Kitabı oku: «Fast am Ziel», sayfa 4
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FÜNF STERNE UNTER GRAUEM HIMMEL
UMWEG #11
SONNTAG, 19. JUNI 2016
Siebzig zu werden ist kein Ruhmesblatt, seit es Antibiotika gibt. Bedeutende Menschen haben dieses Alter zuvor nicht erreicht, längst Vergessene haben es seither weit übertroffen. Ich liege wie üblich im Mittelfeld dazwischen, habe also eine noch mindestens so glorreiche Zukunft, wie Honecker sie der DDR zum vierzigsten Jubiläum vorhergesagt hat.
Hatten wir gestern auf dem Weg zu Mary die Hänge westlich der Etsch erobert, so machten wir uns heute auf den Bergweg östlich des Flusstals: zur Fragsburg. Alles aus möglichst vielen unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, ist in westlichen Köpfen und Medien verankert: Der Kapitalismus muss sich in die Konsumenten hineinversetzen und Gemeinsamkeiten auf- spüren – wie will er sonst der Kund- schaft etwas verkaufen? Dem strammen Sozialisten reicht die edle Idee, der Ungläubige muss sich an der Kasse etwas einwickeln lassen, um Befriedigung zu finden. Die noble Fragsburg liegt in über- schaubarer Höhe. Früher ließen wir dort das Auto stehen, spazierten die Wiesen erst aufwärts, dann wieder abwärts und aßen anschließend an karierter Tischdecke Kaiserschmarrn. Jetzt nicht mehr.
„Eingebettet in die alpin-mediterrane Bergwelt Südtirols thront das Schlosshotel ,Castell Fragsburg‘ als ein Refugium der Ruhe hoch über Meran.“ Und weiter: „Egal, wie oft wir selbst unsere cinematographische Glas-Loggia schon betreten haben und über die Brüstung der Panorama-Terrasse hin-weg die faszinierende Kulisse Merans erblickten, selbst wir sind jedes Mal aufs Neue von der gewaltigen Schön-heit der Natur rund um uns wie verzaubert“, singen alle vom Fünf-Sterne-Generaldirektor aus Wien bis zum Zwiebelzerkleinerer aus dem Senegal unter Tränen im Werbechor der Homepage.
An Draußenessen war nicht zu denken, Panorama hin oder her, aber das 55Getränkebüfett konnten wir doch für den Aperitif in der Veranda ‚plündern‘, dazu gab es schon mal ein paar Häppchen, die im Senegal eine ganze Familie ernährt hätten. Nun packte ich wie vorgesehen meine Geschenke aus und war gerührt über Einfallsreichtum und Einfühlungsvermögen meiner Freunde. Da ich mir den Ruf erworben habe, kaufen zu können, was ich will, besteht die Herausforderung darin, mich mit Dingen zu überraschen, auf die ich selbst nicht gekommen wäre. Inzwischen habe ich die Bücher gelesen, die Kleidungsstücke angetragen und meine Vorfreude auf den Besuch der Elbphilharmonie gesteigert.
Während immer mehr farbiges Papier auf dem Holzboden landete, wurden die Kanapees weniger, die Gläser leerer und die Berge freier. Ich sah mir die feierliche Tafel an: ging gar nicht! Silkes telefonische Anordnung war nicht befolgt worden. Fürs Personal ist es natürlich bequem, wenn oben und unten niemand sitzt und die Bedienenden den Tisch leichtfüßig umrunden können. Mit meiner Sitzordnung war es unvereinbar, denn es hätte bedeutet, dass vier Personen auf je einer Seite keinen Nachbarn hätten, und zwei dieser Unglücklichen wären ausgerechnet Silke und ich gewesen. Wir gehörten ans Kopf- und ans Schwanz-, äh, an die beiden Kopfenden. Es musste eilig umdekoriert werden, dann kamen auch schon die Frohgestimmten leicht fröstelnd von draußen. Nun saßen wir so weit auseinander, dass jede Unterhaltung den Kehlkopf übermäßig strapazierte. Nachdem ein Tisch aus dem Ensemble entfernt worden war und alle gemütlich zusammenrücken konnten, wurde es dann aber ein sehr schönes, langes, stimmungsvolles Geburtstags- essen mit mehr und mehr Sonnenschein jenseits der riesigen, geöffneten Fenster.
