Kitabı oku: «Aus dem Dunkel», sayfa 4
Anders war es bei der Gestapo, wohin ich einmal, mitten aus der Geschichtsstunde heraus, abgeholt wurde - zum Entsetzen meiner Mitschülerinnen. Man brachte mich in einen großen kahlen Raum. Dort traf ich eine Reihe von Bekannten, alles ältere Herren, die irgendwelche öffentlichen Ämter in der jüdischen Gemeinde bekleideten. Wir mussten uns alle mit dem Gesicht zur Wand stellen, sehr lange, ohne dass etwas geschah. Ich sah, wie dem alten Herrn neben mir die Knie zitterten und sein Körper hin und her zu schwanken begann. Irgendwann fing eine Stimme hinter uns zu schreien an, zu toben, zu fluchen, zu drohen. Ich verstand nichts, war nur beschäftigt mit der Frage, ob ich den alten Herrn auffangen sollte, wenn er umfiel, oder feige an der Wand stehen bleiben würde. Aber irgendwann war alles zu Ende. Wir durften den Raum verlassen, vorbei an dem Schreier, der unseren Auszug mit bösen Augen verfolgte. Keiner hatte Hand an mich gelegt, aber der Ton, den man mir gegenüber anschlug, das unsinnige Geschimpfe, Gebrüll und die offene Drohung, das Theater, das man inszenierte, hätte mich trotz aller Naivität damals schon lehren müssen, was sich da vorbereitete. Doch ich erzählte niemandem ein Sterbenswörtchen.
Als auch mein Vater endlich erkannte, dass sein Glaube an das "gute" Deutschland verfehlt war, wandte er seine ganze geistige und seelische Kraft der neuen Heimat zu, dem Land Israel. Wenn er etwas tat, tat er es ganz. Er erweiterte seine hebräischen Sprachkenntnisse, las die Bibel mit Hilfe der Buber-Übersetzung, versuchte sich an neuhebräischen Schriftstellern und Dichtern wie Agnon und Bialik, beschäftigte sich mit Geografie und Geschichte von Palästina und vertiefte sich in die Briefe von Freunden und Verwandten, die von den Schwierigkeiten erzählten und den Bemühungen, mit ihnen fertig zu werden. Betrüblich an der neuen Orientierung war nur, dass sie zu spät kam. Infolge der gespannten Lage hatten die britischen Behörden die Einwanderungspolitik geändert. Es gab nur noch eine begrenzte Zahl von Zertifikaten, hauptsächlich für Jugendliche und für Kapitalisten. Meinen Eltern aber war es aber unmöglich, nach fünf Jahren Hitlerregierung noch die verlangten 1ooo Pfund aufzubringen.
Im Spätsommer 1938 erhielt ich jedoch aus Berlin ein Auswanderungszertifikat für die Jugend-Alijah. In der Jüdischen Rundschau für Kinder war eine Geschichte von mir gedruckt worden, dafür gab mir die Jugendhilfe ein Stipendium für das Kinderdorf Ben Shemen, das für drei Jahre galt. Ich war damals dreizehn Jahre alt. Als meine Mutter mich bei dem Direktor des Lyzeums abmeldete, sah er sie ungläubig an: "Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie ein dreizehnjähriges Kind ohne Eltern in die weite Welt schicken?" "Was schlagen Sie denn vor, Herr Direktor?" fragte meine Mutter. Der Direktor schwieg.
Am letzten Schultag vor dem Abschied kam meine Freundin Ingeborg auf mich zu und sagte: "Ich wünsche dir viel Glück, aber glaube mir, es ist gut, dass du uns verlässt. Denn die Kluft, die uns voneinander trennt, ist wohl doch nicht zu überbrücken". "Ja, da wirst du wohl recht haben", antwortete ich. Am Tag, bevor ich Frankfurt für immer, wie ich glaubte, verließ, an einem der letzten Septembertage, nahm ich mit meinem Bruder auf einem Spaziergang durch die Anlagen Abschied. In Frankfurt war damals schon niemand mehr von meinen früheren Freunden. Alle waren entweder schon ausgewandert oder zeitweilig nach Berlin gezogen.
