Kitabı oku: «Die Gedächtnislosen», sayfa 3
Die Bombardierung der Zivilbevölkerung hatte zum Ziel, die Moral der Deutschen und ihre Unterstützung für Hitlers Krieg zu brechen, Historiker sind sich heute aber einig, dass sie nicht dazu beigetragen hat, den Krieg zu verkürzen. Diese Angriffe, ursprünglich als Vergeltung für die zerstörerischen Luftangriffe der Deutschen auf Coventry, auf London und auch auf Rotterdam gedacht, wandelten sich im weiteren Verlauf zu mordsüchtiger Rache. In den letzten Monaten des Krieges bombardierten die Briten und Amerikaner Deutschland beinahe täglich, obwohl die Niederlage des Reiches längst klar war.
Abgesehen von der Masse der zivilen Todesopfer führten diese Verheerungen dazu, dass Deutschland ganze Teile seiner kulturellen und historischen Identität verlor. Sieht man sich Bilder von Mannheim, Berlin oder Köln vor dem Krieg an, so wird einem ein vollkommen anderes Land präsentiert. Doch auch wenn die Alliierten Verbrechen begangen haben, die primäre Verantwortung für diese Gewaltspirale fällt zweifellos dem Dritten Reich zu, denn hätte es den Krieg in Europa nicht vom Zaun gebrochen, Deutschland hätte niemals auf diese Weise gelitten und wäre nicht in solchem Maße verunstaltet worden. Das allergrößte Leid aber brachten nicht die Bomben über die Deutschen, sondern der mörderische Wahn des Führers, der auf den Schlachtfeldern mehr als fünf Millionen deutschen Soldaten das Leben kostete.
Meine Großeltern waren von diesem Blutbad nicht direkt betroffen. Doch unzählige jener, die ihnen nahestanden, hatten den Tod eines der Ihren in diesem Krieg zu beweinen, den Hitler weiterzuführen sich in den Kopf gesetzt hatte, obwohl mehrere Generäle ihm geraten hatten, sich doch zurückzuziehen. Der Mann von Karls Schwester Heidi, ein Offizier der Wehrmacht und glühender Nationalsozialist, war an der Ostfront gestorben, so wie mindestens 3,5 Millionen andere deutsche Soldaten auch, die die Weigerung ihres Führers, angesichts der evidenten Überlegenheit der Sowjets in den letzten Kriegsjahren einen Rückzieher zu machen, mit ihrem Leben bezahlt hatten. Nachdem sein Plan, die UdSSR in den wenigen Monaten des Sommers 1941 zu erobern, misslungen war, trieb Hitler seine Männer an, ihren Vormarsch bei eisigem Winter ohne jegliche Ausrüstung gegen die Kälte bis vor die Tore Moskaus fortzusetzen. Trotz Temperaturen von minus 50 Grad Celsius und ohne Handschuhe geschweige denn Mäntel, erteilte er ihnen den Befehl, um jeden Preis anzugreifen und ihre Position zu halten. »Wir wussten nicht, wo sich die Front befand. Wir knieten oder lagen im Schnee. Die Knie froren uns am Boden fest«, schrieb ein Wehrmachtssoldat in seinen Aufzeichnungen. Unfähig, Gräben in das harte Eis zu ziehen, um darin Schutz zu finden, starben die deutschen Soldaten wie die Fliegen, erschossen von russischen Kugeln oder erledigt von Kälte und Hunger. Ein Jahr später, der Warnhinweise seiner Generäle über den katastrophalen Zustand der Truppen zum Trotz, zwang der Führer die ausgemergelten Soldaten noch einmal zum Angriff, diesmal gegen Stalingrad – eine Offensive ohne jegliche Aussicht auf Erfolg, die darauf hinauslief, seine Männer in den sicheren Tod zu schicken. Die rund 220.000 Soldaten der 6. Armee wurden eingekesselt, sie trugen nichts als dünne Kleidung und litten unter beißendem Hunger. Nur etwa 6.000 kehrten in ihre Heimat zurück.
