Kitabı oku: «Die Gedächtnislosen», sayfa 2
Dieser Prozess bewies den Willen der Alliierten, insbesondere der Amerikaner, die Nazi-Verbrechen nicht ungestraft zu lassen. Nach Robert H. Jackson ermöglichte er, eine »neue Weltordnung durch das Recht« zu bestimmen und ein Verbrechen neuer Qualität zu definieren: das Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Kurzfristig zeitigte er aber nicht die erwünschten Effekte, weder auf internationaler Ebene noch in Deutschland. Richter Jackson hatte die Anklage wegen des »Verbrechens gegen den Frieden« und des »Komplotts« in den Vordergrund gestellt – entsprechend der Vorstellung, dass »eine Gangsterbande sich des Staates bemächtigt« habe, wie er an seinen Präsidenten Harry S. Truman schrieb. Diese Sichtweise gab einer Legende Nahrung, die in der Folge lange allen Widerlegungsversuchen standhielt: der These, dass die Verbrechen der Nazis das Ergebnis eines geheimen, von einer kleinen Gruppe von Anführern um Hitler herum entwickelten Plans gewesen seien, die ihre Befehle an Untergebene weitergeleitet habe, von denen wiederum nur wenige gewusst haben, dass sie einem kriminellen Regime dienten. Ein weiteres Problem, auf das einige Juristen im Verlaufe des Prozesses aufmerksam machten, ergab sich daraus, dass hier Sieger Besiegte verurteilten und der beschränkte Auftrag des Gerichts die Kriegsverbrechen der Alliierten ungesühnt ließ: die Kollaboration von Vichy-Frankreich, die massiven Bombardierungen der deutschen Zivilbevölkerung durch Amerikaner und Briten, die von der Roten Armee in den Ostgebieten des Reichs begangenen Grausamkeiten, die von den Amerikanern über Japan abgeworfenen Atombomben.
Eines der großen Versäumnisse des Prozesses aber bestand darin, die Einzigartigkeit des Genozids an den Juden vernachlässigt zu haben, da es den Straftatbestand des Völkermords damals noch nicht gab. »Selbst im Angesicht der unvergleichlichen Verbrechen der Nazis war ein Tabu des überkommenen Völkerrechts noch immer nicht zu knacken: keine Einmischung in die ›inneren Angelegenheiten‹ eines souveränen Staates«, die Verbrechen gegen die deutschen Juden aber wurden als solche eingeschätzt, urteilt Thomas Darnstädt. Zudem waren kurz nach dem Krieg viele Geschehnisse noch nicht wirklich bekannt. So war zum Beispiel das Protokoll der Wannseekonferenz, bei der im Januar 1942 die detaillierte Organisation des Holocaust an den Juden koordiniert wurde, damals noch nicht als Beweismittel bearbeitet worden.
Im weiteren Verlauf von Nürnberg mussten in insgesamt zwölf Nachfolgeprozessen zwischen 1946 und 1949 über 185 hochrangige Mediziner, Juristen, Industrielle, SS- und Polizeiführer, Militärs, Beamte und Diplomaten vor US-Militärgerichten erscheinen. Zum Tode verurteilt wurden 24 Angeklagte, davon wurden 13 Urteile vollstreckt, 20 erhielten lebenslange und 98 teilweise langjährige Freiheitsstrafen. Gleichzeitig bewegte die angesichts der aus den Konzentrationslagern stammenden Bilder empörte amerikanische Öffentlichkeit die USA ZU der Eröffnung der sogenannten Dachauer Prozesse innerhalb des Konzentrationslagers Dachau, hauptsächlich gegen das Personal der sechs in der amerikanischen Zone gelegenen Lager. Circa 1.600 Angeklagte wurden verurteilt, 268 der insgesamt 426 verhängten Todesurteile wurden vollstreckt.
Insgesamt wurden in den drei westlichen Zonen bis Ende 1949 rund 10.000 NS -Täter gerichtlich verurteilt, von denen wiederum 806 die Todesstrafe erhielten. Angesichts der vorgegebenen Zeit offenbart diese Bilanz eine gewisse Effizienz, insbesondere auf Seiten der Amerikaner. Allerdings gelang es vielen von jenen, die angesichts ihrer Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reiches fraglos verdient hätten, aus der Gesellschaft ausgeschlossen und ins Gefängnis gesperrt zu werden, durch die Maschen des von den Alliierten zu weit gespannten Netzes zu rutschen. Es genügte, sich als Mitläufer auszugeben, indem man einige Papiere fälschte und vermeintliche Entlastungszeugen schmierte, deren Glaubwürdigkeit von den alliierten Behörden nur selten zu überprüfen war, teils weil sie von der schieren Flut der Verfahren überwältigt waren, teils weil ihr Ansporn nachzulassen begann.
