Kitabı oku: «FRANZ», sayfa 4

Yazı tipi:

Als Franz am nächsten Morgen beim Frühstück Lambros näher in Augenschein nahm, erschien ihm dieser noch kleiner und trauriger als am Abend zuvor. Im Licht der griechischen Morgensonne wirkte er geradezu trostlos. Ein Trauerkloß, jedoch mit edlem Profil. Er hätte statt Wirt auch Dirigent sein können. Ein trauriger, kleiner Karajan mit Kortner-Nase. Es schien Franz, als umspiele eine ewige Gekränktheit dessen Gesicht. Vielleicht ein über zwei Jahrtausende in die Gesichter gefrästes, nicht Aufhören wollendes, bitteres Abschiednehmen von einer einstigen Hochkultur. Von der Wiege Europas in den Hinterhof. Nun gab es für Lambros auch aktuelle, handfeste Gründe, traurig zu sein. Nachdem er zwei Jahre zuvor viel Geld in seine Taverne investiert, sie mit ein paar angebauten Appartements aufgewertet hatte, kam die Finanzkrise und die Gäste blieben aus. Er saß auf einem riesigen Schuldenberg, den er auch mit den Erlösen der vom Sohn geleiteten Dependance in Berlin nicht entscheidend abbauen konnte.

Der späte Aufbruch glich einem Desaster. Werner, den Franz noch nie so betrunken erlebt hatte, stritt sich mit Kosta um die Zeche. Der eine schwenkte fächerförmig ein paar Hunderter in Richtung Taverne, der andere winkte mit seinem krokodilledernen Portemonnaie. Der hinzugetretene Wirt: ratlos. Ein griechisch-deutsches Sprachgezerr entbrannte. Der Gebrauchtwagenhändler ließ es sich nicht nehmen zu zahlen, verkündete, dass man jetzt noch feiern ginge, schob die Frau Doktor am Ellbogen zum Auto, stieg völlig betrunken ein, ließ die Seitenscheibe hinunter, krähte noch ein „Servas“, das nahtlos in eine satanische Lachsalve überging und verschwand mit durchdrehenden Reifen wiehernd in die Nacht. Gestank von verbranntem Gummi senkte sich samt einer Staubfahne über die Zurückgebliebenen.

Es gibt diese Fleckchen Erde,

die auf den Betrachter wirken, als seien dort alle Schrecken dieser Welt ausgesperrt. Abgeschirmt von einer unsichtbaren, schützenden Membran, als könne das Böse allenfalls, ohne Schaden anzurichten, via Fernseher Einzug halten. Nach vier Tagen Aufenthalt dachte Franz, dass Asteria & Ilios so ein Fleckchen sein könnte. Als eingefleischter Atlantikfan und Liebhaber der Bretagne hatte er das Mittelmeer immer wieder gern als Ententeich abgetan. Jetzt aber, von einer Klippe aus Meer schauend, in diesen unendlich großen, türkis- bis tintenblauen Spiegel, strahlend gewölbt bis zu dem scharfen Strich, wo das salzige Nass den Himmel berührte, beschlich ihn das Gefühl, an einem Ort angekommen zu sein, der zu seinem Lebens-End-Ort werden könnte. Ein Ort des Friedens. Er schloss die Augen und ihm war, als ob er unterginge im Meer, in dessen immer schwärzer werdenden Blau versänke.

„Sobald wir anfangen zu leben“, schreibt Jean Paul, „drückt oben das Schicksal den Pfeil des Todes aus der Ewigkeit ab – er fliegt so lange, als wir atmen, und wenn er ankommt, so hören wir auf.“ Schon seit einiger Zeit meinte Franz das immer lauter werdende Sirren des Pfeiles zu vernehmen, akzeptierte auch dessen Mission, wollte aber nicht hinterrücks überrascht werden. Er wollte ihm entgegengehen.