Zunächst fuhr auch ich nur nach Berlin. Ich meldete mich bei der Jugendhilfe in der Meineke-Straße. Dieser Komplex beherbergte alle möglichen zionistischen Institutionen. Zunächst wurden wir auf einem Gut unweit von Berlin auf unsere neue Zukunft in Palästina vorbereitet. Wir arbeiteten in Haus, Garten und Feld, lernten Hebräisch, sangen und tanzten palästinensische Volkstänze und diskutierten das Blaue vom Himmel herunter. Als das Lager zu Ende war, enthüllte man uns, dass für uns fünfzig Kinder nur 25 Zertifikate bereit lagen. Die Leiter des Lagers, junge Leute von 21, 22 Jahren, mussten entscheiden, wer fuhr und wer blieb. Zu ihrem Glück wussten sie damals nicht, dass sie über Tod oder Leben zu beschließen hatten. Nachher ging alles sehr schnell. Jetzt war ich diejenige, die am Anhalter Bahnhof im Zuge saß, und die andern standen unten am Fenster. Mein Bruder Alfred reiste einen Monat später aus, er bekam ein Studentenzertifikat für die Musikschule in Jerusalem, die damals gegründet worden war. Gleich nach seiner Abfahrt kam die "Kristallnacht".
Ich fuhr auf dem Schiff zusammen mit der verwitweten Frau Aronheim und deren beiden jüngeren Söhnen Hermann und Peter nach Palästina. Als knapp Vierzehnjährige kam ich in ein neues Land - kein fremdes, denn ich hatte ihm schon jahrelang entgegengeträumt. Dennoch war alles anders, das Licht, die Farben, Gerüche, Stimmen, Gesichter, man aß andere Speisen, kleidete sich anders, las andere Bücher. Bäume und Blumen hatten keine Namen, und die neue Sprache reichte trotz der jahrelangen Studien nur für gerade das Allernötigste. Ich stand vor der Frage, ob ich, um dieses Neue und Fremde mir anzueignen, all das bisschen Wissen, das ich von meinem ersten Zuhause mitgebracht habe, hinter mich werfen, es vergessen, mit der Vergangenheit brechen muss.
An den ersten Tag im neuen Land erinnere ich mich noch ganz genau. Am Abend unserer Ankunft gab es Schießereien, das Land war unruhig, die Fahrt vom Hafen zum Jugenddorf Ben Schemen legten wir in einem gepanzerten Wagen zurück. Einige der jüngeren Lehrer waren gegen Angreifer ausgezogen, wir lagen mit unseren neuen Gefährten im Dunkeln auf dem Fußboden und zitterten um ihre Sicherheit. Aber als uns die Kinder am Morgen den Hügel herauf zum wöchentlichen Schabbatkonzert führten, war davon nichts mehr zu spüren. Die große Essbaracke, in der das Konzert stattfand, war vollgestopft mit jugendlichen Zuhörern. Die beiden Musiklehrer des Dorfes spielten Violinsonaten von Mozart und Beethoven, ein Mädchenchor sang Duette von Mendelssohn mit hebräischem Text und Lieder der Dichterin Rachel, die wir schon kannten. An diesem Morgen muss ich wohl glücklich gewesen sein, weil Mozart und Beethoven für die Geborgenheit und das Zuhause Sein standen, und weil sie so schön und richtig klangen auf dem Hügel im neuen Land, und weil sich die hebräischen Worte so schön einfügten in die Melodien von Mendelssohn, und weil all das eine feste Brücke bildete zu den zurückgebliebenen Eltern und dem Land der Geburt, und weil sich plötzlich herausstellte, dass etwas neu beginnen kann und zugleich auch weitergehen, ohne Bruch.