Aber auch ganz andere Interessen warfen erste Schatten auf die Intentionen der Alliierten: Während man sich gern damit brüstete, die deutsche Wirtschaft wieder auf die Beine stellen zu wollen, zogen die Besatzer, allen voran die Amerikaner, aus ihrer Machtposition Nutzen, um technologisches Know-how zu stehlen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren die spektakulären Leistungen deutscher Wissenschaftler von der Welt neidvoll wahrgenommen worden. Zwischen 1900 und 1945 waren 38 Nobelpreise an Deutsche verliehen worden. Im gleichen Zeitraum hatte Frankreich 16 erhalten, Großbritannien 23 und die Vereinigten Staaten 18. Die Niederlage des Reiches war für diese Länder die Gelegenheit, sich fehlendes technisches Wissen anzueignen, was gerade im Kontext des Kalten Krieges noch an Brisanz gewann.
So wurden im Rahmen der amerikanischen Operation Paperclip massenhaft Wissenschaftler aus Deutschland herausgeschleust. Dies geschah heimlich, um zu verhindern, dass diejenigen, die mit dem Nazi-Regime kollaboriert hatten – wie etwa Wernher von Braun, der Vater der V2, Mitglied der NSDAP und der SS –, in die Hände der internationalen Gerichtsbarkeit fielen. Es ist zum Teil dem Vorsprung dieser Experten auf dem Gebiet der chemischen Waffen, der Raumfahrt, der ballistischen Raketen und der Düsenflugzeuge geschuldet, dass die Vereinigten Staaten während des Kalten Krieges ihre technologische Überlegenheit ausspielen konnten. Auch auf anderen, zivilen Gebieten wurden zahlreiche Innovationen gestohlen, von Elektronenmikroskopen über Kosmetikartikel und Textilmaschinen bis zu Tonbandgeräten, Insektiziden und sogar Schlittschuhschleifer- sowie Papierservietten-Maschinen. Das Vereinigte Königreich tat sich gleichfalls keinen Zwang an, sich an Patenten und Technologien zu bereichern. Der amerikanische Historiker John Gimbel schätzt, dass die Briten und in noch größerem Umfang die Amerikaner auf diese Weise Deutschland ein intellektuelles Vermögen im damaligen Wert von zehn Milliarden US-Dollar entwendet hätten, was heute in etwa 100 Milliarden US-Dollar entspricht.
Die Franzosen waren in dieser Hinsicht weitaus weniger engagiert. Im Gegensatz zu den anderen Alliierten glaubten die Behörden nicht, dass es möglich war, deutsche Technologien aus ihren jeweiligen Kontexten herauszulösen und im eigenen Land zu integrieren. Aber das Militär und die Luftfahrtindustrie haben den Wert dieser kostbaren Kenntnisse und Erfahrungen erkannt und ließen mehrere Hundert Wissenschaftler nach Frankreich kommen, insbesondere jene, die an der Vz-Rakete gearbeitet hatten. Jetzt wurden sie bei der Konstruktion der Düsentriebwerke von Jagdflugzeugen, des ersten Airbus, der ersten französischen Raketen und des ersten Helikopters der späteren Firma Eurocopter, heute Airbus Helicopters, eingesetzt. Auch war ihr Beitrag bei der Entwicklung von U-Booten, Torpedos, Radarsystemen, Granaten und Panzermotoren erheblich und erlaubte Frankreich ein paar beachtliche Durchbrüche zu erzielen. Die Sowjets setzten Tausende deutscher Experten mitsamt ihren Familien in Züge, um sie auch gegen ihren Willen nach Russland zu verschleppen – unter ihnen etwa der Assistent von Wernher von Braun, Helmut Gröttrup. Diese waren anfangs daran beteiligt, das Raketenprogramm Stalins auf den Weg zu bringen und damit zumindest indirekt auch am Start der Sputnik in der UdSSR im Oktober 1957, dem ersten künstlichen Erdsatelliten.