Dementsprechend fiel die abendliche Verköstigung weit weniger gehaltvoll aus. Das ‚357‘ liegt gleich bei uns um die Ecke. Sein Name bezieht sich auf die Hausnummer an der ‚Via-Cavour-Straße‘ wie sie in Südtiroler Zweisprachigkeit heißt, und die Zahl wird von Italienern ‚trecinquesette‘ aus- gesprochen. Deutsche sagen: „Drei-hundertsiemunfuffzich“. Es gab Pizza und viel zu erzählen, und ich horchte in mich hinein, ob ich mich so alt fühlte, wie ich jetzt war.
Meine Altersgenossen, die damals alles umkrempeln wollten, waren mindestens so radikal und gläubig, wie ihre Eltern es gewesen waren, nur dass alles, was den Jungen nicht ins Weltbild passte, jetzt ‚faschistisch‘ hieß: ein Begriff, ehemals 56Auszeichnung, jetzt Schimpfwort, so wohlfeil wie inflationär. Ich hatte sie für Idioten gehalten, alle zusammen. Von der Liberalisierung profitierte ich trotzdem, eher lauthals als stillschweigend, aber der nachprüfbare Kontrapunkt interessierte mich immer mehr als der angebliche Konsumterror. Partituren sind realer als Utopien: Sie lassen sich wenigstens umsetzen. An etwas glauben zu können, ist vielleicht Gnade, aber niemals Verdienst. Und an etwas geglaubt zu haben, taugt vielleicht zu wehmütigen Erinnerungen, aber nicht als Entschuldigung – genauso wenig, wie es zur Rechtfertigung dienen kann, an nichts geglaubt zu haben. Im Alter werden die Huren fromm und die Radikalen zahm. Trifft nicht zu auf mich. Sähe ich nicht so abgewrackt aus, ich würde behaupten, ich habe mich nie verändert.
Zum Tagesausklang gab es noch eine besondere Attraktion: Wir versammelten uns auf der Terrasse, Licht gleißte auf, Feuerwerk-Fontänen stoben in die Nachtluft, Shirley Bassey behauptete in der englischen Version ‚Fafafa‘ einer italienischen Canzone aus dem Lautsprecher heraus, was ich seit, oh mein Gott, fünfzig Jahren schon von ihr wusste: ‚We’re only young but once then youth is gone. You can’t go back in time, for time goes on.‘ ‚Live for today, today is all that matters‘, behauptet sie weiter im Text kämpferisch-resignierend, während das italienische Original nur bedauert, dass ‚Il carnevale‘ vorbei sei. Vielleicht stimmt es nicht, dass ich keine Idole hatte, habe ich nicht doch auf inbrünstig-ironische Art für Shirley Bassey geschwärmt, während Gleichaltrige glaubten, ‚Black Sabbath‘ würde ihnen neue Welten erschließen? Dass Shirley Bassey auf dem Festival von San Remo sang und ihre Italien-Liebe so weit trieb, dass sie den Assistenten des Hoteldirektors heiratete, aber nicht irgendeines italienischen Hotels, sondern den vom ,Excelsior‘ auf dem Lido, das passte in Haralds und meine Gewissheit, dass Glamour und Kitsch einander nicht ausschließen, sondern bedingen. Von Silke, unserer Artist-Promotion-Expertin im Pop-Bereich, wusste ich außerdem schon damals, dass Rabauken, die in ihren Songs die Ungerechtigkeit der Welt anprangerten, gern in Nobel-Restaurants feierten, dort immerhin, um unetabliert zu bleiben, mit Gläsern um sich schmissen, oder aber gleich jenseits der Bühne unerkannt im Maßanzug liefen und ihre Kinder auf Privatschulen schickten. Vielleicht war unser Modell, das falsche Pathos der echten Empörung vorzuziehen, zynisch, aber dafür blieb es uns erspart, im späteren Alter Lebenslügen als wahre Werte ausgeben zu müssen. 