Unser Vater wurde in der Kristallnacht mit vielen anderen verhaftet und kam nach Sachsenhausen. Damals hieß es, wer ein Einreisevisum für irgendein Land vorweisen kann, wird entlassen. Zu dieser Zeit wollten sie die Juden nur los werden, noch nicht umbringen. Aber wie an ein Zertifikat kommen, das für die Einreise in Palästina erforderlich war? Eine Schwester unserer Mutter, Lucy Nelken, Frau eines angesehenen Arztes hier in Jerusalem, im Grunde eine sehr schüchterne, zurückhaltende Frau, ist damals von Haus zu Haus gepilgert, um von allen Bekannten, Freunden und Patienten ihres Mannes Geld zu erbitten. So hat sie tatsächlich die erforderlichen 1000 Pfund zusammengebettelt. Was sie das gekostet haben muss, kann man sich gar nicht vorstellen.
Nun war das Problem, wie man dieses Geld sicher nach Deutschland bringen konnte, denn meine Mutter musste der britischen Botschaft einen Bankbeleg vorweisen. Wir hatten eine Verwandte, eine Cousine zweiten Grades meiner Mutter, die Tochter des sephardischen Chief Rabbi von London, Irene Gaster. Sie hat sich in Israel für geistesschwache Kinder engagiert und Heime und eine Gesellschaft für behinderte Kinder, Akim, gegründet. Sie kam als englische Staatsbürgerin mit dem Geld nach Deutschland. Tatsächlich erhielt meine Mutter dann das letzte Zertifikat, das damals ausgegeben wurde. Sie stand in der Reihe vor der Visumausgabe, und gerade als sie dran war, ging der Schalter zu. Sie war völlig verzweifelt und protestierte so energisch, dass sie schließlich das Zertifikat doch noch bekam. Später wurden keine Zertifikate mehr ausgegeben.
Aufgrund dieses Zertifikats wurde dann mein Vater freigelassen. Im März 1939 kamen die Eltern nach Palästina. Mein Bruder und ich durften sie im Hafen von Tel Aviv in Empfang nehmen. Der neue Hafen war wegen der arabischen Unruhen in aller Hast instandgesetzt und ausgebaut worden. Mein Vater kam völlig verändert ins Land, ein gebrochener Mann. Er hatte schon im Lager einen Parkinson-Anfall bekommen, vorher war er kerngesund gewesen. Er konnte hier auch zunächst nicht mehr praktizieren. Als er nach längerer Zeit doch die Lizenz bekam, war er bereits zu krank und wurde immer kränker. Meine Eltern hatten es sehr schwer. Wir waren auch zu jung, um ihnen helfen zu können.
In Ben Shemen gab es ein Kinder- und ein Jugenddorf, geleitet von dem berühmten Erzieher Dr. Siegfried Lehmann, einer großen Persönlichkeit. Wir hatten auch sonst die besten Lehrer, einer von ihnen wurde später einer der berühmtesten israelischen Schriftsteller. Wir hatten auch Orchester und Chöre, es war ein Kulturparadies. Mit dem Jugenddorf war auch eine landwirtschaftliche Schule verbunden. Ich wollte aber schrecklich gern weiter auf das Gymnasium gehen, und so wurde mir schließlich das dritte Jahr von Ben Shemen ausbezahlt, damit ich in Jerusalem ein Gymnasium besuchen konnte.
Ich erhielt dann noch ein Stipendium, das mir den weiteren Besuch des Gymnasiums ermöglichte. Das war schon während des Krieges. Für mich war es eine große Sache, denn das Gymnasium zu besuchen war sonst bei den Neueinwanderern nicht üblich. Die andern Kinder stammten aus etablierten Familien. Ich machte auch immer die Schularbeiten, während die andern Schüler faulenzten. Aber sie hatten Verständnis dafür, dass bei mir die Dinge anders lagen. Nach drei Jahren, 1943, habe ich das Abitur abgelegt. Anschließend lebte ich ein Jahr in dem Kibbuz Dorot in der Negev, östlich von Gaza. Das war ein junger Kibbuz, damals erst ein Jahr alt. Dann ging ich an die Universität in Jerusalem, studierte Judaistik und jüdische Geschichte. Ich hatte dort berühmte Lehrer, Baer, Allon, Dinur. Ich habe auch hebräische Literatur gehört und schließlich an einem Kurs für englische Literatur teilgenommen. Den hielt ein Professor Isaacs, der eigens aus London kam. Die ganze Universität wollte zu ihm, er nahm aber nur zwölf Schüler, ich war dabei - ein ganz großes Privileg.