Außer seinen Kindern,

Enkeln und den paar Frauen, die sein Leben zeitweilig begleitet hatten, waren noch einige Freunde ins Asteria & Ilios gekommen. Man hatte ausgiebig gegessen, dem Anlass entsprechend viel getrunken, und als die Nacht ihr schwärzestes Kleid angezogen hatte, auf dem nur noch ein paar diamantene Lichtpunkte funkelten, Sterne, wie auch Positionslaternen einiger sich entfernender Fischerboote, gab Franz das Zeichen für den Aufbruch. Er erhob sich schwankend, musste gestützt werden. Das lange nicht geschnittene weiße Haar stockte auf dem Kragen des schlackernden Anzugs aus olivgrüner Seide, die Hosenträger hielten das Beinkleid ein letztes Mal. Zwischen dem eingefallenen Bauch und dem Hosenbund ein Loch, handtellerbreit, ähnlich groß wie der geschrumpfte Kopf auf dem faltigen Hals. Die Augen hatten sich in den entferntesten Winkel ihrer Höhlen zurückgezogen, mit letzter Leuchtkraft glimmend, einem letzten Willen folgend. Im Licht von zwei Theater-Scheinwerfer bewegte sich ein Menschenwurm über den steinigen Pfad dem Meer entgegen. Aus einem Radiorecorder, den Franzens Freund, der erfolgloseste Galerist aller Zeiten, unter den Arm geklemmt hatte, tönte auf Franzens Wunsch die „Ballade von den Seeräubern“, gesungen von Ernst Busch. Vom Branntwein und den Finsternissen des Lebens gezeichnet, an der felsigen Abrisskante des Meeres angelangt, betrat Franz – nach den vielen Jahren, die es ihn immer wieder an diesen Ort gezogen hatte – zum ersten Mal die Badeleiter im Vorwärts-Gang, wollte er doch der Welt gepflegt den Rücken kehren, aber auch der Versuchung widerstehen, bei einem Blick zurück doch noch schwach zu werden. Er winkte noch einmal, so wie man winkt, wenn man alles im Griff zu haben scheint, lässig, cool – wie er sich immer vorgestellt hatte, in den frisch erworbenen Jaguar F zu steigen und ohne sich umzudrehen, mit quietschenden Reifen und sattem Auspuffgeräusch von der Frau wegzufahren, die ihn verlassen hatte. Dann war er im Wasser und schwamm, auch Sterben ist Arbeit, Richtung Kreta. Nacht und Meer hatten ihn bald verschluckt.

Franz öffnete die Augen;

war er eingeschlafen? Frau Doktor stieg gerade über die Badeleiter ins Meer. Sie verweilte einen Moment, mit den Unterschenkeln schon im Wasser, und lächelte ihn an. Ein Lächeln ohne Beteiligung der Lippen, wie es Franz vorkam. Fast ein Straflächeln. So, als wisse sie um seine selbstgefälligen Ich-Betrachtungen, so, wie man einen Erwachsenen für etwas auslächelt, das man ihm als Adoleszenten noch verziehen hätte. Für einen Moment erschrak er, befürchtete, dass sie etwas mitbekommen, er vielleicht im Sonnengedöse gesprochen haben könnte, so wie er in letzter Zeit häufig wach wurde, wenn er im Schlaf sprach, was ihn jedoch nicht hinderte, in diesem gerade eben Halbgedachten oder auch Halbgeträumten eine faszinierende Facette des Freitodes zu sehen, dabei gleichzeitig ER selbst und ein ANDERER zu sein. Subjekt und Objekt, Opfer und Täter – etwas, das getötet wird und das tötet. Die Möglichkeit einer Kommunion, einer Gleichschaltung mit sich selbst. Jedenfalls fand Franz diese Todesart überlegenswert, wenn er einmal genötigt sein sollte, eine Selbsttötung in Erwägung zu ziehen, wohl wissend, dass die Phasen des Ertrinkens dem des Erstickens ähneln: Atemnot, Panik, Krämpfe … aber darüber würde er sich noch genauer mit seinem Freund und Hausarzt, dem Michel, beraten.