57Shirley Basseys gespielte Zügellosigkeit ‚Today is all that matters‘ liebte ich vielleicht deshalb inbrünstig, weil sie mir auf immer versagt blieb: Ich konnte den Augenblick monatelang planen, ich konnte ihn hinterher jahrelang beschreiben – genießen konnte ich ihn nie, und so hätte Mephisto als Verführer an mir noch weniger Freude gehabt, als er sie an Faust hatte. Meine Mutter dagegen hat in ihrer Wahl für Rita Hayworth womöglich mehr Klasse bewiesen als ich mit meiner Shirley-Bassey-Schwärmerei: Irene konnte es fast ernst meinen, ich fast nicht. Rafał tanzte in der Mitte des Gartens, schimmernd erleuchtet, mit nacktem Oberkörper, während er zwischen den Fingern einen gefiederten Stab hin und her balancierte. ‚Fireball‘ nannte er die Performance. Es hatte etwas Magisches. Es war Artistik, es war Voodoo, es war eine Zueignung. Die Sterne zwinkerten in der Ferne: Einverständnis. Oder Bluff. ‚Il carnevale – fafafa – finice male – fafafa …‘ Ja, es endet eben alles schlecht, es sei denn, man betrachtet das Ende als Erlösung.
WIE WICHTIG BIN ICH?
UMWEG #12
MONTAG, 20. JUNI 2016
Vor ihrer Abreise durften Thomas und Loïc beim Frühstück auf der Hotelterrasse feststellen, dass es in Meran auch wolkenlosen Himmel geben kann; den hatten sie dann bis zum Abflug in Verona. Anette stieg stattdessen in den Bus und kam ganz ohne Zwischenfälle, also nicht weiter erwähnenswert, nach Südfrankreich in ihren provenzalischen Urlaub ganz ohne WLAN, was einem ja heute vorkommt, wie ohne fließend Wasser. Rüdiger fuhr zurück ins Badische, heute ein Klacks. Die Gedanken waren ja, entsprechend dem Volkslied, schon immer frei, falls man sich traute, sie zuzulassen. Inzwischen sind der physische Transport und die Digitalisierung so weit fortgeschritten, dass ich mir die Linie nicht nur als Verbindung zwischen zwei Punkten, sondern auch in einem höher 58dimensionierten Raum vorstellen kann, was aber nicht davon ablenken soll, dass ich nicht aufhören konnte, mich zu fragen, ob Gott, die Natur oder sonstwer mir etwas damit sagen wollten, dass sie das Wetter wie zum Schabernack gleich einen Tag nach meinem Geburtstag so prachtvoll gestalteten. War ich ihnen wirklich so wichtig, oder hatten sie so wenig zu tun? Egal, es ging um noch Wichtigeres: wohin heute? Montags haben ja die meisten Lokale geschlossen, Schloss Thurnstein nicht. Rafał kennt wie üblich den Besitzer und seine sexuelle Ausrichtung.
Im Innenhof mit Blick ins Tal saßen wir Zurückgebliebenen entspannt in legerer Kleidung und freuten uns, keine Touristen zu sein, was man schon daran merkte, dass wir weder Wanderschuhe von Salomon oder von Jack Wolfskin trugen noch Rahmgulasch mit Krautsalat bestellten.
TIER UND MENSCH
UMWEG #13
DI., 21. JUNI – DO., 14. JULI 2016
Nachdem sich auch Bo und Ingrid wieder auf den Weg nach Stockholm gemacht hatten, war die Party vorbei. Susi blieb etwas länger bei Silke, Giuseppe bei mir. Beide hatten ja Zimmer mit Bad. Wo man nicht teilen muss, stört man auch nicht. Carsten blieb am längsten, im zweiten Stock der ‚Villa‘, Rafałs Reich, und Sally mit beiden.