Diese und ähnliche Interessenkonflikte beschädigten den Ruf der Alliierten, aber sie sollten nicht vergessen lassen, dass sie das Verdienst haben, Kriegsverbrecher und NS-Funktionäre bestraft und der Bevölkerung ein erstes Verständnis der Schändlichkeit des Dritten Reiches bewusst gemacht zu haben. So sagt die 1936 geborene Schwester meines Vaters, sie habe seit ihrer Jugend gewusst, dass »die Nazis Verbrechen begannen haben«, dass »dies in der Schule und selbst in den Medien erwähnt« worden sei, in welchen sie Fotos der Konzentrationslager gesehen habe. Ich war erstaunt darüber, da mein Vater, der 1943 zur Welt gekommen ist, mir gegenüber immer nur von einem vollständigen Gedächtnisschwund nach dem Krieg gesprochen hat. Dann wurde mir klar, dass Ingrid zu einer Zeit die Schule besucht hatte, als die Amerikaner in Mannheim versuchten, die Deutschen »umzuerziehen«, wohingegen zu jener Zeit, da mein Vater zur Schule ging, die Episode der Entnazifizierung bereits beendet war.
1948 wurden die drei westlichen Zonen fusioniert, um einen neuen Staat, die Bundesrepublik Deutschland, zu gründen. Die Alliierten kamen darin überein, auch Westdeutschland vom Marshallplan profitieren zu lassen, ein Kreditprogramm, mit dem der Wiederaufbau zahlreicher westeuropäischer Staaten finanziert werden sollte. Mein Vater sagt noch heute, dass »Deutschland Glück gehabt hat, mit dieser Nachsicht behandelt worden zu sein, bedenkt man die Verbrechen, die es begangen hatte«. Es hat alles in allem vom Kalten Krieg profitiert.
Ende der Vierzigerjahre zogen sich die Alliierten von der ungeheuren Herausforderung der Entnazifizierung zurück, für die es ihnen letztlich an Wissen über die Komplexität des Nazi-Regimes mangelte. Ohnehin konnte niemand von außen diese Aufgabe anstelle der Deutschen bewältigen. Es lag an ihnen selbst, ihre Geisteshaltung zu ändern und ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Es gab gute Gründe, diesbezüglich pessimistisch zu sein.
2Deutschland im »Jahre Null«
NACH DEM KRIEG ging es in der Familie meines Vaters nie um Politik, Diskussionen am Tisch waren eher selten: Die Kinder durften nur sprechen, wenn man ihnen ausdrücklich das Wort erteilte, und taten sie es doch, mussten sie damit rechnen, die Hucke vollzubekommen, da Karl eine autoritäre Vorstellung von Vaterschaft besaß.
In der apokalyptischen Atmosphäre Nachkriegsdeutschlands hatte nicht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Priorität, es ging vielmehr darum, so schnell wie möglich ein neues Leben aufzubauen und zu organisieren. Die Familie Schwarz lebte in einer Dreizimmerwohnung in der ersten Etage eines kleinen Mietshauses, das 1902 vom Vater meiner Großmutter errichtet worden war, einem Tischler, der es 1935 seiner Tochter hinterlassen hatte, da sie die einzige Überlebende seiner neun Kinder war. Die Chamissostraße war hart von den alliierten Bombenangriffen getroffen worden, doch wie durch ein Wunder hatte das dort gelegene Wohnhaus das Schlimmste überstanden, während die Gebäude der gegenüberliegenden Straßenseite zu einer Ruinenwüste zertrümmert worden waren. Diese urbane Entstellung empfanden einige dennoch als Glück: »Das war für uns Kinder ein Terrain unglaublicher Abenteuer, wir konnten laufen, springen, klettern, uns verstecken und haufenweise Schätze entdecken«, erinnert sich mein Vater.
