Kitabı oku: «Krähen über Niflungenland», sayfa 3
Vergessen, verlieren
1.
Mit einem Fluch machte Grimhild sich Luft und trieb Fála an. Es war ihr nicht gelungen, vor dem Mittag unbemerkt zu entwischen. Sigfrid wollte am nächsten Morgen abreisen, ihr blieb also nicht mehr viel Zeit, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Wenn sie den Mut dazu aufbrachte.
Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken an das, was sie zu tun beabsichtigte, aber noch weniger konnte sie es ertragen, Sigfrid fortreiten zu sehen. Bis zu diesem Sommer hatte sie zwar gelegentlich mit dem Gedanken an einen künftigen Gemahl kokettiert, aber das war ein Spiel gewesen, mehr nicht. Mit ihren sechzehn Jahren konnte sie es sich leisten, noch ein, zwei Sommer zu warten, ehe sie sich ernsthaft mit dieser Frage auseinandersetzte. Und dann war Sigfrid gekommen, und jetzt war alles anders. Zornig dachte sie an den Rat ihrer Mutter, sich mit einem anderen zu begnügen, und hieß den Zorn willkommen, denn er lenkte sie von ihrem schlechten Gewissen ab. Niemals würde sie jemandem erlauben, über ihr Leben zu verfügen, weder dem Schicksal noch ihrer Sippe! Es gab Wege für alles.
Mit einem Ruck zügelte Grimhild ihre Stute.
Wie hatte sie nur so in Gedanken sein können! Vor ihr befand sich jenes Gebüsch, dem sie die schlimmste Erfahrung ihres Lebens verdankte. Lähmung erfasste sie, wie jedes Mal, wenn sie sich der Stelle näherte, an der sie vor gut fünf Jahren ihren Vater gefunden hatte. Ein böser Zauber ging davon aus, die dunkle Aura einer Neidingstat. Grimhild unterdrückte die Übelkeit, die in ihr aufsteigen wollte, wandte den Kopf ab und trieb Fála mit einem Schenkeldruck weiter. Die Stute schnaubte, gehorchte aber. Grimhild ließ Fála kräftig ausholen, um so viel Distanz wie möglich zwischen sich und das Gebüsch zu bringen, und wurde erst ruhiger, als der Ort der Bluttat hinter einem Hügel verschwand.
Vor der Hütte der Seherin sprang sie von ihrem Pferd und zögerte, plötzlich unsicher. Tat sie wirklich das Richtige? Bisher hatte sie Thiota nur um harmlose Dinge gebeten, Fragen nach der Zukunft gestellt, nach ihrem künftigen Mann, nach Kindern, Mädchenfragen eben. Dies war etwas anderes. Zum ersten Mal wollte sie sich der Hilfe der Seherin bedienen, um in den Ablauf des Schicksals einzugreifen. Sie wünschte, Frija würde ihr ein Zeichen schicken, ob das Vorhaben ihre Gunst fand. Aber wann hatten die Götter sich je eindeutig geäußert? Nein, sie würde die schwierige Entscheidung allein treffen müssen. Ein Echo von Sigfrids Lachen hallte durch ihren Kopf, und es war ihr Körper, der die Entscheidung traf, nicht ihr Verstand. Grimhild holte Luft und trat ein.
Die Hütte war schmutzig, doch stärker noch als die fauligen Gerüche und der Anblick von Nachlässigkeit war der Eindruck von Macht. Etwas Ungreifbares beseelte den Raum, eine Spannung, das Echo gewaltiger Kräfte.
Als sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, entdeckte sie Thiotas runzlige Gestalt. Sie trug die typische Kleidung einer Seherin, einen zerschlissenen Leibrock aus Schaffell, darüber einen speckigen, ehemals blauen Mantel. Offenbar war sie im Wald gewesen, um Kräuter zu sammeln, denn in ihrem Mantel hatten sich die Widerhaken von Häkelfrüchten verfangen. Grimhild erkannte Kletten und Nelkenwurz und wunderte sich, weshalb ihr Verstand sich mit solchen Nebensächlichkeiten beschäftigte, bis ihr aufging, dass sie sich davor fürchtete, Thiota in die Augen zu sehen.