Sie schwammen umeinander,

als wüssten sie nicht, zu wem sie gehörten. Belanglose Sätze streiften den Wasserspiegel, Blasen aus Fischmäulern gleich. Blubb. Blubb. Meereskonversation. Zurück ins „Tages-Sie“ nach einem vielleicht zu forschen „Vorabend-Du“. Dazwischen Nichtwörter, ausgespannt zwischen Wort und Wort. In den Wortpausen schon beredtes Schweigen? Oder doch nur nichts zum Sagen?

Auf der Badeleiter sah er ihren Hintern. Als sie auf der letzten Sprosse stehen blieb und in den Himmel schaute, troff Wasser zwischen ihren Beinen zurück ins Meer. In diesem Moment der Bewegungslosigkeit dachte Franz, sie wolle ihn glauben machen, dass er sie lieben dürfe. Und dann dieser Griff!! Ernüchternd in seiner Selbstverständlichkeit. Dieser Griff zweier Frauenfinger zwischen Po-Fleisch und Gummibündchen des Badeanzuges. Dann dieses kurze Anheben des Stoffes, gefolgt von einer unwesentlichen Korrektur nach unten, begleitet von einem leisen Flitschton. Sie drehte sich herum, lächelte. „Bis vielleicht später – Onkel Franz!“ Der Satz elektrisierte ihn wie das Arpeggio auf einer Harfe. Diese winzige Atempause nach dem hin gekegelten „Bis vielleicht später“ verlieh seinen Gedanken ihnen nicht wirklich zustehende, vor allem durch nichts zu rechtfertigende Höhenflüge. Sie stieg, das Handtuch um Brüste und Hüften geschwungen, über die Felsterrassen zur Wohnanlage empor. Da sie um ihn wusste, drehte sie sich nicht noch einmal um.

Man war unterwegs

zum Strand von Kardamyli. „„El Loco““, wie Lambros den griechischen Wiener in der gestrigen Nacht getitelt hatte, kannte dort den Besitzer eines Restaurants, das direkt am Meer lag. Er fuhr wie er lachte; laut, schnell, unorthodox. Franz, seit einem Tag „Onkel“, saß im Fond zwischen den beiden Frauen und in einer scharfen, viel zu schnell genommenen Linkskurve katapultierte die Schwerkraft seinen Körper in den Schoß der Frau Doktor. „Ich dachte, ich falle in den Himmel“, schrieb Franz später und fuhr fort, dass er sich des Gedankens nicht habe erwehren können, „„El Loco““ sei dieses Manöver mit Absicht gefahren und habe somit seinen Umfaller billigend, wenn nicht gar vorsätzlich in Kauf genommen. Während der Kerl hinterm Steuer feixend wieherte, dem „Onkel“ ein schlechtes Standvermögen attestierte, ertrank Franz in den Laternenaugen der Frau Doktor, wusste zwischen peinlichem Schreck und wohliger Verlockung nicht zu entscheiden, wünschte aber die Zukunft bis ans Ende der Welt in ihrem Schoß zu verbringen – liegend – mehr noch, in ihn hineinzukriechen, zurück in ein warmes Dunkel, wie alle Männer eigentlich nur ins warme Dunkel zurückwollen, weil sie das Licht des ewigen Vorwärts nicht mehr ertragen können. Kein anmaßender Wunsch, wie er sich am Abend beruhigte, „… liegt doch meine Berührung eines Frauenkörpers lange Zeit zurück und deshalb sind solche Gedanken legitim!“, dachte und schrieb Franz in sein Tagebuch.

So glomm in ihm etwas auf, was sich eigentlich verbot und sein vorauseilender, in diesem Augenblick auch schon stürmischer Gedanke, dass der Tatsache eines Glimmens zwangsläufig auch eine Flamme und daraus wiederum ein Lodern folgen müsse, war, wenn überhaupt, Musik – Zukunftsmusik. Einen Wimpernschlag lang dachte er daran, in ihrem Schoß zu weinen. Zu weinen ohne Spott zu fürchten. Weinen und sicher sein getröstet zu werden von dieser Frau über den Verlust der anderen. „Ich brauche Trost, was schließlich keine Schande ist“, schrieb er später.