Während des gesamten Krieges waren Mannheim und seine Nachbarstadt Ludwigshafen, beide am Zusammenfluss von Rhein und Neckar gelegen, häufiger als jede andere Stadt dieser Gegend Ziel der Angriffe – insgesamt 304 –, was ihrer Infrastruktur als Hafenstädte, ihren industriellen Zentren für Maschinenbau und Elektronik sowie ihrer chemischen und pharmazeutischen Produktion geschuldet war. In Wirklichkeit aber hatten die Briten, gemessen an der Anzahl ihrer Luftangriffe, insbesondere die Wohngebiete ins Visier genommen, die am dichtesten besiedelt waren. Mannheim schien ihnen bestens geeignet gewesen zu sein, um eine Bombardierungstechnik zu testen, die man Carpet bombing oder Flächenbombardement nannte und deren Zweck, wie es der Name besagt, darin bestand, eine urbane Fläche so weit zu schleifen, bis sie einem Teppich glich. Die Stadt schien für dieses Experiment aufgrund der Einteilung ihres Zentrums in Karrees wie geschaffen, da diese eine genaue Auswertung der Explosionsfolgen mithilfe von Luftaufnahmen ermöglichte. Zum Glück meiner Großeltern lag ihr Mietshaus vom Stadtzentrum leicht abgelegen. Einige der Bomben hatten jedoch eine so große Sprengwirkung, dass ihre Detonationen Wohngebiete im Umkreis von mehreren Kilometern beschädigen konnten – Schäden, die mein Großvater nach und nach peinlich genau den deutschen Obrigkeiten vorlegte, um entsprechende Wiedergutmachung zu erhalten.
Mein Vater und ich sind die Akten durchgegangen, die Opa sein ganzes Leben lang sorgsam im Keller aufbewahrt hatte, als hätte er noch Jahre nach Kriegsende befürchtet, es käme einer, der seine erlittenen Verluste leugnen und von ihm verlangen würde, die Abgeltungen zurückzuzahlen. Nach jedem Angriff kamen die Behörden, um die Schäden für eine Wiedergutmachung festzustellen, die häufig erst viel später ausbezahlt wurde: »Durch Luftdruckeinwirkung infolge Bombeneinschlags bei dem Fliegerangriff vom 5./6.8.41 wurde auf oben bezeichnetem Grundstück Gebäudeschaden verursacht. Es entstand Dach- u. Glasschaden. Wände und Decken sind gerissen. Der Schaden wurde dem Grunde nach durch das Augenscheinprotokoll des städt. Hochbauamtes vom 4.11.1941 der Höhe nach durch die vorgelegten, von Architekt Anke geprüften und bestätigten Handwerkerrechnungen mit zusammen RM 4841,83 nachgewiesen. Außerdem wurden dem Geschädigten Ersatzleistungen in Natur in Höhe von RM 340,67 gewährt. Die Entscheidung ergeht kostenfrei.« Dieser Brief der Feststellungsbehörde des Oberbürgermeisters ist auf den 15. Mai 1943 datiert, das heißt fast zwei Jahre nach dem Schaden, vor allem aber inmitten des Zusammenbruchs, in dem sich das Dritte Reich bereits befand, und ich finde es ziemlich faszinierend, dass aller chaotischen Zustände zum Trotz die deutsche Bürokratie weiterhin mit einer solchen Präzision funktionierte.
Der verheerendste Angriff war jener in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1943. In nur wenigen Stunden warf eine Flotte von 605 Maschinen der Royal Air Force 150 Minen, 2.000 Sprengbomben, 350.000 Brandbomben sowie 5.000 mit weißem Phosphor bestückte Bomben ab. Die Stadtbewohner flüchteten sich in die etwa 52 großräumigen Bunkeranlagen, die mehr als 130.000 Personen Schutz boten. Es ist dieser Infrastruktur zu verdanken, dass die Anzahl der zivilen Opfer der Bombardements auf etwa 1.700 Tote in Mannheim beschränkt blieb, verhältnismäßig wenige also, bedenkt man die Massivität der Angriffe. Als am 6. September die Bewohner wie Zombies aus ihren unterirdischen Verstecken hervorkletterten, war das Stadtzentrum nur mehr Schutt und Asche, brennende Ruinen. Der gesamte Komplex der Gesellschaft für Mineralölprodukte meines Großvaters, dessen Lage sich in unmittelbarer Nähe zum Hafen befand, war ausgebrannt. Das Gebäude auf der Chamissostraße hatte ebenfalls Schaden genommen, der im Keller eingerichtete und den Einwohnern als Schutzraum dienende Bunker jedoch hatte standgehalten. Seine Grundfesten existieren im Übrigen heute noch – große, in die Decke eingezogene Stahlbalken sowie eine hermetisch verschließbare Panzertür, die so unglaublich schwer ist, dass ich sie als kleines Kind gar nicht allein öffnen konnte, wollte ich aus dem Keller Marmelade holen. Es war meine Tante Ingrid, die mir Jahre später erklärte, dass mit Beginn des Krieges die NSDAP Männer geschickt hatte, um den Keller in einen Privatbunker umzubauen, was ein Privileg gegenüber all jenen war, die in den öffentlichen Bunkern Schutz suchen mussten.