»Grimhild.«
Ihr Name aus dem zahnlosen Mund der Seherin war Feststellung, Begrüßung und Frage zugleich. Vielleicht auch eine Drohung. Auf dem Weg hierher war Grimhild die selbstbewusste Königstochter einer starken Sippe gewesen, mit Betreten der Hütte hatte sie sich wieder in ein kleines Mädchen verwandelt. »Wodan sei mit dir, Thiota!«, gab sie eingeschüchtert zurück.
Die alte Frau bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Da es, abgesehen von dem hölzernen Hochstuhl für die Zukunftsschau, keine Möbel gab, setzte Grimhild sich auf eines der Schaffelle. Thiota ließ sich ebenfalls nieder. Sie sprach kein Wort, wartete einfach ab und sah sie dabei unentwegt an, als wolle sie auf den Grund ihrer Seele blicken, bis Grimhild, um dieser Tortur ein Ende zu bereiten, herausplatzte: »Ich brauche einen Zauber.«
Die Schweigsamkeit der Seherin ärgerte sie. Die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Bei ihrem Aufbruch hatte sie sich vorgenommen, Thiotas Fragen ausweichend zu beantworten und nichts preiszugeben, was ihr zum Nachteil gereichen konnte, da die alte Frau aber keine Fragen stellte, sondern sie nur ansah, sprangen die Worte von selbst aus ihrem Mund: »Wir haben einen Krieger zu Gast, und … und … ich will ihn.«
Thiota sagte immer noch nichts. Unbarmherzig hielt sie ihren stechenden Blick auf sie gerichtet, bis Grimhild die Augen niederschlug. Das Schweigen der Seherin enthielt die Gewissheit, dass die Niflunge über kurz oder lang die albernen Versuche aufgeben würde, etwas vor ihr zu verbergen.
»Er liebt eine andere Frau«, sagte Grimhild leise. »Glaube ich.«
»Einen Trank, der ihn in dich verliebt und die andere vergessen macht – ist es das, was du von mir willst?«
Grimhild nickte beklommen, über ihren eigenen Mut erschrocken. Bis eben war alles nur ein Hirngespinst gewesen, eine Möglichkeit. Indem sie ihren Wunsch aussprach, verwandelte sie diese Möglichkeit in Wirklichkeit. Die Macht der Worte war groß, niemand konnte sie zurücknehmen. Für einen flüchtigen Augenblick fragte sie sich, ob sie nicht dabei war, einen Fehler zu begehen, aber sie wischte diesen Gedanken beiseite.
»Du weißt, was du tust.«
Wie konnte ein Satz, der als Feststellung ausgesprochen wurde, ihr derart das Gefühl vermitteln, dass ihre Urteilsfähigkeit in Zweifel gezogen wurde? Grimhild bemühte sich um Festigkeit in ihrer Stimme. »Ja.« Und um der Alten zu beweisen, dass sie imstande war, die Konsequenzen zu übersehen, zählte sie auf: »Ich nehme Einfluss auf einen Menschen. Ich zerreiße ein vorhandenes Muster. Ich verändere das Schicksal.«
»Du spielst ein Spiel mit hohem Einsatz. Aber das Gewebe der Nornen veränderst du nicht. Du wirst tun, was gewebt ist.« Thiotas Augen waren abwesend, als bereite sie in Gedanken bereits den Trank zu, doch dann heftete sich ihr Blick wieder auf ihre Besucherin. »Bedenke deinen Wunsch! Es liegt kein Heil darin, die Zukunft beherrschen zu wollen.«
Gereizt zog Grimhild die Nase kraus. Dies waren die üblichen Ermahnungen, die jeder meinte, ihr gegenüber vorbringen zu müssen. Wann begriffen die Menschen endlich, dass sie erwachsen war und für sich selbst entscheiden konnte?
Thiota beugte sich vor und zwang sie, ihrem Blick standzuhalten. »Gebrochene Versprechen«, sagte sie und bohrte ihren Zeigefinger unterhalb des Schlüsselbeins in die Haut der jungen Frau. »Gebrochene Versprechen leugnen, was war, leugnen, was sein wird. Gebrochene Versprechen besitzen einen starken Zauber. Gebrochene Versprechen sind voller Leid.«
»Es ist mir egal, was war!«, stieß Grimhild trotzig hervor. »Ich will ihn! Ich will, dass er mich liebt!«
Die Seherin beugte sich der Macht ihrer Leidenschaft. »Du hast entschieden«, sagte sie.