Ich bin nicht tierlieb, deshalb mögen Tiere mich: Ich lasse sie in Ruhe statt ihnen mit Zärtlichkeiten zuzusetzen. Das gefällt ihnen, und darum kommen sie gern zu mir. Mit Kindern ist es genauso. Sally ist zehn, da Hundejahre siebenfach zählen, also genauso alt wie ich. Hunde sind mir sowieso ähnlich. Wir verteidigen uns mit dem Maul: 59Sie beißen, ich rede. Seit ich mich ausdrücken kann, bin ich nicht mehr so hilflos. Sally hatte beunruhigende Knoten in der Brust. Carsten wollte deshalb eher abreisen, aber ich ergoogelte eine Tierklinik in Bozen, und da wurde Sally operiert. Wie vermutet war der Tumor bösartig. Das Wetter war gut, unsere Stimmung gedrückt. Wann passt schon mal alles zusammen?
Als Carsten abgereist war, zog ich nur noch ausrangierenswerte Kleidung an. Im Rahmen dieser Einschränkung hatte ich bis zum Schluss die freie Wahl unter meinen betagten Textilien, ohne dass ich fürchten musste, ein noch halbwegs ansehnliches Stück befände sich zum Zeitpunkt des Kofferpackens gerade in Rafałs nimmermüder Waschtrommel. Allen meinen Kleidungsstücken gönne ich zwar väterlich, die wilde, weite Welt kennenzulernen, aber manche sind einfach zu abgewetzt. Und dann ging sie los, die große Sommerreise: an nie gesehene und an lang vermisste Orte. Neugier im Kopf und Furcht im Herzen. Oder umgekehrt.
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Originale Bilder: ©Nuttapong/shutterstock.com, ©Enrique Ramos/shutterstock.com, Montage: ALEKS & SHANTU
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SCHACHFIGUR
UMWEG #14
FREITAG, 15. JULI 2016
Dass wir am Freitag, dem 15. Juli, gerade in der Mitte des Monats, aufbrachen, war genauso zufällig, wie dass wir auf den Tag genau vier Wochen später zurück sein würden: nämlich kein bisschen.
62Die Ästhetik der Zahlen ist im Alter einer Fahrt ins Blaue vorzuziehen, auch wenn unrealistische Filme und Bücher von ziemlich besten Freunden und mobilen Hundertjährigen mit Honig im Kopf schwärmen, weil diese Figuren den Nerv der Zeit treffen: Alt sitzt man heute nicht mehr hinterm Ofen, sondern auf dem Rücksitz einer Harley Davidson. Im Kino. Ich saß vorn. Privileg meines Schlaganfalls. Schönes Wetter ist immer verdächtig: Es könnte ja schlecht werden. Bei Regen gibt es diese Sorge nicht.
So wie ich jeden Abend beim Lichtausknipsen darüber nachdenke, ob ich mir eher auf der rechten oder auf der linken Seite ein rasches Einschlafen erliegen kann, so wichtig sind die Gedanken darüber, wie man am schnellsten auf die MeBo kommt. Seit ich denken kann, war die unberechenbarste Größe in meinem Kosmos die Zeit, die es dauern würde, durch die beschaulichen Weindörfer von Meran nach Bozen zu gelangen. Da waltete nicht Einstein, sondern das Schicksal. Brach man frühzeitig auf, um jemanden abzuholen, dann stand man eine halbe Stunde lang missmutig am Bahnhof im Halteverbot; fuhr man dagegen etwas später los, zuckelte man bei undurchdringlichem Gegenverkehr vierzig Minuten hinter drei Traktoren her, und die Abholperson saß tränenblind auf ihren Koffern. Aber dann plötzlich, 1999, war die Me(ran)Bo(zen) fertig, ohne dass ich je mitbekommen hätte, dass an ihr gebaut wurde. Seither ist das Leben um eine halbe Stunde reicher, und die will man nicht vergeuden. Zuerst sind wir einfach immer in Merano Sud auf die MeBo gefahren: Wir wussten es nicht besser. Dann entdeckte jemand aus meinem Umfeld den Anschluss ‚Marling‘: An den Außenfassaden der Rennbahn vorbei; und dann fiel mir die Strecke die Passer entlang nach Marling auf. Ich halte sie für die kürzeste Strecke, obwohl Silke sie nicht mag. Sie führt über die Bahngleise, und wenn die Schranke geschlossen ist, triumphiert Silke hinten lautlos. Als Pferdenärrin bevorzugt sie den Weg an der Rennbahn vorbei, obwohl eine ziemlich runtergekommene Anlage, in der niemand reitet, nicht viel anregender ist als ein nuttenloser Puff am Vormittag. Für Rafał ist die Auffahrt Merano Sud am praktischsten, denn da lenkt er nach einem etwas ärgerlichen Dreh um die einbahn- straßige ‚Via-Roma-Straße‘ herum das Steuerrad bloß noch geradeaus.