Zum Zeitpunkt des Angriffs vom September hatte meine Oma, wie viele andere Frauen und Kinder, die vor den immer häufigeren Bombardierungen Schutz gesucht hatten, Mannheim bereits mit der sechsjährigen Ingrid und meinem eben erst geborenen Vater verlassen. »Er war ein krankes Kind, er hatte Bronchitis und wollte einfach nicht aufhören zu husten«, berichtet meine Tante. »Der Doktor hatte zu uns gesagt: ›Bei all dem Staub aus den Ruinen sollten Sie die Stadt besser meiden!‹« Ihr erstes Ziel war dann der Odenwald, eine hübsche, hügelige Landschaft direkt hinter Mannheim. »Wir lebten bei zwei alten Fräuleins, die bald schon die Nase voll hatten von dem schreienden Baby. Also hatten sie zu meiner Mutter gesagt: ›Lydia, du musst woandershin, das ist uns zu viel.‹« Ihr Weg führte sie weiter nach Franken zu den Eltern von Karl Schwarz. »Das waren arme Bauern, die schon drei Kinder ernähren mussten. Wir lebten auf engstem Raum miteinander, und da es gar nicht genug Teller gab für alle, steckten wir unsere Löffel einfach direkt in einen mitten auf den Tisch gestellten Kessel, ich fand das ulkig.« Davon weitaus weniger amüsiert war allerdings Oma, die es nicht mehr ertrug, sich noch länger aufzudrängen, und die bald schon dem Bürgermeister des kleinen Marktfleckens damit drohen sollte, »Dummheiten zu begehen«, falls er nicht schnellstmöglich eine Unterkunft für sie finden sollte. »Ich hatte sie begleitet, und sie sagte zu ihm so etwas Furchtbares wie: ›Ich hänge mich auf oder werfe mich mit meinen Kindern in den Fluss‹«, erinnert sich meine Tante. Ein Bauer bot ihnen ein Zimmer an, im Gegenzug dafür musste meine Großmutter bei jedem Wetter hart auf den Feldern arbeiten und Tag für Tag die Kühe melken.
Ich habe Fotos aus dieser Zeit des Exils gefunden, das sich über zwei Jahre erstrecken sollte. Ingrid mit ihren beiden blonden Zöpfen, leichtfüßig wie eine Gazelle in den grünen Hügeln, und mein Vater, sein hellblond leuchtendes Haar wie eine Mähne über seinem Puppengesicht tragend, wie er mühsam vor einem Gänsegehege herumkraxelt und strahlend offen lacht. Manchmal ist auch Opa auf diesen Negativen zu sehen, er kam sie jedoch selten in dieser Zeitspanne besuchen.
Als 1939 der Krieg ausbrach, war Karl Schwarz 36 Jahre alt, wurde aber nicht einberufen, was neben seinem Alter vielleicht auch daran lag, dass die Kriegsanstrengungen des Reiches zunächst noch nicht so vieler Männer bedurften, nachdem die Wehrmacht ihre Schlachten in Polen, Skandinavien, den Beneluxländern und im Juni 1940 schließlich auch in Frankreich per Blitzsieg entschieden hatte. Der Auftakt zum Unternehmen Barbarossa am 22. Juni 1941 jedoch, das über drei Millionen Soldaten der Achsenmächte in den Ansturm auf die Sowjetunion entlang einer Front warf, die sich von der Ostsee bis hin zu den Karpaten zog – eine in der Militärgeschichte noch nie da gewesene Ausdehnung –, veränderte die Ausgangslage: Je tiefer das Dritte Reich in diesem soldatenfressenden Krieg stecken blieb, desto geringer wurde die Chance, dem Leidensweg an der Ostfront zu entkommen.