Verspätet begriff Grimhild, dass die Abmachung zwischen ihnen damit besiegelt war. Aufgeregt öffnete sie den Lederbeutel, den sie bei sich trug, und entnahm ihm etwas Bruchsilber. Sie wusste, dass Thiota diese Art der Bezahlung römischen Münzen vorzog. Alles, was von den Römern kam, hielt sie für eine gefährliche Abkehr von den alten Pfaden.
Die Alte strich den Lohn ein und machte sich an die Arbeit. »Amnesia«, murmelte sie geistesabwesend, öffnete Tongefäße und schnupperte an Kräutern. Gemeinsam mit Wurzeln, Samen und Pflanzenfasern wanderten diese in eine Tonschale. Nachdem die Seherin die Zutaten zerstoßen hatte, rührte sie das entstandene Pulver in einen Kessel mit Wasser ein und hängte ihn über das Feuer. Anschließend verschwand sie nach draußen. Als sie zurückkehrte, hielt sie einen blühenden Buchenzweig in der Hand. Geschickt entfernte sie die Blüten und schnitt den Ast in gleich lange Holzstäbchen, die sie in den Himmel hielt, um Wodan, den Herrn der Runen, um Beistand anzurufen.
»Neun Nächte hingst du,
o Runenmeister,
am windigen Baume
in Yggdrasils Ästen,
dir selbst geweiht,
geritzt mit dem Speer,
blutend, wartend.
Groß war dein Opfer.
Du neigtest dich nieder
und hobst unter Qualen
die heilhaften Stäbe,
die mächtigen Runen.
Sie raunten dir zu
verborg’nes Geheimnis.
Raune mit mir,
o Raterfürst!«
Thiota nahm das Messer, mit dem sie den Zweig unterteilt hatte, und ritzte fehu, die Rune für Reichtum und Glück, in das weiche Holz, gebō, die Rune für Freundschaft und Gunst, und jēra, die Rune der guten Ernte. Nach kurzer Überlegung fügte sie noch berkō, die Fruchtbarkeit verheißende Birkenrune hinzu.
»Runen sind magisch,
Runen sind Macht.
Heilhafte Hölzer,
zeitlos geritzt
auf die Pfote des Wolfs,
auf die Schwinge des Raben,
auf die Zunge der Schlange,
auf die Spitze des Speeres,
in die Schwelle des Hauses,
in Feuer und Fels, in Wasser und Wind«,
murmelte sie halblaut dabei. Das Wort laukaR würde ihr Werk gedeihen lassen, das Wort alu ihm Schutz verleihen. Aber wie leicht konnte jemand, der etwas von Runenmagie verstand, den Zauber erkennen und verändern! Deshalb war es unumgänglich, die Worte zu verrätseln. Thiota verkürzte laukaR zu einem l und verdrehte alu zu lua. Die Runen hatte sie bereits als Binderunen verschlüsselt, indem sie gebō und jēra übereinander ritzte und fehu und berkō einen gemeinsamen Stab gab.
So plötzlich, dass Grimhild zusammenzuckte, waren die Augen der Seherin auf sie gerichtet. »Hast du, was für einen Liebeszauber nötig ist?«
Die Niflunge wurde rot und nickte. So viel wusste jeder von Liebestränken, dass es gewisse Zutaten gab, die unentbehrlich waren. Sie öffnete ihren Lederbeutel und entnahm ihm ein Tuch mit getrocknetem Monatsblut.
Thiota löste die Substanz mit warmem Wasser an. »Wenn dein Blut mit seinem gemischt ist, seid ihr für immer aneinander gebunden.« Ein paar Tropfen der roten Flüssigkeit ließ sie in den Sud fallen, mit dem Rest tränkte sie die Runen, Frija um Beistand anrufend. Während das Blut trocknete, wandte sie sich wieder dem Kessel zu. Der Sud war kurz vor dem Sieden. Auf dem Hochstuhl lag ein Eibenstab, den die Seherin nun holte, um damit den Kessel zu berühren, gleichzeitig stimmte sie einen leisen Gesang an. Gesang verstärkte die Zauberkraft des Wortes, das wusste jeder. Bestimmte Regeln waren dabei einzuhalten, damit die Worte ein Muster ergaben und sich nicht gegenseitig aufhoben. In Trance nahm die alte Frau eine Handvoll geweihter Erde, die sie von draußen mitgebracht hatte.