In Nordafrika, einem weiteren Kriegsschauplatz, fiel die Opferbilanz für die Deutschen mit einigen Zehntausend Toten vergleichsweise niedrig aus, da Erwin Rommel, der als »Wüstenfuchs« gefeierte General, der die Offensive des Afrikakorps gegen die Briten leitete, den Mut besessen hatte, Hitler zumindest einmal nicht zu gehorchen. Bei der Schlacht von El Alamein hatte der Führer trotz der offensichtlichen logistischen Unmöglichkeit, den Feind zurückzudrängen, einen seiner gefürchteten Durchhaltebefehle gegeben: »Ihrer Truppe können Sie keinen anderen Weg zeigen als den zum Siege oder zum Tode.« Rommel, der seinem Chef gegenüber stets äußerst loyal gewesen war, wies jedoch alle beweglichen Einheiten an, sich zurück- und nach Westen abzuziehen. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, die den Niedergang des Reiches bestätigte, redete Rommel dem Führer zu, den Krieg doch zu beenden; er provozierte damit aber nur den Zorn eines Tyrannen, der von seinem maßlosen Machtstreben verblendet war. Wenig später wurde ihm unterstellt, er habe an einem fehlgeschlagenen Putsch der Offiziere gegen das Nazi-Regime teilgenommen. Erwin Rommel, dessen Kühnheit und Triumphe Deutschland jubeln und den Feind zittern ließen, erhielt den Befehl, sich umzubringen – und führte ihn auch aus.
Ähnlich wie er versuchte am Ende des Krieges eine wachsende Zahl von Generälen, Hitler zur Vernunft zu bringen, aber der Führer beharrte unerschütterlich auf seiner Position und konnte sich dabei auch auf die anhaltende und nicht nachvollziehbare Unterstützung eines Teils des Oberkommandos stützen. Wenige Monate vor der Kapitulation, obgleich alle Hoffnung bereits verloren war, fiel den Anführern der Nazis in ihrem selbstmörderischen Wahn nichts Besseres ein, als den Kreis der potenziellen Opfer noch einmal zu erweitern, indem sie auch noch die wenigen, die als Kanonenfutter verblieben waren, einziehen ließen. Vor allem Jungen im Alter von 16 oder 17 Jahren und Männer über 45 Jahre bildeten den »Volkssturm«, der kaum bewaffnet die Städte verteidigen sollte, die längst nicht mehr zu verteidigen waren. Sie wurden skrupellos in den Tod geschickt, um das selbstherrliche Bild des Deutschen, das der Eitelkeit des Führers entsprach, bis zum Äußersten zu pflegen: entweder vollständiger Sieg oder totale Niederlage.
Die Deutschen, die jene letzten Kriegsmonate durchlebten, erinnern sich an diese wie an eine Apokalypse. Das Land fiel in sich zusammen, brannte, explodierte, schrie, zerbrach und ging in einem Danteschen Inferno unter. Wie ein Löwe im Käfig umherirrend, versank Adolf Hitler in der bedrückenden Atmosphäre seines Bunkers unter der Berliner Reichskanzlei in einem trotzigen, selbstzerstörerischen Wahn und zog der Kapitulation den Untergang vor, in den er sein eigenes Volk zu stürzen trachtete, welches sich der nationalsozialistischen Revolution als »unwürdig« erwiesen hatte. Am 30. April schoss er sich, nachdem er seinen Hund getötet hatte, eine Kugel in den Kopf, und Eva Braun, seine Partnerin, die kurz vor seinem Tod zu heiraten er endlich eingewilligt hatte, vergiftete sich mit Zyankali. Am 1. Mai dann war es an seinem Propagandaminister, Joseph Goebbels, einem fanatischen Antisemiten, und seiner Frau Magda, einer besessenen Anhängerin des Nationalsozialismus, Zyankali zu schlucken, nachdem sie es zuvor ihren sechs Kindern verabreicht hatten, die in Propagandafilmen als hellblonde Engel dafür hatten herhalten müssen, die Deutschen innerlich zu rühren.