Das Studium habe ich jedoch nicht beendet. Kurz vor dem Abschluss wurde ich nach Zypern geschickt, wo die großen Lager für die internierten Immigranten waren, welche die Engländer nicht ins Land ließen. Vor allem Dinur schickte seine Schüler nach Zypern. Die Jewish Agency kümmerte sich um die Internierten und gab Geld für deren Ausbildung. Wir haben dort ein Seminar für Jugendliche aufgebaut, die die Schule verlassen und nichts zu tun hatten. Es gab ein Sommer- und ein Winterlager. Es war eine gute Sache, die Schüler waren vorbildlich, sie sogen jedes Wort auf.
Auf Zypern habe ich geheiratet. Mein Mann, David Brodski, war aus Polen am Anfang des Krieges über Russland und Japan nach Amerika geflüchtet. Er wurde dann amerikanischer Soldat und bekam bei der Entlassung eine Geldsumme von der Armee. Für Soldaten, die studieren wollten, gab es die GI-Bill, monatlich eine reichliche Summe für das Studium. Er studierte in Jerusalem, ging jedoch dann wie ich nach Zypern, und dort haben wir uns kennen gelernt.
Ich erinnere mich noch an die Nacht, als der Staat Israel ausgerufen wurde. Als ich von Zypern zurückkam, war schon der Befreiungskrieg im Gange. Ich ging nicht mehr an die Universität, sondern auf die Musikakademie. Musik zu studieren war mein eigentlicher Wunsch. Auch mein Bruder war Musiker. Musik war ein wichtiger Bestandteil unserer Jugendzeit gewesen, sie steht für das, was uns das Land unserer Geburt nicht nehmen konnte, als es uns verstieß, dahin, wo wir hingehören, und wohin wir ohne den Druck der Verfolgung wahrscheinlich nie gelangt wären.
Ich habe dann lange Zeit in der Musikabteilung am israelischen Rundfunk gearbeitet. Ich wurde durch Serien über Komponisten bekannt, die mit Schauspielern und Musikern gestaltet wurde. Eine ganze Generation hat ihre musikalische Bildung aus diesen Programmen bezogen. Ich habe mich dann 1986 frühzeitig pensionieren lassen. Ich wollte mich noch meinen literarischen Interessen widmen, einige Bücher schreiben. Jahrelang habe ich dann an einer Rilke-Biographie gearbeitet, mit Gedichten und Briefen. Etwas Derartiges gab es in Ivrit, in Neuhebräisch, überhaupt nicht. Dann habe ich noch eine Anthologie deutscher Lieder herausgegeben, Texte in Ivrit zu der entsprechenden Musik. 1994 erhielt ich in Weimar vom Goethe-Institut eine Medaille für meine Aktivitäten auf dem Gebiet des literarischen und künstlerischen Kulturaustausches zwischen Deutschland und Israel. Jetzt (1995) arbeite ich an der Biographie eines israelischen Komponisten, der auch aus dem Gebiet von Posen stammt.
Bericht von Eldad (Alfred) Neumark, London, 23.6.1996.
Ich wurde 14 Tage nach der Ankunft meiner Eltern in Frankfurt geboren. Seit Ostern 1930 besuchte ich das Friedrichsgymnasium und hatte dort auch nach der Machtergreifung keine besonderen Schwierigkeiten mit Mitschülern. Das Problem war nach 1933 ganz allgemein, sich als Jude auf der Straße zu bewegen. Vor allem im ersten Jahr nach der Machtübernahme zogen dauernd Abteilungen der SA oder Hitlerjugend mit Fahnen die Straßen entlang. Wenn man die Hand nicht zum Hitlergruß hob, war das gefährlich, wenn man es aber tat und dann stellte sich heraus, dass man Jude war, war es noch gefährlicher.