Karl, ein Lebemann, der keinerlei Lust verspürte, in den eisigen Steppen Russlands den kleinen Soldaten des Nazi-Regimes zu spielen, musste sich von nun an geschickt anstellen, wollte er sich drücken. Seine Parteimitgliedschaft in der NSDAP als Trumpf allein stach nicht mehr. Er musste höhere Instanzen von der unbedingten Notwendigkeit seiner Anwesenheit in Mannheim überzeugen und ihnen klarmachen, dass er seine Geschäfte weiterhin betreiben musste. Werde seine Kundschaft der Mineralölprodukte beraubt, so mochte er argumentiert haben, bestünde die Gefahr, dass sie ihren Beitrag zur deutschen Wirtschaft nicht mehr leisten könne. Bedenkt man die sehr bescheidene Größe seiner Gesellschaft, sowie die Drosselung seiner Produktion während des Krieges und andererseits den dringlichen Mangel an Männern für die Front, muss Karl Schwarz ein außergewöhnliches Überzeugungstalent an den Tag gelegt haben, um von der Verpflichtung zum Dienst in der Wehrmacht freigestellt worden zu sein. Gut möglich, dass er bereits in ebendiesem Augenblick den Einfall hatte, die Wehrmacht zu seinem Kunden zu machen, indem er zweifelsohne einen für Letztere vorteilhaften Preis anbot. So machte er sich der Wirtschaft des Reiches nützlich.
Ich muss ihm zumindest ein gewisses Talent zugestehen, das es ihm erspart hat, einer kriminellen Bande megalomaner und suizidaler Nazis als Kanonenfutter zu dienen. Vor Kurzem jedoch, als mein Vater und ich die im Keller gehorteten Ordner durchgingen, schien der Hintergrund von Opas Freistellung plötzlich unter einem anderen Licht auf. In einem auf den 4. März 1946 datierten Brief klagt sein Geschäftspartner der Schwarz & Co. Mineralölgesellschaft, Max Schmidt1, meinen Großvater an, die Nazi-Obrigkeiten darüber informiert zu haben, dass er, Schmidt, kein Mitglied der NSDAP war, und er damit allein die Absicht verfolgt habe, dass Schmidt an seiner statt zur Armee eingezogen würde. »Ihr damaliger Vorwurf, dass Sie mich wegen meiner Nichtzugehörigkeit zur Partei haftbar machen sollten, ist kein Fantasiegebilde, sondern leider Tatsache gewesen, genau wie Ihre sonstigen Aussagen, die Sie heute nicht mehr wahrhaben wollen. Im Übrigen drehten Sie bisher den Wind stets so, wie es für Ihre eigenen Zwecke günstig war, während ich Ihrerseits nur als das notwendige geldgebende und auftragsbringende Übel angesehen wurde.« Und er fügt hinzu: »Ich bin ja nicht freiwillig Soldat geworden. Durch meine Einziehung zur Wehrmacht wurde Ihnen ja erst die Möglichkeit gegeben, für den Betrieb unabkömmlich gestellt zu werden.«
Bei den Behörden muss mein Großvater geahnt haben, dass, sollte denn überhaupt eine Chance bestanden haben, der Wehrmacht mit der Begründung entkommen zu können, die Firma benötige einen Geschäftsführer, diese dann nur für ihn oder seinen Partner gegolten hätte, keinesfalls aber für beide zugleich. Und gut möglich, dass er eben in diesem Moment und ganz nebenbei hatte durchsickern lassen, dass sein Partner Max Schmidt kein Parteimitglied war.
Vom Frühling 1943 an lebte Karl allein, da Frau und Kinder inzwischen aufs Land gezogen waren. Die Abende müssen ein wenig traurig gewesen sein in dem halb leeren Gebäude auf der Chamissostraße, dessen Einwohner entweder aus der Stadt verbannt oder aber an der Front dem Tod und der Kälte trotzten, abgesehen von drei oder vier Seelen, die in dieser gespenstischen Kulisse diverser Wohnungen zusammenlebten, in deren Decken, Böden und Wänden Risse klafften und deren zerborstene Fenster mithilfe großer Kartonstücke abgedichtet worden waren. Um ein wenig Aufmunterung zu erfahren, begab sich mein Großvater in das Kabarett Eulenspiegel, auf der Langen Rötterstraße, einer kleinen Seitenstraße. Viele Kabaretts, Varietéhäuser und Theater des Dritten Reiches hatten bis zum 1. September 1944 ihren Betrieb fortgeführt, als schließlich Propagandaminister Joseph Goebbels deren Schließung anordnete. Bis dahin waren viele Künstler vom Armeedienst befreit, da ihre Rolle im Wesentlichen darin gesehen wurde, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den allgegenwärtigen Schreckensszenarien, in die Hitler sie zu stürzen im Begriffe war, abzulenken.