Selbstmord verbreitete sich in dem Augenblick, da die Ankunft der Roten Armee unausweichlich erschien, wie eine Epidemie. Pastoren, vor allem in Berlin, waren wegen des Ansturms Gläubiger beunruhigt, die sie aufsuchten, um ihnen anzuvertrauen, dass sie stets eine Ampulle Zyankali bei sich trugen. Die Anzahl der Berliner, die sich in den letzten Kriegswochen das Leben nahmen, lag wahrscheinlich bei mehr als 10.000. In Demmin, einer kleinen, in Vorpommern gelegenen Stadt mit etwa 15.000 Einwohnern, die am 30. April von der Roten Armee erobert worden war, nahmen sich zwischen 500 und 1.000 Personen das Leben, darunter nicht wenige Frauen, die zuvor ihre eigenen Kinder umgebracht hatten. Andere Städte erlitten ein ähnliches Schicksal. Meine Tante erinnert sich an die Verzweiflung ihrer Mutter: »Die Amerikaner waren bereits im Lande und meine Mutter rief noch immer aus: ›Wir werden den Krieg nicht verlieren! Der Führer wird gewinnen! Wenn wir den Krieg verlieren, bringe ich mich um!‹«
Dass Oma nicht zur Tat schritt, mag daran gelegen haben, dass ihr Schicksal im Vergleich zu anderen nicht ganz so furchtbar war. Nachdem sie das zu Ruinen zerfallene Stadtzentrum Mannheims durchquert hatte, muss ihr beim Anblick des noch stehenden Familienhauses ein schweres Gewicht vom Herzen gefallen sein. Aber um überleben zu können, reichte die eigene Bleibe nicht aus, erst recht nicht, wenn sie überall durchlöchert war. Ganze Wände, ein Stück der Bedachung und ein Teil der Treppe waren weggerissen und sämtliche Fenster in tausend Scherben zerborsten. Nach und nach kehrten die Mieter vom Land zurück, um sich wieder in ihren Wohnungen niederzulassen. Aber sie mussten diese mit jenen teilen, die alles verloren hatten. In Mannheim waren von etwa 86.700 Wohnungen nur 14.600 nicht von den Bomben getroffen worden. Angesichts der drückenden Wohnungsnot war bestimmt worden, dass mindestens acht Personen sich eine Wohnung der Größe wie im Gebäude auf der Chamissostraße teilen mussten, wobei jede etwa 90 Quadratmeter umfasste. Opa entkam der Reglementierung, da er vorgegeben hatte, sein Bruder Willy würde mit seiner Familie unter seinem Dach wohnen. Allerdings erinnert sich meine Tante, dass ihre Eltern regelmäßig Familienmitglieder, die in Not geraten waren, aufnahmen und sie selbst im Wohnzimmer hinter einem großen Laken schlafen musste, das als Vorhang diente. Im Erdgeschoss fand sich hingegen ein alter, allein lebender Junggeselle mit einer ganzen Flüchtlingsfamilie wieder. »Wir nannten die Flüchtlinge Rucksackdeutsche, wir konnten nur ahnen, dass sie einen wirklichen Albtraum hinter sich hatten«, sagt Ingrid.
Die 12 bis 14 Millionen Vertriebenen aus dem Osten, denen die Heimat entrissen worden war, in der sie sich seit Generationen verwurzelt fühlten, gehörten zweifellos zu den am schwersten betroffenen deutschen Zivilisten. Insbesondere die aus den deutschen Ostgebieten waren unter furchtbaren Bedingungen vor der Ankunft der Roten Armee geflohen, die aufgebracht vom Anblick der von der Wehrmacht während ihres Rückzugs niedergebrannten Dörfer und vom Tod von Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen einen nicht gerade geringen Tatendrang verspürt haben dürfte. Mehr als 1,4 Millionen deutsche Frauen wurden vergewaltigt und Hunderttausende Männer in die Gulags gesteckt und zur Zwangsarbeit verdammt.