Im Friedrichsgymnasiums hatte ich nur einmal ein unschönes Erlebnis. Während des Potsdamer Tages am 21. März war ein großer Fackelzug der gesamten Frankfurter Jugend geplant. Auch die Schüler des Friedrichsgymnasiums sollten geschlossen daran teilnehmen. Meine Eltern waren damals noch verwirrter als viele andere und schickten mich mit. Ich marschierte also mit den andern mit einer Fackel. Natürlich wussten viele, wer ich war, und meine Hintermänner verpassten mir dauernd Fußtritte. Ich war völlig konfus.
Damals, mit zwölf Jahren, verstand ich nicht, warum ich an der deutschen Erhebung keinen Anteil haben sollte. Was hatte mein Judentum damit zu tun? Die Eltern konnten mir nicht helfen, sie waren selbst ratlos. Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis ich durch die Jugendbewegung der "Werkleute" all-mählich meine jüdische Identität fand und verstand, dass ich ein anderer war. Ich begriff auch, dass dieses Anderssein keineswegs etwas Negatives war, dass ich im Gegenteil auf mein Jüdischsein stolz sein konnte.
Die Schule selbst vertrat keine antisemitische oder prosemitische Haltung. Sie war sozusagen neutral. Es hing völlig von den einzelnen Lehrern ab. Ich erinnere mich gut an unsern Klassenlehrer Dr. Schmidt, der zu sagen pflegte: "Ihr HJ-Jungen arbeitet alle nicht, ihr geht raus, marschiert, schwenkt Fahnen. Was soll aus dem armen Deutschland werden, wenn nur die Juden hier arbeiten, denn das sind die einzigen, die noch etwas tun!" Zu uns war er jedenfalls sehr nett. Es gab nur zwei Juden in der Klasse, Herbert Cohn und mich. Ein Mitschüler und hoher HJ-Führer, Wolf, hat die Klasse gewarnt, mir auch nur ein Haar zu krümmen. Erst später habe ich erfahren, dass seine Schwester und Ada gute Freundinnen waren.
Trotzdem spürte auch ich immer deutlicher, dass ich isoliert war, dass der kameradschaftliche Umgang innerhalb der Klasse mich ausschloss. Wir gingen mit zu allerhand Veranstaltungen, Wandertagen, besuchten Manöver der Wehrmacht, aber wir gehörten nicht wirklich mehr dazu. Unsere Eltern pflegten ihre verschiedenen Interessen. Der Vater liebte die Berge, die Mutter das Meer. So fuhr mein Vater in den Ferien ins Gebirge, meine Mutter mit uns an die See, und der Vater kam dann vielleicht noch für eine Woche zu uns. Er liebte Bäume und Blumen, kannte sie alle. Die Mutter war sehr musikalisch, sie fuhr jede Woche nach Berlin zum Gesangsunterricht. Auch ich fuhr nach Berlin zu Klavierstunden. In Berlin lebten auch meine Großeltern. Bei unsern Besuchen dort wohnten wir bei ihnen.
Mit der Übersiedlung unserer Eltern nach Berlin bin ich 1936 an die jüdische Schule im Siegmundshof übergewechselt. Die Schule war sehr fromm. Wir Schüler, die von deutschen Gymnasien kamen, waren das nicht. Die Lehrer versuchten zunächst, auch aus uns fromme Juden zu machen. Wir mussten täglich Talmud und Rabbinerschriften lernen. Irgendwann haben die Lehrer aufgegeben. Im Übrigen war es eine ausgezeichnete Schule. Die Nazis hatten damals die Oberprima abgeschafft, weil sie Soldaten für die Wehrmacht brauchten, und so habe ich mit 17 Jahren 1938 dort noch regulär das Abitur abgelegt. Die Prüfung wurde unter Aufsicht einer vom Kultusministerium entsandten Kommission vorgenommen. Das Abitur war völlig in Ordnung, die Anforderungen entsprachen denen deutscher Gymnasien.