Wir fuhren meine Lieblingsstrecke, die Schranke war offen, und so konnte ich Giuseppe schon kurz nach elf aus dem Valsugana anrufen und ihm eröffnen, dass wir gegen zwölf in Marostica eintreffen würden. Marostica hat 13989 Einwohner, falls der fleißigen Wikipedia 63nicht inzwischen jemand weggestorben oder zugeboren wurde. Giuseppes Gemeinde Mason Vicentino hat 3503 Einwohner. Einer von dreitausendfünfhundertunddreien zu sein, darauf kann man doch stolzer sein, als sein Dasein in Tokio mit 37,37 Millionen Japanern abzuleben.
Marostica ist für Giuseppe der nächste kleinere Ort, Bassano der nächste größere und Venedig der nächste, von dem auch Menschen in Tokio schon mal gehört haben. Deshalb übernachten in Venedig 10 Millionen Besucher pro Jahr, 14 Millionen ‚Tagesgäste‘, wie die Heerscharen heißen, kommen hinzu, aber wir sind in diesem Jahr nicht dabei, obwohl wir weder bei ‚Cipriani‘ noch bei ‚Quadri‘ unangenehm aufgefallen wären.
An der Piazza von Marostica, die ein großes marmornes Schachbrett darstellt, das alle zwei Jahre mit verkleideten Menschen bespielt wird, habe ich zum ersten Mal 1983 mit Giuseppe gesessen und danach so oft mit so vielen meiner Lieben so viele Negroni getrunken wie andere in ihrer ganzen Erdenzeit nicht. Es wurde so ‚nah wie möglich‘ geparkt, und das blieb die ganze Reise über das, was ich neben der Aufgabe, doch noch ein guter Mensch zu werden, als das Problem meines Lebensrestes durchschaut habe: Aus dem Auto steigen und zu Fuß dort ankommen, wo ich hin will. Wenn man mit zwanzig überhaupt an später denkt, dann behauptet die Vernunft, dass man wohl Abstriche wird machen müssen, nicht nur an den Schleimhäuten, sondern auch an der Lebensführung. Aber wer rechnet damit, dass er nach zehn Schritten nicht mehr gehen möchte, dass er sich fast nicht mehr vorstellen kann, wie leichtfüßig er stunden-, ja, tagelang durch Städte und Wälder gelaufen ist? Früher.