Eine Gänsehaut bildete sich auf Grimhilds Arm. Thiota wollte dem Trank erdmegin beimischen! Plötzlich fürchtete sich die Niflunge. Waren die Mächte, die sie zu ihrer Unterstützung herbeirief, nicht zu groß, um kontrolliert zu werden?
Thiota fühlte den Strom schwerer Energie von der dunklen, nach Moos und Farn riechenden Erde durch ihre Finger fließen. Ihre Hände kribbelten. Vorsichtig ließ sie ein paar Krümel in den Trank fallen und hauchte:
»Erde, Erde,
Kristallgebärende,
Fruchtbare, Nährende,
Reifende, Sprießende,
Flur oder Grünende
– bei jedem Namen
rufe ich dich!«
Thiotas Gesicht war angespannt. Ihr durfte kein Fehler unterlaufen. Ein Wort verfügte über die Kraft, das Gesagte zu erschaffen, ein Versprecher konnte unvorstellbare Folgen haben. Sie hob die mit Runen versehenen Holzstäbchen auf und ergriff das Messer. Dies war der entscheidende Augenblick. Schrift fixierte den Zauber und machte ihn dadurch mächtiger. Schriftmagie war stärker als Wortmagie, weil sie den Zauber dauerhaft band. Immer noch singend schabte Thiota die Runen ab und ließ die Späne in den Trank fallen.
»Vergessen, verlieren,
die Frau, die du liebst,
der Treue du schworst.
Ihr Antlitz verblasst,
trinkst du die Runen.
Verändern, verwandeln
soll sich dein Sinn.
Nicht schlafen sollst du
vor Sehnsucht nach dieser,
der herrlichen Jungfrau.
Verlangen, verfallen,
gefesselt dein Herz.
Trinkst du die Runen,
wirst nimmer begehren
du Freiheit von ihr.«
Thiota fühlte sich schwindlig, wie immer, wenn sie starke Magie benutzte. Vor ihren Augen tanzten farbige Kreise, und sie hörte Geräusche, die nicht wirklich da waren: Rauschen, Klingeln, dumpfes Pochen. Ein scharfer Geruch erfüllte ihre Nase. Außerdem plagten sie Kopfschmerzen. Es wurde höchste Zeit, die Trance zu beenden. Kontrolliert ließ sie die Spannung entweichen. Einen Augenblick lang musste sie die Augen schließen, bis die Welt aufgehört hatte, sich zu drehen.
»Ist es fertig?«, fragte Grimhild unsicher.
Thiota wünschte sehnlichst, dass ihre Besucherin ging, damit sie die Finger der Macht, die sie berührt hatten, abwaschen konnte. Und schlafen! Sie musste dringend schlafen! Mit zittrigen Händen goss sie den Trank in eine Flasche, verschloss sie und reichte sie der Niflunge. »Sei bei ihm, wenn er den Sud trinkt, und er wird dich mit neuen Augen betrachten.«
Grimhild drückte die Flasche wie einen kostbaren Schatz an sich. »Sigfrid«, murmelte sie unhörbar, »jetzt bist du mein!«
2.
Ihre eigene Unentschiedenheit war das Schlimmste, fand Grimhild. Sie saß allein in der Großen Halle und wusste nicht, was sie tun sollte. Je länger sie die Flasche der Seherin auf dem Tisch ansah, desto monströser schien ihr der Plan. Gestern war sie erst spät von Thiota zurückgekehrt und hatte keine Gelegenheit gefunden, Sigfrid den Trank zu verabreichen – nein, das stimmte nicht. Sie hatte gezögert. Sie hatte nicht den Mut aufgebracht. Es war erdmegin in dem Trank!