Das Etablissement existiert nicht mehr, aber ich habe in den Papieren meines Großvaters ein Blatt gefunden, dessen Briefkopf in hübscher roter Kalligrafie den Schriftzug »Eulenspiegel – Parodistisches Kabarett« trägt. Am unteren Seitenrand sind Auszüge positiver Pressestimmen wiedergegeben. Aus Saarbrücken: »Selten wird Kunst in dieser pikanten Form serviert. Mit klassischem und volkstümlichem Gesang paart sich ein schalkhafter Humor, durchweht von sprühendem Geist. Das Ganze als Eulenspiegelparodie war, man kann es nicht anders bezeichnen, eine Glanzleistung.« Aus Mannheim: »Die Eulenspiegel gewannen schnell Sympathie, denn sie zeigten Originalität, Geist und – welch seltene Wohltat – Niveau.« Auf halber Höhe des auf den 2. Februar 1948 datierten Briefes steht geschrieben: »Wir bestätigen hiermit, dass Herr Karl Schwarz zu unserer Gruppe gehört«, und unten auf der Seite bezeugt dies die Unterschrift des Leiters des Kabaretts, Theo Lustfeld2. Welches Motiv sich auch immer hinter diesem Dokument verbergen mag, das zweifellos als Alibi gedient haben musste, um meinen Großvater nach dem Krieg von möglichen Unregelmäßigkeiten reinzuwaschen, so verweist es doch darauf, dass Karl das Etablissement häufiger aufgesucht haben muss, um ein solch heimliches Einverständnis erlangt haben zu können. Tatsächlich hatte er vor allem mit einer Dame verkehrt, einer Künstlerin, die zugleich die Ehefrau des Chefs war, Frau Lustfeld, und sich dem Paar so sehr angenähert, dass er nach der Zerstörung seiner Firma im September 1943 sein Büro und seine Lagerhalle gleich neben ihrer Wohnung in einer an den Randgebieten von Mannheim gelegenen Ziegelei einrichtete, wo er dann auch bis zum Ende des Krieges wohnte. Und da es kaum vorstellbar ist, dass der Ehemann von der intimen Nähe, die seine Frau an ihren neuen gemeinsamen Freund band, keinen Wind bekommen hatte, hält mein Vater es für durchaus wahrscheinlich, dass sie eine Art Ménage-à-trois führten, die bis zum Tode meines Großvaters halten sollte. Als Oma begriff, dass die Lustfelds, die sich während ihrer Abwesenheit so rührend um ihren Ehemann gekümmert hatten, mehr als nur Freunde waren, stürzte sie dies in einen Schmerz, von dem sie sich nie mehr wirklich erholen sollte. Glücklicherweise hat sie diese unangenehme Entdeckung erst sehr viel später gemacht und nicht schon nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 bei ihrer Rückkehr mit den Kindern nach Mannheim. Ein anderer Schock erwartete sie dort bereits: Die Stadt, in der sie das Licht der Welt erblickt hatte, war zur Hälfte verschwunden.
Mannheim war im Südwesten Deutschlands eine der am meisten zerstörten Städte; 70 Prozent des Zentrums und 50 Prozent der restlichen Stadt lagen in Trümmern. Es hatte den desaströsen Luftangriff vom September 1943 gegeben und zahlreiche weitere, und schließlich flogen die Bomber der Royal Air Force am 2. März 1945 noch ein letztes Mal los, obwohl das Ende des Krieges bereits absehbar war, und entzündeten einen Feuersturm, der den Rest der historischen Altstadt mit sich davontrug. Ende März hatten die Mannheimer bei der Ankunft der Amerikaner die Waffen gestreckt und waren auf diese Weise, ohne es zu wissen, dem Schlimmsten überhaupt entkommen, denn ein amerikanischer Geheimplan sah vor, über mehreren Städten nukleare Sprengbomben niedergehen zu lassen, sollten die Deutschen Widerstand leisten – Mannheim und Ludwigshafen zählten zu den möglichen Zielen.