Der Wiener Gebrauchtwagenhändler mit seinen griechischen Wurzeln wurde im schattigen Garten des Restaurants empfangen wie ein aus dem Exil zurückgekehrter König aller Strizzis, Vorstadtganoven und Winkeladvokaten. Laut, lärmig lachend, mit viel Umarmung, Schulterklopfen, männererotischen Knüffen und Püffen. Ein aus Personal und irgendwelchen geifernden Anhängseln bestehender Tross begleitete ihn und seine Entourage an einen reservierten Tisch mit Blick aufs Meer. Ein Augenspalier aus geneideter Hochachtung der anwesenden Gäste stand stramm vor diesem Chaoten von Gottes Gnaden. Er adelte seine Umgebung, vorausgesetzt, dass sie dem Adel der Exzentriker angehören wollte, und das wollten viele. Franz wie auch Werner waren in dieser Hinsicht auch nicht unempfänglich.

Frau Doktor genoss die Avancen, die ihrem Partner entgegengebracht wurden, sichtlich. Sie sonnte sich in seinem Schatten, warf dem „Onkel“ einen selbstgefälligen Alles-in-Ordnung-Blick zu, eine, Sie-irren-sich-ich-bin-nicht-so-unglücklich-wie-Sie-vielleicht-denken-Botschaft, dabei in ihrem Blick ein kurzes Flackern zwischen Hingabe und Reserviertheit. Eine Koketterie, hinter der sich eine kleine, dünnhäutige Frau versteckte, die in dieser Schmonzette mitspielte, damit ihr die Wirklichkeit nicht die Seele ausweidete, und dachte, dass diese Frau sich weigerte die Banalität des Lebens zur Kenntnis zu nehmen, indem sie es stetig durch die Brille des Erhabenen betrachtete.

Um seine Wirkung wissend, nutzte „El Loco“ seinen Auftritt mit charmanter Schamlosigkeit. Vor seinen Blicken blieben keine Brüste und kein Arsch verschont – und die griechische Bedienung bestand überwiegend aus unverbrauchten Brüsten und jungfräulichen Ärschen. Franz konnte einen gewissen Neid auf „El Loco“ nicht verleugnen und fragte sich, was die Frau Doktor wohl denke, empfinde, wenn sie das sah. Sie schien es nicht zu stören – sie rauchte. Man aß, trank reichlich und gut.

„Der Onkel kommt auf jeden Fall mit!“

250 PS schraubten den Jeep Cherokee vom Meeresspiegel die Serpentinen hoch Richtung Thalames, das in etwa 1000 Meter Höhe südöstlich von Agios Nikolaos lag. „El Loco“ hatte darauf bestanden, dass der „Onkel“ mitkomme, um das bestellte Lamm abzuholen, das er am Abend zu grillen gedachte. Auf diese Zwangseinladung hin hatte Franz 200 Euro eingesteckt, nahm er doch an, dass diese Mitfahraufforderung möglicherweise mit der finanziellen Beteiligung am Lamm zu tun haben könnte, was aber, wie sich später herausstellte, nicht der Fall war. „„El Loco““, mit Großzügigkeit und den ihr nahen Schwestern Leichtsinn und Verschwendungssucht reichlich gesegnet, oder auch verflucht – wie man es sehen will –, bezahlte. Franzens Angebot einer Beteiligung wurde mit einem „Bist deppert?“ kategorisch abgelehnt.