In der Tschechoslowakei ging es weniger blutig zu, doch der erzwungene Fortzug von drei Millionen Deutschen war ebenfalls sehr schmerzhaft verlaufen. Im österreichisch-ungarischen Kaiserreich waren die Sudetendeutschen in Böhmen und Mähren im Norden des Landes zu Wohlstand gelangt. Aber ihre Situation verschlechterte sich nach der Zerschlagung des Kaiserreichs im Jahr 1918, als ein neuer unabhängiger tschechoslowakischer Staat seine deutschsprachige Minderheit zu diskriminieren begann.
Die Notwendigkeit beschwörend, seinen »Blutsbrüdern« zu Hilfe eilen zu müssen, annektierte Hitler das Sudetenland im Oktober 1938 unter den Bravorufen einer überwiegenden Mehrheit der örtlichen Bevölkerung, die erst gar keine Zeit verlor, nun ihrerseits die Tschechen zu diskriminieren und aus der Region zu vertreiben. Nach der Niederlage des Reiches wechselte die Rache wieder die Seiten, und nun war es an den Deutschen, auf die Straße gesetzt und wie Aussätzige verjagt zu werden, wobei Tausende vor Erschöpfung starben oder ermordet wurden. Der tschechoslowakische Präsident Edvard Beneš ordnete per Dekret an, dass sämtliche Güter der Deutschen »beschlagnahmt«, sprich gestohlen werden sollten. 2002 verurteilte der tschechische Präsident Václav Havel diese Vertreibungen öffentlich.
Der Empfang dieser Flüchtlinge in Westdeutschland war nicht besonders herzlich, schließlich hatte man mit den Wohnungslosen aus der eigenen Region schon genug zu tun. Empathie findet sich selten in Kraft gesetzt, wenn alle Welt leidet. So hatten meine Großeltern zwar Mieter, aber diese konnten nur wenig Miete zahlen. Die Schäden der Angriffe vom September 1943, die sowohl das Gebäude als auch Opas Fabrik getroffen hatten, waren noch immer nicht ausgeglichen worden. Mein Großvater verbrachte ganze Tage damit, bei den Behörden vorstellig zu werden. Glücklicherweise hatte er vor dem großen Bombardement ein vollständiges Inventar seiner Güter erstellt, das ich im Keller in Mannheim gefunden habe.
Bei der Lektüre dieser Liste, die jedes einzelne Kleidungsstück, das gesamte Mobiliar, jedes einzelne Zubehör, das meine Großeltern besaßen, aufzählt, fand ich mich in jener Kulisse wieder, in der Oma gelebt hatte, als ich noch ganz klein war, und von der ich gedacht hatte, mich nur noch vage an sie erinnern zu können: Nach ihrem Tod – ich war sechs Jahre alt – hatte mein Vater die Wohnung vollkommen umgestaltet. Nicht ohne einen Kloß im Hals zu spüren, sah ich vor mir deutlich das Zimmer meiner Großmutter wiedererstehen, in dem sich schwere dunkle Holzmöbel befanden, ein Bild, das eine idyllische germanische Landschaft darstellte, ein für die Größe des Zimmers viel zu massives Bett und über diesem ein beeindruckendes Kruzifix, vor dem Lydia jeden Abend gebetet hatte. Die Wohnung bestand aus einem Salon, einer großen Küche, in der Oma ganze Tage damit verbrachte, Gebäck auf Blechen so groß wie ihr Ofen für die sonntäglichen Runden zu Kaffee und Kuchen zu backen, sowie einem Herrenzimmer, in welchem man in Sesseln, die einer Art-déco-Bibliothek und einem dazu passenden Schreibtisch gegenüberstanden, sitzend Pfeife und Zigarre rauchen durfte, wenn die Finanzen es erlaubten, allerdings nur unter Männern. Eine andere Liste, die ich fand, ist auf den Tag nach den Verwüstungen durch die Bombardements im September 1943 datiert und verzeichnet die Verluste. Wie detailliert Opa den Schaden notierte – er gibt dabei auch »einen Kanarienvogel samt Käfig« an, »eine Türklinke«, »leere Flaschen« und »leere Obstkisten« –, liefert einen Eindruck von der angespannten finanziellen Situation meiner Großeltern während dieser Zeit.