Und dann war es die Piazza nicht mal wert, an ihr anzukommen. Falls sie es überhaupt war. Man sah nur Bretter. Innerhalb der Bretterwand fanden wir eine Lücke; da konnte man hindurchschlüpfen; dann sah man Tribünen und eine Bühne. Es war heiß und grell und grässlich, bis man auf der anderen Seite wieder ins Dämmerlicht trat. Dort konnten wir uns vor unser Stammlokal setzen und statt in Renaissance in Bretter gucken. Der Negroni schmeckte wie immer, Silke schickte Giuseppe eine SMS, und kurz darauf stieß er zu uns. Er hatte etwas schlauer geparkt als wir, aber noch besser hätte ich es gefunden, wenn er mir schon am Telefon gesagt hätte, dass Marostica dieses Mal keine so gute Idee sei, weil sich der Platz nicht nur zum Schachspielen eignet, sondern auch zum Lärmbeschallen, 64wenn Radau-Liebhaber dafür zahlen. „Cosa vuoi?“, fragte Giuseppe im Sinne von ‚Was soll man machen?‘, und die Antwort war, nachdem die Flüssigkeit von den Eisbrocken abgetrunken war, klar: weg hier!
Für das Mittagessen hatten wir im ‚Ca’Sette‘ außerhalb von Bassano gebucht. Als wir auf der Terrasse der Villa aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert saßen und in den symmetrisch gestalteten Garten sahen, in der Ferne einen Olivenhain, fühlten wir uns in Italien angekommen; als wir die Speisekarte in Englisch bekamen, erst recht. Wäre in Südtirol nicht passiert. Der Ober war noch reservierter als unser Tisch, und ich fand, an den anderen Tischen wurden die Einheimischen freundlicher bedient, obwohl man ja nicht viel dichter zu diesem Beköstigungstraum als der Venetoese Giuseppe wohnen konnte, aber das wusste der Kellner nicht. Als Gast bin ich sehr empfindlich, lieber esse ich schlecht als schlecht behandelt zu werden. Ich bin nicht in Afrika und flehe um Hirse; ich will den Schweiß des Kochs und die Zugewandtheit des Tellerträgers schmecken. Sonst eben nicht. Ich komme tagelang ohne Nahrung aus, und wenn ich Gutes tun will, spende ich direkt und nicht an ein versnobtes Unternehmen.
Rafał als Fahrer trank kaum Wein, Silke gar keinen, und so hatten Giuseppe und ich die Flasche für uns. Eigentlich habe ich Karaffen lieber, und schlichte Nahrung liegt mir auch mehr als der aufgebrezelte Augenschmaus, den sich ambitionierte Köche ausdenken; bloß, dass in einfachen Lokalen die Teller immer so voll sind – das zwingt mich dann in diese Restaurants, in denen man viel Geld für fast nichts auf den Designer-Platten ausgibt. Ich bin eben von klein auf zur Sparsamkeit erzogen worden: Lasse ich die Hälfte zurückgehen, habe ich ein schlechtes Gewissen. Zahle ich viel dafür, dass ich nichts zu essen brauche, komme ich mir nobel vor.
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DIE DREI VENEZIEN
UMWEG #15
Bis auf den kurzen Zubringer hatten wir den Rest der Strecke Autobahn. An Venedig vorbei – eigentümlich, dort nicht wie fast jedes Jahr zu verweilen, sondern dort wie noch nie einfach entlangzurauschen – aus dem Veneto über das Friaul nach Venezia Giulia. Wer sich ausschließlich für mich interessiert, muss die nächsten Absätze überspringen, wer auch ein bisschen Geschichte aushält, liest weiter.
Zunächst mal ist ja Gegend als solche bloß hübsch oder hässlich. Doch bereits da klaffen die Geschmäcker weit auseinander. Der eine liebt leere Heideflächen mit einem Wacholder in der Ferne wie im Totengrund, die andere liebt hohe, von Behausungen zugebaute Berge wie im Tibet. Gegend ist aber außerdem Schauplatz von Geschichte, besonders in Italien, und Geschichte bedeutet im Allgemeinen nicht, die Tochter des Herrschers über Tumpeldumpel wird ins Ehebett des Sohnes vom Herrscher über Hampeldampel gezwungen, sondern die Untertanen von Tumpeldumpel fallen über die Bewohner von Hampeldampel her, oder umgekehrt, weil sie selbst oder zumindest ihr Herrscher deren Land wollen, was sie aber so nicht sagen. Sie sagen, dass sie beleidigt wurden, einem Gegenangriff vorbeugen wollten oder die anderen völlig verkehrte Vorstellungen davon hätten, was Gott will. Für die von uns bereiste Gegend bedeutet das einiges Wissenswertes, das ich chronologisch ausbreiten möchte, wofür ich mich natürlich rechtfertigen muss.