Frau Doktor saß hinten, Franz, der Hund, auf der Ladefläche und Franz, der Onkel, auf dem Beifahrersitz. „El Loco“, vom Vorabend noch angesoffen, hatte sich zum Frühstück bei Lambros mit zwei Tsipouro versorgt, sozusagen als Nachbrenner oder auch als Starter für den anstehenden Tag. Die Stereoanlage bis zum Anschlag aufgedreht, steuerte er im Rhythmus der Ouvertüre von Rossinis „Diebischer Elster“ den Wagen immer wieder haarscharf an Felswänden und Abgründen vorbei. Ein Höllenterzett zwischen Gaspedal, Bremse und Lenkrad. Er überholte, trotz durchgezogener Mittellinie, in unübersichtlichen Kurven hupend, obwohl jeden Augenblick ein Fahrzeug auf der Gegenspur hätte auftauchen können. Dabei sang, lachte und grölte er, als sei ihm der Verstand abhandengekommen. Der Hund auf der Ladefläche jaulte bei jeder Kurve, in der er gegen die Fahrzeugverkleidung knallte, und bei einer mittelheftigen Schleuderbewegung seines Kopfes sah Franz im Rückspiegel die Augen der Frau Doktor, die bei jeder tollkühnen Lenkbewegung ihres Lebensgefährten einen fieberhaften Glanz bekamen, eine metaphysische Gier, als verzehre sie sich an der Vorstellung, offenen Auges in den Tod zu rasen. Ein Trio Infernal, ein Selbstmordkommando. Und während Franz versuchte, so gleichgültig wie möglich dreinzuschauen, als seien solche Fahrten sein täglich Brot, fielen ihm Kamikazeflieger ein (Kamikaze – der göttliche Wind), über die er im Fernsehen einen Bericht gesehen hatte. Dort war ein Pilot vor seinem letzten Flug (es waren ja immer letzte Flüge) interviewt worden und Franz waren die starren Augen aufgefallen, als stünde der Pilot unter Drogen, was auch, wie im Laufe dieser Dokumentation bestätigt wurde, häufig der Fall war. Als wisse er um Franzens Gedanken, schaute „El Loco“ ihn an und streckte ihm die Zunge heraus. Die Pupillen seiner Augen waren winzig.

Noch eine letzte von ungezählten Haarnadelkurven und sie hatten das Ziel erreicht, eine kleine Taverne am Straßenrand. Franz hatte weiche Knie, als er aus dem Wagen stieg. Auf einer Mauer vor dem Haus saßen drei alte Griechen, einer verwitterter als der andere. Drei Baumrinden, kurz vor dem Stadium des Zerbröselns. Wie alle Griechen rauchten auch sie. Franz stellte sich vor, dass sie zusammen höchstens noch sieben Zähne besaßen. Jedenfalls hatte einer von ihnen, der rechts außen, nur noch einen, der ob seiner Vereinzelung gigantisch, unheimlich und gefährlich wirkte. Eine tabakgelbe Lanze, allzeit bereit. Mit dem Hauer hätte er durchaus ein veritables Loch in eine Libby‘s Dosenmilch stanzen können. Der Grieche im Wiener Gebrauchtwagenhändler begrüßte die Männer wie alte Freunde, obwohl er keinen von ihnen kannte. Seine Lache und seine Schwadronade fanden bei den Alten eine glückselige Vervielfältigung und in den weit aufgerissenen lachenden Mündern zählte Franz auf die Schnelle tatsächlich – Bingo! – insgesamt sieben Zähne. Wie in einem französischen Schwarzweißfilm lehnte die Frau Doktor in engen, schwarzen Shorts und weißer Bluse am Auto, rauchte und hielt den muskulösen Körper des Weimaraner an kurzer Leine. Unter dem Blusenstoff deuteten ihre Brustwarzen den Temperaturunterschied bei eintausend Höhenmetern an. Den einheimischen Männern gefiel das. Franz auch.