Sehr schnell war es Karl Schwarz gelungen, eine weitaus effizientere Lösung zu finden, als auf die Schadensersatzleistungen des Staates zu warten, um die Lebensbedingungen seiner Familie zu verbessern. Zwar hatten die Alliierten ihn der Kontrolle seiner Gesellschaft enthoben, aber sie wussten nicht, dass er in einer Ziegelei außerhalb der Stadt noch über ein ganzes Lager an Öl- und Petroleumfässern verfügte. In jenen Zeiten des Mangels glichen diese Reserven purem Gold auf dem Schwarzmarkt, von wo mein Großvater die unglaublichsten Schätze mit nach Hause schleppte: Lagen an Eierkartons, die er im Gartenhäuschen im Hof unterbrachte, Hunderte von Äpfeln, die im kühlen Keller frisch gehalten wurden, ganze Schinken, die im Badezimmer von der Decke hingen, und sogar – unerhörter Luxus in diesen entbehrungsreichen Zeiten – Knallkörper und Sekt zu Silvester. Karl war der Einzige im Viertel, der ein Auto besaß und davon profitierte, »dass immer ausreichend Platz zum Parken vorhanden war«, wie mein Vater belustigt erzählt. In der Nachbarschaft galt die Familie Schwarz als außergewöhnlich gut situiert, wohingegen andere Jungen in der Schule mit leerem Magen und in Schuhen mit löchrigen Sohlen erschienen. »Man war ein wenig neidisch auf uns«, sagt meine Tante, die ihrem Vater stets dankbar gewesen ist, »sich für seine Familie so durchgebissen zu haben«.
Jeder schlug sich in diesem am Boden liegenden Deutschland so gut durch, wie er es vermochte. Eine der größten Attraktionen meines Vaters als Kind bestand darin, zum Fenster zu eilen, sobald er das Hupen der schweren Jeeps hörte, die vor dem Hauseingang hielten, wenn amerikanische Soldaten kamen, um ihre Begleitung für den Abend abzuholen. »Es gab die beiden Töchter der Dame über uns sowie eine Nachbarin, die zwar verheiratet war, aber nicht wusste, ob ihr Mann zurückkehren würde, und man musste ja doch weiterleben«, erinnert er sich. Zahlreiche deutsche Kriegsgefangene kehrten erst viele, manche sogar erst zehn Jahre nach Kriegsende heim, während sie ihre Ehefrauen allein auf sich gestellt und voller Ungewissheit zurücklassen mussten. Etwa 1,3 Millionen von ihnen kehrten niemals aus der Sowjetunion zurück und wurden unter verabscheuungswürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwungen, nachdem das Reich seinerseits 3,3 von 5,7 Millionen russischen Kriegsgefangenen ermordet oder sterben lassen hatte.
Materiell war für eine deutsche Frau in dieser Zeit ein für tot erklärter Ehemann besser als ein vermisst gemeldeter. Im ersten Fall konnte sie sofort eine Rente erhalten, im zweiten musste sie oft über mehrere Jahre kümmerlich ihr Leben ohne Pension oder Witwenrente fristen und dabei häufig doch nur auf die Bestätigung warten, dass der Ehemann tatsächlich tot war. »Die jungen Frauen aus Mannheim begannen mit den Amerikanern auszugehen, die sie in ihre Kasernen mitnahmen, wo sie tanzen, ins Kino gehen, sich satt essen und sich mit den jungen Männern amüsieren konnten, die in ihren Uniformen ziemlich attraktiv wirkten«, erzählt mein Vater.