Die "Kameraden" haben mir unendlich viel bedeutet. Gerson muss eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein. Er versuchte, aus den Werkleuten eine liberal-religiöse Gemeinschaft zu machen. Im Harz, im Riesengebirge wurden Lager veranstaltet, jeweils eine Woche, am Vormittag Wandern oder Skifahren, am Nachmittag Vorträge und Seminare. Wir hatten Winter- und Sommerlager mit Bibel- und Buber-Studien, aber auch Jack London und Rosa Luxemburg wurden gelesen. Die Hälfte haben wir nicht verstanden. Wir sollten uns da auch mit Mädchen treffen, aber nur, um über Kunst, Religion, Judentum zu diskutieren. Es gab einen sozialistischen Trend, andererseits war auch noch der Einfluss der Wandervogelbewegung spürbar. Es verging kein Monat, ohne dass man am Lagerfeuer am Freitagabend den "Kornett" von Rilke zu hören bekam. Später allerdings, im Kibbuz, brauchte man keine Philosophen mehr.
Bis Oktober 1938 war ich noch in Berlin. Dort war das Leben bis zur Kristallnacht noch erträglich. Ich konnte noch in Konzerte und die Oper gehen, mich stundenlang anstellen, ohne belästigt zu werden. Das war alles später nicht mehr möglich. Nach dem Abitur interessierte mich nur noch, ob ich in Israel Musik studieren konnte, ob der Kibbuz das zuließ. Man sagte mir, dass ich erst einmal eine Hachschara machen und dann in einen Kibbuz gehen müsste. Nach ein paar Jahren würde man dann sehen, ob man mich Musik studieren ließe. Das hat mich nicht begeistert.
Ich bewarb mich nun um ein Stipendium für das Jerusalemer Konservatorium, das Palestine Music Conservatory, das Emil Hauser 1933 gegründet hatte. Heute ist es die Israel Academy of Music. Hauser bekam jedes Jahr 30-40 Zertifikate von der britischen Mandatsregierung für Studenten und prüfte die Bewerber in Berlin. Ich hatte das Glück, die Prüfung zu bestehen, und konnte im Oktober 1938 ausreisen. Unsere Eltern kamen erst Anfang 1939. Unser Vater war krank, er bekam auch jahrelang keine Erlaubnis, als Arzt zu arbeiten, denn es gab in Palästina einen Numerus clausus für Ärzte. Ich habe drei Jahre am Konservatorium Klavier und Flöte studiert und erhielt 1941 mein Abschlusszeugnis. 1949 heiratete ich eine Französin, die ich in Tel Aviv kennen gelernt hatte.
Bit 1980 gehörte ich dem Israel Philharmonic Orchestra an, dann ging ich in Pension. Ich habe viel Kammermusik gemacht, etwa Barockmusik, in Quartetts und Trios mitgespielt. Neben Klavier und Flöte spiele ich auch Cembalo. Nach der Pensionierung gingen wir nach Paris, wo die Mutter meiner Frau pflegebedürftig war. Wir lebten wechselweise in Paris und in Tel Aviv. Meine Frau hatte den Krieg in Frankreich erlebt, teilweise in Paris, teilweise in Südfrankreich. Ihr Vater kam aus Indien, und die Eltern hatten sich getrennt, als der Vater dorthin zurückkehren wollte.
Nach dem Tod meiner Schwiegermutter vor etwa 10 Jahren sind wir nach England gezogen. Meine Frau arbeitet als englisch-französische Dolmetscherin. Ich habe hier viele Freunde und gebe gelegentlich auch noch Konzerte. Ich fühle mich aber als Israeli und bin in Israel zu Hause. Wir verbringen jedes Jahr zwei bis drei Monate in Tel Aviv. Ich lese Hebräisch und Englisch, aber wenn ich die Wahl habe, lese ich lieber und besser Deutsch.