Falls Oma mit dem Zug angekommen sein sollte, so hat sie neben dem Bahnhof das große Barockschloss, von dessen 500 Zimmern ein einziges unberührt geblieben war, an allen Ecken und Enden durchlöchert gesehen. Um zur Chamissostraße zu gelangen, hat sie die alten großen Einkaufsstraßen überqueren müssen, die einst von prächtig erleuchteten Kaufhäusern gesäumt gewesen waren, vor Leben nur so wimmelnd und jeglichen Überfluss zur Schau stellend – Magnete, in die man aus der ganzen Region herbeigeströmt war, um Einkäufe zu erledigen. Karstadt und die ehemaligen jüdischen, nun aber arisierten Kaufhäuser Kander, Gebrüder Rothschild, Hermann Schmoller & Co waren zum Großteil wie Kartenhäuser unter den Bomben zusammengesackt. Von den Cafés, die im Sommer stets ihre schönen Terrassen geöffnet hatten, um den Damen Sahnetorten und Kaffee zu servieren, war keine einzige Spur mehr verblieben, abgesehen vielleicht von einigen aus ihren Firmenschildern herausgerissenen Buchstaben oder auch den Scherben des Geschirrs, das den Namen des Caféhauses trug und nun als Splitter aus den Trümmerbergen herausragte, die sich an den Gehsteigkanten auftürmten, um den Weg freizugeben. Ganze Straßenzüge waren verschwunden, verwandelt in großflächige, schemenhafte Terrains, auf denen hier und da die Karkassen von Gebäuden und die körperlosen Fassaden fortbestanden, aufgestellt wie Theaterkulissen im Nichts. Ich stelle mir Oma vor, wie sie, eine äußerst gläubige Protestantin, die altvertraute Silhouette einer Kirche mit ihren Blicken sucht und an deren Stelle nichts als das nackte Skelett eines Kirchenschiffs vorfindet und ein vor der klaffenden Öffnung eines Glockenturms schief hängendes Kreuz.
Wie viele Deutsche haben wohl, meinen Großeltern gleich, ihre Geburtsstadt derart entstellt gesehen, die Identität eines Lebens? Hamburg war in ein Feuermeer verwandelt worden, das bis zu 40.000 Menschen das Leben kostete und die Hälfte aller Wohnungen zerstörte, Dresden, Meisterwerk des Barocks, war nach einem Bombensturm, der circa 25.000 Einwohner tötete, zu einer Geisterstadt geworden. Hannover, Kassel, Nürnberg, Magdeburg, Mainz, Frankfurt waren zu 70 Prozent verschwunden, während das gesamte Ensemble im Industriebecken an Rhein und Ruhr – Köln, Düsseldorf, Essen, Dortmund – unter den Bomben zusammengebrochen war. Einige Gemeinden wie Düren, Wesel oder Paderborn waren sogar zu mehr als 96 Prozent verschwunden. Summa summarum verlor jede fünfte Familie ihr Zuhause. Die Zahlen schwanken, aber vermutlich starben während der Luftangriffe etwa 300.000 bis 400.000 Menschen, so der Historiker Dietmar Süß. Mindestens ebenso viele erlitten lebenslange Folgeschäden und Millionen weitere waren traumatisiert.
Am 14. Februar 1942 hatte London über eine Anweisung dem Oberkommandierenden des Bomber Command der Royal Air Force, Arthur Harris, mitgeteilt, dass er seine Streitkräfte ohne jede Beschränkung einzusetzen habe, die Operationen sollten » on the morale of the enemy civil population and in particular the industrial workers « fokusiert werden, sprich auf Wohngebiete. Arthur Harris erhielt den Spitznamen Bomber Harris. Bevor ich dieses Buch zu schreiben begann, war mir dieser Held der Briten nicht bekannt, und ich muss, als ich in London studierte, wohl zigmal an seiner 1992 enthüllten Statue vorübergegangen sein, ohne ihr jemals meine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Seit die Erinnerungsarbeit jedoch für mich zur Obsession geworden ist, jage ich ihr in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen nach, wo immer ich mich aufhalte. Für gewöhnlich widme ich mich ihr ganz allein, denn den Tag mit Toten zu verbringen trifft nicht gerade aller Welt Geschmack. So nutzte ich auch einen Blitzbesuch in London, um mir die Statue anzusehen, auf der Arthur Harris vor der St. Clement Danes Church thront. Dieses Mal las ich das Epitaph: »Im Gedenken an einen exzellenten Befehlshaber und die mutigen Besatzungen der Bombergeschwader, von denen über 55.000 ihr Leben für die Freiheit ließen. Die Nation schuldet jedem von ihnen unermesslichen Dank.«