Manchmal bildeten diese Zusammenkünfte den Anfang einer schönen Liebesgeschichte, wie etwa bei einem der beiden Mädchen aus dem oberen Stockwerk, das einen Amerikaner geheiratet hatte und dessen Tochter Cynthia dann die Kindheitsfreundin meines Vaters wurde, bevor ihre Eltern 1949 in die Vereinigten Staaten umsiedelten. Für andere wiederum, wie etwa für die mit einem Mann in Gefangenschaft verheiratete Nachbarin, glichen diese Treffen eher einer Art Prostitution. Alle im Gebäude wussten Bescheid, aber schlecht angesehen war sie deshalb nicht, denn die Zigaretten der Amerikaner konnten manchmal einer ganzen Familie helfen zu überleben. »Offiziell hatten die Amerikaner ihren Soldaten verboten, mit deutschen Mädchen zu verkehren, aber das funktionierte nur wenige Monate. Und wenn mein Vater sie in seinem Hause akzeptierte, dann geschah dies wahrscheinlich im Austausch gegen einige Geschäfte und Zigaretten.« Mit dem Wertverfall der Reichsmark waren Zigaretten zur Referenzwährung auf dem Schwarzmarkt gediehen und es gab keinen Weg an ihnen vorbei, da die Lebensmittelmarken 1946 je nach Versorgungslage für einen Erwachsenen täglich zwischen 800 und 1.500 Kalorien vorsahen. Viele hungerten, einige starben, selbst vor Kälte, da auch die Kohle rationiert und der Winter 1946/47 extrem hart war. In Opas Fotoalbum gibt es ein Bild des zugefrorenen Rheins, auf dem Mannheimer flanieren, als befänden sie sich auf der Newa in Sankt Petersburg.
Weitere neue Besucher des Wohnhauses waren die sogenannten »Onkel«. Da die Rente an Kriegswitwen nur unter der Bedingung ausgezahlt wurde, dass sie alleinstehend blieben, hatten sie keinerlei Interesse daran, wieder zu heiraten. Und da das Gesetz es nicht verheirateten Paaren verbot zusammenzuleben, machte sich die Gewohnheit breit, seinen neuen Partner als einen Onkel vorzustellen. Der Vermieter war angehalten, auf die Einhaltung dieses Gesetzes von seinen Mietern zu achten, andernfalls hatte er eine Strafe zu zahlen. Karl Schwarz aber drückte ein Auge zu, brillierte er doch selbst in der Illegalität. Er war ein großzügiger Mensch und teilte seine Beute vom Schwarzmarkt gern mit seiner Familie und Freunden an einem sonntäglichen Tisch. »Die Gespräche handelten von den Renten, die nicht zu erhalten man befürchtete, wenn man im Dritten Reich Beamter oder Soldat gewesen war. Die Inflation, die unauffindbaren Produkte und der Klatsch der Nachbarschaft … das waren die Hauptfragen der Zeit – und nicht etwa, wer was unterm Nationalsozialismus gemacht hatte«, erklärt mein Vater.
Manchmal beklagte man jene, deren Schicksal noch schlimmer war, wie etwa die Berliner, deren Zukunft ebenso unfassbar erschien wie der Anblick der Ruinen, in denen herumirrende Flüchtlinge spukten, die nach Ratten jagten, um was zu essen zu haben, oder Frauen, die sich als Prostituierte den Soldaten vor den Augen von Kindern hingaben, die vorbeiziehenden Kleinlastern auflauerten, um etwaige herunterfallende Kohlestücke aufzusammeln. Der Film Deutschland im Jahre Null von Roberto Rossellini, der 1947 in Berlin gedreht wurde, ist eines der atemberaubendsten Zeugnisse dieser vom Gefühl des Nichts angefassten Zeit. Inmitten der Ruinen der Hauptstadt erzählt der italienische Regisseur die Geschichte eines zwölfjährigen Jungen, Edmund, der seiner Familie im Elend hilft, indem er mehrere kleine Jobs an Land zieht. Um seinen kranken Vater zu retten, ruft er seinen ehemaligen Schullehrer zu Hilfe, der ihm, beherrscht von der Nazi-Ideologie, rät, sich vom kranken Glied der Familie zu befreien, welches das Überleben der Gruppe gefährde. Nachdem er seinen Vater vergiftet hat, springt Edmund von einer Ruine in den Tod.
1Pseudonym
2Pseudonym