‚Der Reihe nach‘ zu erzählen ist ja inzwischen selbst bei Fernsehkrimis verpönt. Wenn ich, gern schon vor den Credits, etwas halbwegs Interessantes (Mord, Explosion, Fahrerflucht) sehe, kann ich darauf warten, dass mich ein Schriftzug darauf aufmerksam machen wird: ‚vier Tage vorher‘, und dann muss ich mir mehr als eine Stunde lang, einschließlich Pinkel- oder Werbepause, die Stelle erarbeiten, an der die Fahrerflucht nach dem Mord während der Explosion stattgefunden hat. Zwischendurch hat der Schnitt eine Zeitlang im- mer hin und her gependelt zwischen dem Messer an der Kehle der Sympathieträgerin und dem Weinglas ihres 66infamen Geliebten in der Wohnung seiner heimlichen Freundin oder Dealerin. Dann holt als Rückblende die Kommissarin ihren Sohn aus der Kita ab, falls der nicht gerade entführt worden ist. Gleichzeitig rauchen Bösewichter in schmucken Häusern immer noch Zigaretten, Verdächtige aus schlimmen Vierteln sind unschuldig, und der prominenteste Schauspieler ist die Täterin, was die Zuschauerin countdownhalber eher erfährt als der tapfere Ermittler, der, ohne wie befohlen auf die Kollegen zu warten, in das Haus der Toten prescht, obwohl ihm gestern die Pistole geklaut wurde. Das Grundstück liegt genau an der Stelle, an der Öl gefunden wurde, eine Hochhaussiedlung gebaut werden soll und die Autobahn von Washington nach Moskau geplant ist. Das kam aber erst ‚vier Tage vorher‘ raus und hatte zu gewissen Erbstreitigkeiten geführt.
Also, so nicht. Ich erzähle der Reihe nach. Die Etrusker, die Völkerwanderung sowie Aufstieg und Fall Venedigs lasse ich hier einfach weg, so lehrreich dieser Abschnitt der Geschichte für diejenigen, die lernen wollen, auch sein mag. Was mich konservativ und alt macht, ist meine Vermutung, dass die meisten Menschen am Wissen nicht sonderlich interessiert sind. Die Strafe dafür kommt nicht immer, aber manchmal durchaus auf der Lohnabrechnung: niedrige Bildung – niedriger Verdienst. In Mitteleuropa ist das Bildungsangebot gegenüber Somalia ziemlich groß, und wer es nicht annimmt, verdient eben all das, was man für wenig Geld bekommt: schlechtes Essen, hässliche Kleidung, steriles Wohnen, billigen Urlaub und jede Menge religiöse Vertröstung auf später.
„Das Elternhaus!“, höre ich die, die in allem das Gute sehen, schon sagen, „das Elternhaus!!“ – Meine Mutter ist als quasi uneheliches Kind bei einer verbitterten, missgünstigen Mutter aufgewachsen und hat sich bis zu meinem Vater durchgeschlagen, nicht durchgeschlafen, was mich auch nicht gestört hätte, aber ich bin prinzipienloser als sie. Wie kommt es, dass sie mir Beethoven und Mozart – auf Schallplatte – vorgespielt hat, dass sie mir Marc Twain und Orwell zu lesen gab, dass sie mit mir, als ich dreizehn war, in die Chagall-Ausstellung gegangen ist? Ihre Gene – meine Gene? Immer hatte ich diese Diskussion mit ihr: „Talent setzt sich durch“, sagte sie und meinte die Pompadour genauso wie Alice Schwarzer, und sie selbst war ja auch kein schlechtes Beispiel dafür, wie man sich mit keinem anderen Talent als dem sich durchzusetzen, durchsetzt. Mein Vater, Schulabbrecher mit geknicktem Selbstbewusstsein, hatte sich auch durchgesetzt. „Ich will nicht, 67wie die anderen, über die Geschäftsführung meckern“, hatte er schnell herausgefunden, „ich will dazugehören.“ Unsere Gene. Kein Mensch hat mir aus den Genen oder dem Milieu prophezeit, dass ich jahrelang Orchesterwerke schreiben würde, und wahrscheinlich wird sie auch kein Mensch je hören. Aber sie sind da, in Noten, auch wenn sie nicht erklingen werden. Was man unbedingt will, das macht man auch, und ist es eine Frage des Elternhauses, ob es sich dabei um einen Bestseller oder einen Bankraub handelt?