Drinnen in einer Art Waschküche drei Frauen – drei Generationen. Einen riesigen, frisch geernteten, dunkelgrünen Berg von Horta vor sich, befreiten sie jede einzelne Pflanze von gelben Blättern und legten sie in neben sich gestapelte Holzstiegen. Die jüngste warf mit leichter Hand, die mittlere ließ fallen, die alte sortierte, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht. Drei Stiegen, drei Temperamente, drei verschieden hohe Füllungen. Bei der Alten optimal gestapelt, bei der Mittleren pflichtgemäß gefüllt, bei der Jungen viel Luft und Unlust zwischen den Pflanzen. Die Jüngste recht ansehnlich, die Mittlere im Ansatz matronenhaft, wahrscheinlich die Mutter. Die Älteste, mager, in schwarze Tücher gehüllt, mit zerzaustem, schlohweißem Haar unterm losen Kopftuch, hatte einen Verwitterungsgrad erreicht, wie Franz ihn bei einem Menschen noch nie gesehen hatte. In den hunderttausend ledernen Gesichtsfalten dämonische Augen, hell und durchdringend, aus denen die Farbe ausgelaufen schien. So stellte er sich Nornen vor, beim Spinnen von Schicksalsfäden. Einen von dem Wiener Griechen an sie gerichteten Frage, ob sie ihn heute Abend heiraten wolle, quittierte sie mit einem Gelächter, das Franz an knatternde Holzratschen gepaart mit dem Geräusch eines quietschenden Windrades in einem Italo-Western erinnerte. Eine dankbare Unterbrechung bei der öden Beschäftigung. Das tote Lamm kam in den Kofferraum und der auf Grund dieser Tatsache quicklebendig gewordene Weimaraner musste zu Frauchen auf die Rückbank. Vor der Abfahrt noch einmal Wortkaskaden, die in wieherndem Gelächter endeten. Franz fragte sich, wie man nur so schnell reden konnte. Wo blieb das Denken? Aber das war eine deutsche Frage. Nicht in allen Sprachen der Welt werden Gedanken allmählich beim Reden verfertigt, oder sogar noch vorher – dachte Franz. Auf seine Frage, was denn den Heiterkeitsausbruch bei den alten Herren ausgelöst habe, erwiderte „El Loco“, er habe auf die Forderung der Herren nach mehr Frischfleisch beim nächsten Besuch geantwortet, dass das so wenig wahrscheinlich sei, wie die Aussicht, dass ihnen wieder Zähne wüchsen.