Ein Wiehern unterbrach Grimhilds Grübeleien. Sie stürzte ans Fenster. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie sah, wie Ivo die Pferde der Gäste aus dem Stall führte. Sigfrid bedachte ihn mit seinem typischen Lachen, und etwas zerriss in ihr. Sie konnte es nicht ertragen, dass er für immer aus ihrem Leben verschwand. Hastig riss sie den Verschluss von der Flasche und schüttete die farblose Essenz in einen Becher. Dann eilte sie zu einer Amphore und goss vom besten Wein dazu. Prüfend roch sie daran, konnte jedoch keinen anderen Geruch als den von Wein feststellen. Gut! In der Tür stieß sie mit Sigfrid zusammen und ließ dabei um ein Haar den Becher fallen.
»Verzeiht, frūa«, sagte der Sachse höflich, »ich dachte, Euer Bruder wäre hier. Ich möchte mich von ihm verabschieden.«
Grimhild schluckte. Ihre Kehle war trocken. »Ihr wollt uns wirklich schon verlassen?«, fragte sie und legte so viel Wärme in ihre Stimme, wie sie nur konnte. Vielleicht gab es eine andere Möglichkeit, ihn zurückzuhalten. Vielleicht genügte ihr natürlicher Zauber, um seinen Sinn zu ändern.
»Eure Gastfreundschaft war ohnegleichen, aber ich muss fort.«
Immer noch schreckte sie vor der Entscheidung, die ihre und seine Zukunft unwiderruflich festlegen würde, zurück, doch der Kampf in ihrem Inneren dauerte nur einen Herzschlag, dann trug ihr Verlangen den Sieg davon. »Wenn es sich denn gar nicht vermeiden lässt, so nehmt wenigstens diesen Abschiedstrunk von mir.« Ihre Hand zitterte, aber nur ein wenig, und sie verschüttete keinen Tropfen, als sie ihm den Becher reichte. Ihr Herz setzte aus, als Sigfrid daran roch.
»Eure Weine sind gut«, sagte er.
Grimhild hielt die Spannung kaum aus. Wenn er nicht gleich trank, würde sie sich durch ihre Nervosität verraten!
Er hob den Becher. »År ok friðr!«, sagte er und trank.
Gute Ernte und Frieden. Grimhild war nicht sicher, ob das, was sie mit ihrem Liebestrank gesät hatte, eine gute Ernte eintragen würde, geschweige denn Frieden. Aber sie hatte ihre Wahl getroffen, und nun war es zu spät, irgendetwas rückgängig machen zu wollen. Angespannt beobachtete sie den Sachsen und suchte nach einem Zeichen, dass er sich veränderte.
Sigfrid setzte den Becher ab. »Nun muss ich wirklich gehen. Ich sehne mich nach …« Seine Augen verschleierten sich. »Nach … meiner Sippe«, sagte er schleppend. Da war noch etwas gewesen. Etwas Wichtiges. »Sippe«, wiederholte er benommen. Das Denken fiel ihm schwer. Immer, wenn er versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, wirbelten bunte Kreise vor seinen Augen. Ein schemenhaftes Gesicht. Braune Augen, schwarzes Haar, der Geruch von Kiefernharz. Er zog die Stirn in Falten. Seine Gedanken waren wie aufgeweicht, zäh und klebrig. »Sippe«, rief er sich in Erinnerung, aber er kam über das eine Wort nicht hinaus. »Ich werde langsam alt«, sagte er.
Dann blickte er auf.
Zum ersten Mal, schien ihm, sah er Grimhild wirklich. Er kniff die Augen zusammen, um nicht von der strahlenden Helle ihres silberblonden Haares geblendet zu werden. Wie kam es nur, dass er sie nie richtig betrachtet hatte? Ihre Lippen weckten in ihm den Wunsch, sie zu küssen, ihre Augen brachten seine Knie zum Zittern. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch keinem Menschen so verbunden gefühlt.