„Mag ja sein, dass Talent sich durchsetzt“, antwortete ich damals meiner Mutter, „aber es geht nicht um Genies, die alles erreichen, sondern darum, dass die Mittelmäßigen, die nicht die Gabe haben, in den Olymp aufzusteigen, dass auch die gerecht behandelt werden.“ Meine Mutter sagte: „Ja, aber“ – so fing jeder ihrer Sätze an, und dieser Widerspruch bestimmt mein Leben, die Geschichte natürlich auch: Venedig wurde ein paarmal zwischen Frankreich und Österreich hin- und hergereicht und ging zum Schluss an das Königreich Italien.
Die Gegend machte König Vittorio Emanuele II. aber wenig Freude. Er hatte sowieso Pech: Weil er schrecklich gern jagte, verbrachte er im Dezember 1877 eine Nacht im Unterstand. Die Folge: Lungenentzündung, Tod im Januar. Die Rehe freute es, die Italiener waren traurig.
Sein Sohn Umberto ließ ihn in Rom im Pantheon beisetzen, das war irgendwie noch fescher als das traditionelle Grabgelege des Hauses Savoyen in der Basilika von Superga. Was soll der Quatsch, kann man fragen, aber da die Menschen nach wie vor auf solche Demonstrationen hereinfallen und alles glauben, was man ihnen leicht schluckbar serviert, war die Entscheidung wohl goldrichtig. Das Veneto jedenfalls war damals ziemlich runtergekommen, und wer Mut hatte, wanderte aus. Im Ersten Weltkrieg flog Österreich-Ungarn mehr als vierzig Luftangriffe gegen die Serenissima; zur Strafe existierte es anschließend nicht mehr: 1919 erhielt Italien das Trentino und Südtirol im Norden und im Osten Trient und Istrien zugesprochen. So kamen die drei Venezien zustande.
Mussolini hatte viel vor mit Venedig: Es sollte neben Genua der bedeutendste Hafen in Italien werden. Autobrücke und Bahnhof wurden gebaut. Das Gebiet kam wirtschaftlich auf die Beine, Mussolini nicht. Er war Hitlers Verbündeter im Zweiten Weltkrieg gewesen, wurde von Antifaschisten 68kopfüber an einer Tanksäule aufgehängt und von Menschen, die vermutlich seine Gegner waren, ins tote Gesicht getreten. Das veranlasste Hitler wenige Tage später, sich zu erschießen. Er wolle nicht so enden wie Mussolini, sagte er zu Speer im Führerbunker in Berlin. Italien durfte Südtirol und das Trentino behalten, aber – Strafe musste wieder mal sein – der größte Teil Istriens ging an Jugoslawien, gleich hinter Triest war Schluss. Die Tito-Anhänger warfen die Italiener tiefe Karst-Höhlen (‚Foibe‘) herunter und ließen sie dort verrecken, das ‚Foibe-Massaker‘.
Manchmal wurden auch zwei Menschen mit Stacheldraht aneinander gefesselt. Den einen erschossen die Partisanen, den anderen nicht, dann stießen sie beide in die Tiefe. Jugoslawien und Italien waren keine freundlichen Nachbarn. Inzwischen ist Jugoslawien untergegangen, Italien gibt es noch.