„… Sie müssen sich einfach vorstellen,

dass der Tristan-Akkord die Subdominante ‚gis-h-is‘ mit der Sixte ajoutée ‚eis‘ – also einer hinzugefügten Sexte – ist … können Sie mir folgen? … eine hinzugefügte Sexte, woraus sich eine Entwicklung des ‚gis‘ zum ‚a‘ ergibt, was dann eine hart verminderte Doppeldominante wäre und das …“ Aufgeregt tauchte sie ihren Finger ins Weinglas und versuchte auf der dunklen Platte des Holztisches ein paar Striche mit Noten hinzuklecksen, was aber nicht gelang. „… das Faszinierende aber ist…“, fuhr sie fort, „… dass man den Tristan-Akkord nicht hört. Für sich allein genommen hat er auch keine Richtung der Auflösung. Deswegen ist er mehrdeutig, und deswegen ist die Dominante, in die er mündet, auch nicht mehr als Dissonanz mit unbedingt geforderter Auflösung zu hören, sondern eher als aufzulösender Akkord. Arnold Schönberg nannte das später ‚Die Emanzipation der Dissonanz‘. Alles klar?“ Den Handballen am oberen Hinterkopf fuhren die fünf Finger Franzens rechter Hand gegen den Uhrzeigersinn mehrmals kreisförmig durch seine Haarstoppeln, eine Verlegenheits-Bewegung, die er sich über die Jahre angewöhnt hatte, ein Rühren auf dem Kopf, das ihn beruhigen sollte, dem Gegenüber aber eher enervierte Ratlosigkeit signalisierte. Eine gescheitelte Unruhe. „Alles klar?“ ließ sich Frau Doktor mit freundlich zurückhaltender Besorgnis in der Stimme vernehmen und tat einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. „Doch, doch“, beeilte sich Franz zu erwidern und gestand ihr, dass er im Augenblick etwas verwirrt sei, nicht wisse, was er mehr bewundern solle, ihre dezidierte Vorgehensweise wie sie, die offenbar in der Musik Zuhause, den Tristan-Akkord fast mathematisch analysiert habe, oder die Metamorphose einer Frau, die durch die Erklärung eines Akkordes mit jeder Faser ihres Körpers selbst Musik geworden sei. Das war dick aufgetragen. Sie merkte es sofort, lächelte ihr spöttisches Lächeln und Franz schämte sich ein wenig und kam sich bei diesem verblasenen Kompliment sehr alt vor. Jedoch faszinierte ihn, dass er diese bislang im Schlepptau ihres Lebensgefährten leicht zu übersehende Frau innerhalb der letzten beiden Tage noch nie so offensiv, so temperamentvoll, so frei erlebt hatte wie gerade eben. Während der Gebrauchtwagenhändler, in Sicht- aber nicht Hörweite, im Steinofen ein heftiges Feuer entfachte, saß Franz schon seit fast einer Stunde mit dessen Begleiterin auf deren beider Terrasse, wobei er gewahr wurde, dass sich auch in ihm ein kleines Feuer entzündet hatte, konnte er doch ein sich steigerndes Interesse an der Frau Doktor nicht leugnen. Ihre Empathie für die Oper, insbesondere für Wagners Musik (wie sich später herausstellte, hatte sie die Partitur des gesamten „Rings“ im Kopf und konnte alle Texte auswendig), faszinierte ihn. Franz verstand nicht viel von Musik, dafür liebte er sie umso mehr, wollte noch vieles lernen, hatte er sich doch vorgenommen, in seinem Rest-Leben noch eine große Oper zu inszenieren (bis zu einer Operette hatte er es schließlich schon gebracht) und einen Roman zu schreiben. Bei ersterem wäre ein musikalischer Flankenschutz seitens der Frau Doktor sicherlich von Vorteil, dachte er, aber im Augenblick war ihm eher nach ihrem Flankenfleisch.

„El Loco“ schien unzufrieden. Schweißüberströmt vom Feuermachen betrat er die Terrasse, küsste die Frau, die zu spät zurückzuckte und sich mit dem Handrücken seine Feuchtigkeit von der Wange strich, nahm einen gewaltigen Schluck aus der Weinflasche, beklagte, dass er sich von Gott und der Welt allein gelassen fühle, kein Mensch ihm helfe, mit ihm rede, geschweige ihm zuhöre. Aus seinen kleinen wieselflinken Augen, die unruhig an Franz nagten, schaute er diesen an, als wittere er Ungemach. Irgendwie passte es ihm nicht, dass der „Onkel“ von nebenan mit der Frau Doktor Wein trinkend auf seiner Terrasse saß, während er Feuer machte und die beiden, wie es ihm aus der Entfernung geschienen haben mochte, angeregte Gespräche führten. Zwischen zwei weiteren tiefen Schlucken aus der Flasche drohte er scherzhaft mit dem Finger, warnte vor den vielen bösen Onkels, die auf der Welt herumliefen, besonders den deitschen Onkels, die es nur darauf anlegten, aus einem österreichischem Rotkäppchen ein gefallenes Mädchen zu machen. Nach einer gut getimten Pause setzte er hinzu, „Aber Frau Doktor is jo scho lang kein Rotkäppchen mehr!“ Sich und seine Sottise mit einem peitschenden Lacher belohnend, hüpfte er wie ein Rumpelstilz wieder zum Steinofen, um noch einmal einen Arm voller Holzscheite in die Flammen zu geben. Derweil war Franz gedanklich im Mittelalter angelangt und von dort zog es ihn weiter in die Steinzeit. Dazumal zogen die richtigen Männer in den Kampf oder gingen auf Jagd, derweil die falschen bei den Frauen hockten, um ihnen Geschichten zu erzählen. Meist Lügengeschichten. Und wenn die richtigen Männer dann mit einem erlegten Bären nach Hause kamen, hatte Franz der Falsche, ein Großmeister unter den Lügengeschichtenerzählern, den Frauen schon so manchen Bären aufgebunden, von Fall zu Fall auch den ein oder anderen „Bären“ beglückt.