Grimhild verbarg ihre Unsicherheit hinter einem Lächeln. Wirkte der Trank? Das unangenehme Schweigen dehnte sich bis in die Unendlichkeit. Mit jedem Wimpernschlag wurde die Stille bedeutungsvoller. Um Zeit zu gewinnen, leckte sie sich über die Lippen und suchte nach Worten. »Geht es Euch gut?«
»Gut?« Verständnislos sah er sie an. Was konnte er sagen? Wie ihr erklären, was er fühlte? Die Worte in seinem Kopf waren widerspenstig, und als er schließlich sprach, bewegte sich seine Zunge unbeholfen, als sei er betrunken. »Ihr seid … außergewöhnlich schön.«
Es tat körperlich weh, als sie die Anspannung losließ, die ihr bis eben den Atem abgeschnürt hatte. Jetzt war sie sicher, dass das Mittel wirkte. »Ich danke Euch, frō Sigfrid. Es ist sehr freundlich von Euch, mich zu bemerken.« Sie befand sich wieder auf sicherem Boden. Um das Feuer entflammter Männer in Gang zu halten, brauchte sie keine Seherin. Auf die Kunst, mit Blicken und Gesten eine Fessel aus Hoffnung und Verlangen zu erschaffen, verstand sie sich.
»Bemerken? Ich kann an nichts anderes denken als an Euch.«
Grimhild erschauerte über die Wahrheit, die absichtslos in seinen Worten lag. Aber es war ein wohliger Schauer. Nein, sie bereute nichts. Was sie getan hatte, war nicht recht, aber sie würde es jederzeit wieder tun, nur um von seinen Augen auf diese Weise angesehen zu werden. Sein Blick gab ihr das Gefühl, einzigartig zu sein. »Ich sehe es gern, wenn Ihr mich bemerkt«, hauchte sie und trat an ihn heran. Die Macht seiner Nähe war überwältigend. »Auch meine Gedanken sind nicht mehr frei, seit ich Euch sah.«
Sie hatte noch so viel mehr sagen wollen, doch in diesem Moment kam Gunter herein. »Ah, hier seid Ihr!«, rief er aus. »Ich höre, Ihr wollt uns verlassen?«
»Verlassen?«, echote Sigfrid, und wieder fiel es ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. »Nein, warum?«
Jetzt war es an Gunter, verwirrt zu sein. »Aber Euer Gefolgsmann sagte … Nun, dann muss ich ihn falsch verstanden haben. Umso besser. Es täte mir leid, Euch so schnell wieder zu verlieren.«
»Ich würde gern Mittsommer mit Euch feiern«, sagte Sigfrid und gab sich alle Mühe, Grimhild dabei nicht anzusehen.
»Das freut mich.« Gunter betrachtete den Sachsen nachdenklich. »Sagt, frō Sigfrid, Ihr seid doch viel herumgekommen, trotz Eurer jungen Jahre … ich wollte Euch fragen … meine Sippe setzt mir zu, dass ich mich endlich verheirate und einen Nachkommen zeuge. Nun bin ich in der glücklichen Lage, auf kein Bündnis angewiesen zu sein, kann also frei wählen. Und eben das erschwert die Angelegenheit. Wisst Ihr nicht eine Frau für mich?«
Braune Augen, Kiefernharz. »Es gibt da eine Königin in Svawenland, die schönste, die ich je sah«, entfuhr es Sigfrid. »Und nicht nur ihre Schönheit, auch ihr Verstand und ihr Mut sind ohnegleichen. Brünhild, die Herrin von Burg Seegard, ist eines Königs würdig.«
Grimhild erbleichte. Das war sie, daran gab es keinen Zweifel! Ängstlich beobachtete sie Sigfrid. Was empfand er jetzt? Konnte sie bereits gegen das schwächer werdende Bild in seiner Seele bestehen? Zeit! Sie brauchte Zeit! »Du solltest frō Sigfrid nicht mit deinen Sorgen behelligen«, wies sie ihren Bruder zurecht. Und an den Sachsen gewandt: »Mir scheint, Euer Gefolgsmann wartet auf Euch.«
Sigfrid sah aus dem Fenster. Ein Ausdruck von Überraschung trat auf sein Gesicht. »Er hat die Pferde bei sich. Gab ich ihm den Befehl dazu?« Verwirrt eilte er hinaus.
Grimhild folgte ihm. In der Tür hielt sie noch einmal inne. »Sigfrid wäre ein guter Verbündeter, nicht wahr?« Und ehe ihr Bruder antworten konnte, war sie verschwunden.