenn es sich um die «Übernahme von Frauenwerken handelt, da der weiblichen Mitarbeit in der öffentlichen Jugendhilfe an manchen Orten noch recht enge Grenzen gezogen sind».154 Abschliessend bemerkte sie, dass für eine «planmässige Jugendhilfe» die Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und privater Jugendhilfe koordiniert werden müsse, und verwies noch einmal die freiwillige Fürsorgetätigkeit als Nischenprodukt in die Schranken.

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