Konnte sich Franz den Gebrauchtwagenhändler kaum als seriösen Verkäufer in Anzug mit Krawatte vorstellen, so im Moment doch gut als Heizer auf einem der Dampfschiffe, die im letzten Jahrhundert den Atlantik querten. Schweißbäche, vermischt mit Öl und Rußpartikeln troffen ihm von der blau geaderten Stirn, rannen über den Körper und wurden vom Bund der schwarzen Shorts aufgesogen. Aus den verschiedensten Kräutern hatte er einen nahezu Palmwedel großen Strauß zusammengebunden, den er immer wieder in die Blechschüssel mit der selbst angerichteten Marinade tunkte, um dann mit heftigen Hieben, wobei Öltröpfchen und Kräuterblättchen durch die Luft spritzten, auf den Lammrücken einzudreschen, als handele es sich um den blanken Arsch einer Nonne in den Memoiren Casanovas. Dabei schrie er immer wieder, „Du Sau, du Sau, du Huren-Sau“.

Die Kräuterpeitschenschläge hatten dem Fleisch gutgetan und die 600 Grad Celsius im Steinofen taten ein Übriges. Nach zwei Stunden hatte sich um das Fleisch eine Kruste gebildet, deren würziger Duft die Nasen der Gäste in hellste Aufregung versetzte, den Speichelfluss deutlich anregte und die Geschmacksknospen aufblühen ließ. Wenig später kauten zehn Urlauber in tiefer Andacht ihren Lammbraten, nur ab und an unterbrochen von dem Knacken der vom Hund zerbissenen Knochen und der zwischen den Zähnen der Esser zerspringenden Fleischkruste. In diesen Augenblicken schien Franz alles einfach und deswegen heilig – denn alles Einfache ist heilig. Fleisch, Feuer, Brot, Wein, Wind – hinter dem Wind das Meer, vor dem Wind eine junge Frau. Im Augenblick war sie zwar nur ein Nachtschattengewächs seiner Fantasie, ihre Hand jedoch, eine Unterarmlänge von der seinigen entfernt, durchaus berührbar. Er sah sie an. „Hinter ihren Augen sah ich wieder dieses gerüttelte Maß an Ironie, diesen Spott, der ihrem Blick etwas von seiner Tiefe nahm, die ich zu diesem Zeitpunkt noch mit tieferer Bedeutung zu verwechseln schien“, schrieb er später in seinem Roman.

In Sachen Alkohol selbst kein Kostverächter, staunte Franz jedoch, welche Mengen Wein das Wiener Paar in sich hineinschütten konnte. Als Zeuge vor Gericht hätte er beschwören können, dass der Gebrauchtwagenhändler tierisch betrunken war, als er mit dem eisernen Schürhaken auf ihn zustürzte und ihm eine Schädelspaltung androhte, falls er die Frau Doktor noch einmal mit lüsternem Blick belästige. Weiterhin hätte er auch ohne weiteres beschworen, dass er den Gebrauchtwagenhändler in den paar Tagen, in denen man miteinander verkehrte, kein einziges Mal nüchtern erlebt habe. Gedankenspiele beim Lammbraten.

War es beim Essen noch andächtig still gewesen, stieg kurz darauf wieder der Lärmpegel. Die Lachen von „El Loco“ und Werner mischten sich erneut zu einer Kakofonie, die das Zirpen der Zikaden in den Schatten stellte, und Franz wusste nicht, welche Lache es ins Guinness-Buch der Rekorde schaffen würde.

₺570,09

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
450 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783752908473
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок