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GREIF MARIA!
UMWEG #16

Wir befolgten die Anweisungen der Navigatorin und verließen die Autobahn. Von Zeit zu Zeit mache ich Rafał darauf aufmerksam, dass er ihre Stimme durch eine männliche ersetzen will, aber er hat in der Gebrauchsanweisung immer noch nicht den Trick gefunden, wie das geht. Meine wiederholte Nachfrage hat damit zu tun, dass unsere Verwünschungen, wenn wir uns fehlinformiert fühlen, einfach zu frauenfeindlich klingen, und da könnte sich Silke hinten düpiert vorkommen. Ansonsten macht es großen Spaß, die stoische weibliche Stimme anzuschreien, und erleichtern tut es auch. Ein paar Minuten hinter der Abfahrt war es wieder so weit. Wir wurden eine enge, gewundene, abschüssige Gasse hinabgeschickt. Wäre uns ein Auto entgegengekommen, wir hätten nur aus dem Wagen springen und uns an den Felsen klammern können. Noch wussten wir ja nicht, dass uns solche Mutproben ab jetzt täglich bevorstanden. Während Rafał sich auf das Nächstliegende konzentrieren musste, schweiften meine Gedanken ab ins Erwartungsfrohe: Was für ein zauberhaftes Hotel würde das sein, das hier am steilen Hang lag, was für eine Umgebung, was für eine Aussicht!

Ursprünglich hatte ich uns ja im ‚Duca D’Aosta‘ schlafen gesehen. Schon, um Silke eine Freude zu machen. Sie ist nicht nur über Politiker und Sportler, sondern auch über Adlige wesentlich informierter als ich, weshalb ihr die Herzoge von Aosta gewiss geläufiger sind als mir. Für alle weniger Eingeweihte nur so viel:

Am 27. November 1927 heiratete Amadeus d’Aosta seine Cousine Anne Hélène Marie von Orléans. Das erlauchte Paar bekam zwei Töchter, nämlich Margherita Isabella Maria Vittoria Emanuela Elena Gennara, die Robert Karl Ludwig von Österreich (Sohn des letzten österreichischen Kaisers Karl I. und dessen Ehefrau, Kaiserin Zita) ehelichte und Maria Cristina Giusta Elena Giovanna, die Kasimir von Bourbon-Beider-Sizilien, einem Sohn von Gabriel Maria von Bourbon, das Jawort gab. Margheritas ältester Sohn, Lorenz von Österreich-Este, ist verheiratet mit Prinzessin Astrid von Belgien. 70Margheritas Nachkommen gehören also dem belgischen Königshaus an, was sie womöglich sogar in Luxemburg kreditwürdig macht.

Trotz Silkes völliger Vertrautheit mit derartigen Familienverhältnissen mochte ihr das Reservierungspersonal im Grandhotel ‚Duca D’Aosta‘ keine Zimmer gewähren, weil alle Gemächer von Kongressteilnehmern belegt waren, die offenbar über ein großzügigeres Budget verfügten als die Katholiken in Leipzig. So hatte Silke – pikiert, aber nicht entmutigt – das ‚Hotel Greif Maria Theresia‘ ausfindig gemacht, das sehr nach Triests imperial-österreichischer Vergangenheit klang und mit Meerblick-Balkonen prahlte.

Meine Erwartungen wurden zunächst dadurch enttäuscht, dass unsere atemberaubende Gasse unten in eine breite, vierspurige Hauptstraße mündete, die man mit viel gutem Willen ‚Allee‘ nennen konnte. Die Navigateuse hatte uns also nur abkürzungshalber die halsbrecherische Strecke geführt. Rafał und ich fluchten Frauenfeindliches, Silke war still. „Sie haben Ihr Ziel erreicht. Das Ziel liegt auf der linken Seite“, verkündete die Wegweiserin unbeeindruckt. War die erste Enttäuschung verkraftet, dann war gar das Hotel nicht so schlimm. Es lag ein paar Kilometer vor dem Zentrum, und es gab auf dem Grundstück einen Parkplatz, voll besetzt, was ja für die Beliebtheit der Unterkunft sprach. Rafał entdeckte, wie eigentlich immer, doch noch eine (Un-)Möglichkeit, das Auto abzustellen, einen Kofferträger gab es nicht. Wozu braucht man für zwei Übernachtungen in Triest einen Kofferträger? Na, bei acht monströsen Gepäckstücken kann er durchaus hilfreich sein. Wenn man vier Wochen lang unterwegs ist, führt man Computer, Bücher, Utensilien mit. Keiner von uns trägt gern an zwei Tagen hintereinander dasselbe am Leib, außerdem passen die Schuhe, die einen durch den Tag geleiten, so gut wie nie zur Abendgarderobe.

Schließlich war alles verstaut, und ich sah von meinem großzügigen Balkon aus über die sehr belebten Fahrbahnen hinweg in die Ansammlung von allem Möglichen auf der anderen Straßenseite. Dass dahinter das Meer war – man musste es einfach wissen. Vage überschlug ich, wie viel Wein und Grappa wohl nötig wären, um mit ausreichend ‚Ohropax‘ im Gehörgang am Lärm vorbei ein wenig Nachtschlaf zu finden. Das schwarze Tuch würde mich dabei vor überschüssigem Licht schützen. Ich weiß ja, dass ich nicht sensibel bin, aber dass ich empfindlich bin, kann mir keiner absprechen.

71Wir ruhten uns aus, Rafał von Fahrt und Schlepperei, ich von nichts. Wegen des schon während der Planungsphase im Hamburger Februar gewussten opulenten Mittagsmahles hatte ich für den Abend nur eine Kleinigkeit im Hotel vorgesehen. Das Hotel-Restaurant war geschlossen: Umbau, dem auch der Garten zum Opfer gefallen war. Wenn man wohin kommt, wo man noch nie war, muss man mit so etwas rechnen. Wenn man wohin kommt, wo man schon mal war, auch. Wir ließen uns etwas empfehlen, gleich die Straße runter, stiegen ins Auto und fuhren da nicht hin. Stattdessen hatte es uns der höchste Punkt angetan: Hügelaufwärts, ganz oben, lockte ein Obelisk. Zu dem fuhren wir, war gar nicht so schwierig. Gleich dort lag am Hang ein Lokal, das mir sofort gefiel, zurückgesetzt hinter einem überrankten Vorbau. Viele Wagen.

„Samstagabend, sicher kein Platz“, dachte ich. Rafał quetschte sich trotzdem in die letzte Lücke, wir stiegen aus und die Stufen zum Vorgarten nach oben: ,Al Faro‘. Gleich würde die laue Abgeschiedenheit einer lärmigen Abendgesellschaft weichen. Nee. Die Terrasse war fast leer. Ich war verblüfft. „Aha, ganz schlechtes Essen“, dachte ich. War aber nicht so. Das Essen war sehr gut, Triest lag uns unsichtbar zu Füßen, und die Stehklos ohne Sitze wiesen darauf hin, dass sich nun der erste Abend neigte, an dem wir wirklich in Italien waren, selbst wenn auch diese Gegend bis 1919 zur Donau-Monarchie gehört hatte. Und dann waren bei ,Maria Theresia‘ die Fenster auch noch so gut isoliert, dass ich problemlos schlafen konnte. Rafał erkundete währenddessen die Umgebung. Seine Probleme sind andere als meine, in dieser Hinsicht.

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AUFSCHNEIDER & ABSTECHER
UMWEG #17
SAMSTAG, 16. JULI 2016

Es war mein drittes Mal in Triest. 1991 war ich – auch von Meran aus – dort gewesen, in Vor-MeBo-Zeiten, neun Monate nach Rolands Tod. Mit Bill (tot) und mit Giuseppe (lebt noch). Roland hatte Bill kennengelernt, als ich – wie ständig – auf Geschäftsreise gewesen war; er war Roland zugefallen wie mir Giuseppe. Innigere Beziehungen hat es von unseren nächtlichen Ausflügen ohne einander nie gegeben. Damals lebte Bill in Los Angeles, wo Roland und ich ihn mit Silke besuchten, und später in Houston, wo ich ihn traf, einmal sogar mit Irene. Bills Mutter stammte aus dem Tessin, und bevor Bill Roland und mich in Hamburg besuchen kam, machte er jedes Mal einen Abstecher in die Schweiz, wo er mexikanische Drogengelder wusch. Ich fürchtete immer, er würde deshalb irgendwann seinem eigenen Abstecher ins Messer laufen, aber er starb doch 1999 ganz normal an Aids. Er war eher scheu und sagte zu mir: „Da habe ich ein Mal Sex, und dann noch richtig schlechten, und gleich kriege ich Aids.“ Er wusste, dass das komisch klang, aber wir lachten ja dauernd über Dinge, die wir so unendlich traurig fanden.

Bills berufliche Ambitionen wurden nie zwischen uns thematisiert, nur, dass er mit Mexikanern ‚zusammenarbeitete‘ und in Zürich auf die Bank ging. Er hatte Geld und sah hübsch aus. Selbst eine verkümmertere Fantasie als meine würde da ein Drehbuch wittern.

Bill war so wunderbar negativ, wie ich es nie geschafft habe, zu werden. Mit niemand anderem habe ich so über die Aussichtslosigkeit alles Lebenden herziehen können wie mit ihm. Ich füge hier einen gekürzten Tagebuch-Ausschnitt von 1991 ein, der meine damalige Verfassung wiedergibt. Vor nun also fünfundzwanzig Jahren schrieb ich:

Am Dienstag, 22. Oktober, abends gegen halb sieben setzte ich mich in mein repariertes Auto und fuhr nach Bozen, um dort Bill am Bahnhof abzuholen und mit ihm zu Giuseppe zu fahren. Meine Eltern winkten in die abendliche Dunkelheit, und mir war beklommen zumute. Auch Abschiede auf kurze Zeit können bewegend sein, weil es keine Garantie gibt, dass die 73Zeit der Trennung wirklich kurz sein wird. Allein im Auto auf Reisen zu sein, war ein Zustand, auf den ich mich ein paar Minuten lang einstellen musste, das voll aufgedrehte Radio half dabei, und bald war ich selber aufgedreht. Die Landstraße hat ja für viele, auch für mich, etwas Besonderes, nicht ohne Grund zieht sie sich als Thema durch viele Spielfilme. Immer denkt man: Vor dem nächsten Lastwagen beginnt die große Freiheit, man spürt den Gegenverkehr fast schmerzhaft im linken Auge, in der linken Brusthälfte, und man wägt das Risiko ab, den Lastwagen zu überholen, um die Lust der Grenzenlosigkeit einzuatmen – oder doch besser hinter ihm zu bleiben, um nicht den Rest seiner Strecke querschnittgelähmt im Rollstuhl zu fahren.

Eigentlich weiß man, die grenzenlose Freiheit endet hinter dem nächsten Siebentonner, also vierhundert Meter weiter. Aber den kann man ja ebenfalls überholen. Vielleicht überholt man sich sogar irgend-wann selbst und sieht mitleidig-triumphierend im Rückspiegel auf sich zurück: Alle Skrupel, alle Erinnerungen haben wir – endlich! – hinter uns gelassen, und vor uns liegt diese idiotische Weite, deren Unbehaustheit uns das Gefühl gibt, wir könnten etwas errichten auf ihr, was Spätere dann im Vorbeisausen wahrnehmen werden wie das Hinweisschild auf ein Motel, das mangels Kundschaft schon vor Jahren eingegangen ist.

Die beflügelnde Fahrt meiner Gedanken wurde jäh gestoppt durch die aufleuchtenden Bremslichter meines Vordermannes. Rücklicht reihte sich an Rücklicht, endlose Kette roter Punkte, die sich wie ein schlafender Leuchtwurm durch die langgestreckte Kurve zog. Nachdem ich das Lichtspiel zehn Minuten lang genossen hatte, stieg ich aus und traf zwanzig Meter weiter vorne auf einen wunderhübschen, zierlichen Lastwagenfahrer, der freilich meine Neugier mehr anstachelte als befriedigte, obwohl er mir mitteilen konnte, dass weit, weit vorn zwei ineinander verkeilte Autos auseiander-geschweißt werden müssten.

Ende einer großen Freiheit …? Ich redete noch dies und das mit ihm, um eine Ausrede zu haben, meinen entleerten Blick an ihm aufzutanken. Diesen feingliederigen Menschen konnte ich mir überhaupt nicht hinter dem Steuer dieses 74Ungetüms vorstellen, aus dem er gestiegen war, eher schon mich mit ihm in der Koje hinter dem Fahrersitz.

Verträumt begab ich mich zurück in meinen Wagen: Der Situation, eingekeilt in die endlose Autoschlange, in das Dunkel der Landstraße und in meine aus- sichtslosen Zusammenstöße mit dem drahtigen Lastwagenfahrer, konnte ich etwas abgewinnen, was mich über das einstündige (!) Warten hinwegtröstete. Stau drinnen, Stau draußen. Alles, was ich bin und habe, ist mit Roland gestorben, mir bleibt nur noch, was ich kann – und das ist, aus allem etwas Absurdes zu machen, auch aus dem Absurden: Die Perversion ist das Einzige, was mich noch am Leben hält. Besser als gar nichts, und so versuche ich, mich in ein neues Leben oder einen (verdienten) Tod zu hangeln.

Es blieb, zunächst mal, beim Leben. Bill wartete schon unruhig. Immerhin hatte er noch nicht bei meinen Eltern angerufen und dort Alarmstimmung ausgelöst. Wir rasten durch die Finsternis der Autostrada bis Vicenza Ovest, wo uns Giuseppe an der Ausfahrt erwartete. Es hatte gutgetan, ins Gaspedal zu treten und alles das, was ich schon unzählige Male auf Deutsch gesagt hatte, zu jedem, der Roland kannte, auf Englisch zu wiederholen. Giuseppe führte uns in ein nahes Restaurant, es war nach zehn inzwischen, es war Vollmond, und es war Italien. Von nun an wurde nur noch Italienisch gesprochen, Bill beherrscht es fließend. Erstaunlich, bis zu welchem Grade die Notwendigkeit, sich auf eine andere Sprache konzentrieren zu müssen, doch auch den Gemütszustand verändert.

Giuseppe sauste über die nächt-liche Landstraße zu dem winzigen Ort, in dem sein Haus steht, ich mit Bill hinterher. Was für ein Spielverderber war ich gewesen, an Strick und Schlaftabletten zu denken! Man kann seinen Körper doch viel lustiger zerstören: so nämlich, dass er oder es vorher richtig Spaß macht. ‚Gefährlichleben‘ holt ja noch mal viel mehr raus aus dieser Zeitspanne des Menschseins als gefahrlos zu sterben. Giuseppe überholte; ich überholte, der Wein bestimmte meine Fahrweise, und meine Fahrweise berauschte mich mehr als der Wein. Ich will nie wieder etwas Vernünftiges tun, 75nie wieder etwas, das Sinn macht. Ich will nichts als Wahnsinn. Nie mehr normal. Nachdem mir das Schicksal genommen hat, was mich bändigte und in Zaum hielt, will ich nur noch gegen den Strich leben.

Na ja, na ja. Zunächst mal beschränkte sich meine Raserei darauf, auf einem Ausflug nach Triest Miesmuscheln als Vorspeise zu essen, ohne mich vor Hepatitis zu fürchten, und anschließend die beiden anderen dazu zu überreden, einen Abstecher nach Jugoslawien zu machen. Der gefahrlosen Gefahr habe ich noch nie widerstehen können, und so war ein kleiner Ausflug in das behütete Slowenien gerade das Richtige, um sich vorzumachen, an Krisenherden wie Kroatien und Albanien zu naschen.



Bill (beide 1984)

Wir hatten uns Triest angesehen, eher flüchtig, das Schloss am Meer hatten wir kennerisch begutachtet, wir waren weitergefahren nach Florenz, und ich weiß genau, dass ich immer noch todunglücklich war und wir die ganze Zeit über rumgekichert haben wie vierzehnjährige Mädchen, nicht wie vierzigjährige Männer. Auf der Fahrt von Padua nach Bologna hatten wir über Scamorza gesprochen. Diesen geräucherten Käse 76kann ich nicht leiden und behauptete, den Kühen würde auf der Weide das Euter angezündet, um den Rauchgeschmack der Milch von Anfang an zu gewährleisten.

Von Jesolo aus war ich sechs Jahre später nochmal in Triest gewesen, mit meinen Eltern. Kein Mensch, der Geschmack hat, geht nach Jesolo, sagen Menschen, die finden, dass sie Geschmack hätten. Aber das Hotel in Jesolo hatte einen Garten, dessen Rasen direkt in den feinen Sandstrand überging. Wo hat man das schon? Meist liegt eine Autostraße dazwischen, selbst im Grandhotel in Rimini und im ‚Carlton‘ in Cannes ist das so. Wenn man Glück hat, gibt es eine Unterführung zum Strand, damit man sich nicht in Flipflops zwischen den Straßenkreuzern durchzwängen muss, wenn man großes Glück hat, sind einem die Zimmerpreise dort egal, und wenn man ganz großes Glück hat, ist man zufrieden auf dem Campingplatz und beneidet nicht die, die keine Jacht haben und deshalb im Hotel schlafen müssen.

1997 sahen wir uns Triest als Tagesausflug von Jesolo aus auch nicht gründlicher an, aber wir fuhren zum selben Lokal, in dem mir schon vor sechs Jahren die Miesmuscheln keinen Schaden zugefügt hatten. Dafür, dass ich es wiederfand, bewunderte ich mich sehr, denn es lag ziemlich versteckt an einem kleinen Kanal, war ganz schlicht eingerichtet, und die Terrasse grenzte an die Kaimauer.

Wir waren spät, die letzten Mittagsgäste, doch eine träge Gelassenheit in der Luft oder vom Wasser her verhinderte, dass wir uns gedrängt fühlten. Das Essen war wieder so unkompliziert gut, wie ich es in Erinnerung hatte, und der Blick über die Bucht war für die Augen so anregend wie die ‚pappardelle con salsiccia e funghi‘ für den Gaumen.

Aus der Ferne sehen große Häfen oft eindrucksvoller aus als aus der Nähe: die Schiffe, die Kräne, die Bauten am Meer, dahinter die Häuser, die an den Berghängen emporzuklettern scheinen. Von Nahem wirkt das alles eher verrottet. Beim Filmen habe ich immer auf Großaufnahmen geachtet, was damals wegen der schwierigen Bestimmung der Brennweite leicht zu Ausschuss führte. Aber Weitwinkel kann keine Atmo- sphäre einfangen. Nähe ist schwierig. Manchmal bin ich ihr nicht gewachsen.

Wir fuhren damals auch wieder über die Grenze nach Koper, das schon sehr viel rausgeputzter wirkte als sechs Jahre zuvor, und mit etwas langweiligem Schlangestehen am Übergang durchs 77Inland zurück nach Italien, gleich bis ins Veneto.

Den Namen des Lokals von damals und den des Ortes hatte ich jetzt rausbekommen. Mit genügend Gegoogel geht das schon. Ein Mittagessen dort hätte meiner Erinnerungsseligkeit gutgetan. Ursprünglich hatte ich ja für den Vormittag einen Besuch im Schloss ‚Duino‘ geplant. Dann war mir aber eingefallen, dass wir mit Giuseppe und Bill ziemlich weit weg vom Schloss hatten parken müssen, und diese Strecke zu laufen, traute ich mir nicht mehr zu. Noch mehr hatte mich verunsichert, dass mich Giuseppe im Rahmen meiner Geburtstagsfeierlichkeiten darauf aufmerksam gemacht hatte: War ja gar nicht ‚Duino‘! Das war ‚Miramare‘ gewesen. Also hatte ich gleich in der Nacht in Triest den Ausflug gestrichen – im Bett geht sowas ja leicht – und wollte nun lieber zum Mittag wieder nach Muggia in die Trattoria ‚Risorta‘. Das ging nicht. An der Rezeption fand man heraus, dass sie geschlossen ist, nicht wegen des Sonntages, sondern überhaupt. Derar- tige Schicksalsschläge gilt es zu ertragen und wendig zu bleiben. Also los!

BRUST ODER FLASCHE
UMWEG #18

Zunächst mal musste ich ‚alter Hase‘ den beiden Neulingen ja Triest zeigen. Triest ist das Österreichischste, was Italien außerhalb Südtirols zu bieten hat, so viel wusste ich noch, viel mehr auch nicht. Die Häuser sind überwiegend vierstöckig, Ende neunzehntes Jahrhundert, ein bisschen wie Prag, etwas abgeblätterter, aber im Zentrum ist es schön unübersichtlich, ein wirbeliges Durcheinander von Gassen und Menschen. Das ‚Duca D’Aosta‘ war in dem Gewirr nicht auszumachen. War wohl doch nicht so pompös. Parken wie üblich unmöglich. Aber ich fand, Silke und Rafał mussten sich die Stadt erlaufen, anders kenne ich es nicht.

78An einem kleinen Platz war Markt. Davor ein freier Behinderten-Parkplatz. Rafał breitete die farbig fotokopierte Vergrößerung meines Behindertenausweises vor der Windschutzscheibe aus, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Polizist in der Venezia Giulia dem Dokument ansah, dass ich damit in Hamburg verbilligt Bus fahren darf. Die Brücke vor dem Markt, also unserem Parkplatz, führte über einen Kanal, der wenig später ins Meer mündete, aber vorher straßauf rechts und straßab links dekorative Häuserzeilen zu bieten hatte. Rechts, direkt am Wasser, lagen einige Cafés, und gleich das erste war das hübscheste. Dahin gingen wir. Silke und Rafał tranken Espresso, ich bat um ein – wenigstens sprudelndes – Mineralwasser, weil ich mich um elf Uhr vor mir selbst nicht traute, schon einen Campari zu bestellen. Dann machten sich Silke und Rafał auf den Weg, ich blieb sitzen. Ein bisschen ärgerte ich mich, dass ich nichts zu lesen dabei hatte. Aber war es nicht sowieso schöner, hier am Samstagvormittag beschaulich zu sitzen und den Menschen bei ihrem Treiben zuzuschauen? Nein. Die Vietnamesin brachte mir ein zweites Mineralwasser, und es störte mich, dass sie Vietnamesin war. Ihr Italienisch war fließender als meins, aber es passte nicht. In Alaska würde ich mir auch keinen Seehundspeck von einer Thüringerin servieren lassen.

Jenseits des Kanals sah ich Silke und Rafał vorbeigehen. Sie sahen nicht in meine Richtung. Wussten sie gar nicht mehr, dass ich hier saß? Es beruhigte mich, dass ich das Auto im Blick hatte. Ohne mich konnten sie nicht abfahren. Vielleicht hatten sie sich verlaufen und fanden nicht mehr zurück. Eine Stunde würden sie mindestens unterwegs sein. Aber nach einer halben Stunde wurde ich unruhig. Verlassen werden. Ich kann diese Angst nicht loswerden. Mir fallen immer zu viele Gründe ein, warum man mich würde verlassen wollen. Als ich ein Jahr alt war und mein Vater im Gefängnis, gab mich Irene, die noch nicht mit Guntram verheiratet war, zu ihrer erhofften Schwiegermutter nach Schmalkalden, wo sie es sich hübscher für mich vorstellte als im ausgehungerten Berlin. Meine Großmutter konnte Kinder zwar nicht leiden, aber der Bahnwärter hatte vier davon, da kam es auf eins mehr wohl auch nicht an.

Die Mutterbrust hatte ich sowieso verweigert, war also einfach über Flasche zu ernähren (bis heute). So ganz klappte das wohl doch nicht, denn aus dem Bahnwärterhäuschen kamen Hilfeschreie, man möge die Pflegeeltern von diesem Schreihals befreien. Meine Mutter reiste an, um mich zu entsorgen, aber dann hieß es, nun sei ich ruhiger 79geworden. Ich gehe davon aus, dass Guntram auch aus der Haft heraus über gewisse Gelder verfügte, die es an der Thüringer Schranke leichter machten, mein Gekreische zu ertragen. Meine Großmutter hielt sich heraus aus den Querelen. Sie hatte einen tauben Mann zu Hause rumzusitzen, den sie nicht liebte, und beschränkte sich auf das Wesentliche: Sie ließ mich taufen. Wäre ich beim Bahnwärter unter die Räder gekommen, dann direkt in den Himmel. Inzwischen ist diese Chance wohl vertan.


Taufe (1947 in Schmalkalden)


Großeltern Reinhold und Maria Rinke (1948 in Schmalkalden)

Im November nutzte alles Geld nichts mehr. Bahnwärters wollten mich los sein. Irene reiste wieder an und nahm mich mit. Die nächsten Wochen in Berlin waren die einzigen, in denen ich zufriedenstellend gegessen habe. Wenn meine Mutter mir den Löffel aus dem Mund nahm, schrie ich. „Die haben dich hungern lassen“, schlussfolgerte sie empört. Aber auch die Nächte schrie ich durch. Mein Vater bekam es zu hören, nachdem er aus der Anstalt entlassen war. Trotzdem heiratete er meine Mutter, nachdem seine erste Frau ihn freigegeben hatte, wobei seine Hinweise an sie, er würde ihre Verstrickungen ins Nazi-Regime aufdecken, ihr die Entscheidung sicher erleichtert hatte. All das erfuhr ich natürlich erst viel später. Weder an die herrlich 80männliche Faust des Bahnwärters in meinem Gesicht noch an das nasskalte Taufwasser an meiner Stirn kann ich mich erinnern, meine Mutter erzählte mir später den Teil der Geschichte, den sie kannte. Das spricht, finde ich, sehr für ihre Aufrichtigkeit. Auch wie sehr sie sich auf mich gefreut habe, obwohl ihr während der ganzen Schwangerschaft unerträglich schlecht war, hörte ich oft. Dass sie mich während meines Aufenthalts in Schmalkalden vermisst habe, hörte ich nie. Schlimme Zeiten waren das. Es ist wohl so, dass mir damals ein Grundvertrauen verloren ging. Angst ist das erste Gefühl, an das ich mich erinnern kann, und kein anderes Gefühl hat mich so treu begleitet wie die Angst.

Das Wichtigste, was ein intelligenter Mensch zu lernen hat, ist es, seine Angst zu ertragen: Das dauert ein ganzes Leben lang, bis hin zum Sterben, wenn man sich unsinnigerweise vor dem Tod mehr fürchtet als vor einer Narkose. Einfältige haben es da leichter, weil sie gar keine oder so dümmliche Ängste haben, dass man aufgeschmissen ist mit seiner Verständnisbereitschaft. Dafür ist ihnen ja das Himmelreich sicher, behauptet Jesus in der Bergpredigt; mehr geht nicht, und wer’s glaubt, wird dann selig.

Zu wenig Angst kann zum Tode führen: Da erliegt man im Krieg einem Feind oder auf der Kreuzung einem Mercedes, wobei das christliche Symbol des Kreuzes ja im Verkehr inzwischen weitgehend abgelöst ist vom Kreis, also der Menge aller Punkte einer Ebene, die einen konstanten Abstand zu einem vorgegebenen Punkt dieser Ebene (dem Mittelpunkt) haben; und dabei herrscht im Verkehr das Prinzip: links vor rechts – wer schon drin ist im Kreis, hat Vorrang vor dem, der noch draußen ist, wie in der Politik. Revolutionen sind dazu da, daran etwas zu ändern, um den Regeln zu beweisen, dass sie nicht so ewig gültig sind, wie sie das von sich behaupten.

Ich sah auf den fließenden Verkehr; der Wagen, der neben unserem geparkt stand, fuhr weg, gleich schob sich ein anderer in die Lücke. Wenn jetzt ein Abschleppwagen käme, wäre ich rechtzeitig am Auto, um ihn aufzuhalten? Die Vietnamesin würde mir hinterherschreien, die Carabinieri wären mitleidlos, Silke und Rafał sind überfahren worden oder über alle Berge …

Manchmal, wenn auch nur selten, erreiche ich einen Zustand von Angstlosigkeit, eigentlich ist es wohl eher Wurschtigkeit: „Is doch egal. Was soll schon sein? Dann sterb’ ich eben.“ Herrlich. Diese Unbekümmertheit habe ich nie durch die Religion erfahren (wie auch?), sondern nur durch angesoffene 81Gleichgültigkeit. Das Erhabene ängstigt nicht weniger als das Niederträchtige – das Unerreichbare und das Abstoßende. Schade, dass Gleichgültigkeit so unwünschbar ist wie ein Leben in Narkose. Zu viel Angst führt zu Stillstand, der diesseits des Todes nicht als Glück definiert ist, sondern wirtschaftlich und kulturell als Vorbote des Untergangs gilt. Also: Angstlos sind bloß fantasielose Tölpel. Der aufgeklärte Demokrat hat Angst zu haben, schon, damit er weiß, ob er gerade gegen Atomkraft, Handelsabkommen oder Überfremdung auf die Straße gehen muss. Zu wenig Angst würde da träge machen. Zu viel Angst ist aber auch nicht gut: Sie verhindert entweder, dass man das Haus verlässt, was die Lebensqualität einschränkt, oder sie führt dazu, dass man Amok läuft und erschossen oder in die Anstalt verbracht wird, was die Lebensqualität ebenfalls einschränkt. Ja, Angst oder nicht Angst, das ist nicht die Frage, sondern die Antwort liegt als Gleichgewichtsproblem zwischen den Polen. Der Schwebezustand, er ist das Maß aller Dinge. Dabei führen eigentlich alle Wege zum Ziel. Man muss nur den Mut haben, sie zu beschreiten. Mit zwanzig an Drogen gestorben, mit neunzig an Ungelebtheit, na ja. Wer die Angst nicht über- windet, erreicht sein Ziel nicht. Gerecht ist: Wer gar keine Angst hat, der hat auch keine lohnenden Ziele. Zweifellose Gläubigkeit ist ein Stumpfsinn, der höchstens Päpsten und anderen Diktatoren gefällt. Mein Ziel ist, keins zu haben. Endlich dieses ständige ‚Hinsteuern auf etwas‘, das mich mein Leben lang verfolgt hat, loszuwerden, wenigstens jetzt.

Teil des Altseins, also meines Altseins, ist es, immer wieder nachzuhaken: Wenn ich im Sommer 1975 gestorben wäre, hätte ich Roland nicht kennengelernt. Wenn ich im Sommer 1989 gestorben wäre, hätte ich den Fall der Mauer nicht mehr erlebt. Meinen Schlaganfall hätte ich nicht bekommen, wenn mich im September 2010 schon ein Panzer überrollt hätte, weil ich, wie das so meine Art ist, wieder mal in einem Krisengebiet nach dem Sinn des Lebens geforscht habe, der in meinem eigenen Garten – viel zu egoistisch und zu botanisch – nicht zu finden wäre. Im Alter wird man, besonders wenn man nicht töricht ist, einsamer; und damit stellt sich die Frage: Will man seine Einsamkeit teilen, mitteilen oder ausleben?

Ich habe nach reiflicher Überlegung meinen Entschluss für mein eigenes Dasein gefasst. Ich mache alles drei: teilen, wenn ich nun den Gefährten meines Alterns vorprogrammierte 82Ortswechsel aufzwinge; mitteilen durch dieses Schreiben; und ausleben nachts, wenn ich nicht darüber hinwegkommen kann, was alles nicht mehr geht. Ja, jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt: Altsein.

Als Kind war ich unsterblich und hatte anschließend das ewige Leben in petto, doch nun, wo das so viel dringlicher wäre, ist mir die Ewigkeit abhanden gekommen: Kein individueller Fortbestand meines unsteten Charakters blüht mir, wenn sich mein Leib dereinst zu den Radieschen verabschiedet haben wird. Das ist meine Ansicht, die ich ja schlecht ‚Glaube‘ nennen kann.

Mühsam zwang ich mich, nicht immer wieder auf die Uhr zu starren. Solch eine Situation kommt auf der ganzen Reise nicht mehr vor, beschwichtigte ich mich. Die beiden werden dann unterwegs sein, und ich sitze in aller Ruhe im Hotel. Das wird ganz entspannt. Nur heute, jetzt, hier ist es etwas unbehaglich. Still sitzen. Ein erbärmlicher Zustand. Ach wo! Es ist so wunderschön, wenn es zu spät ist für alles: Ich kann von einem makellosen Körper, dem Oscar und dem Nobelpreis träumen, ohne die geringste Anstrengung machen zu müssen, je etwas davon zu erreichen. Vor 30, 20, 10 Jahren hätten solche Träume mich noch geärgert, weil sie meinen Ehrgeiz angestachelt hätten. Jetzt sind sie wie Schlieren auf der Windschutzscheibe, und es gibt keinen Anlass, die Scheibenwischer zu betätigen. Ich wollte gewandt, durchtrainiert, einfühlsam und bedeutend werden. Und was bin ich geworden? Begütert – materiell zumindest. Das finde ich, wenn die Träume nicht in Erfüllung gehen, einen angemessenen Schadenersatz.

Silke und Rafał kamen zurück. Baudenkmäler hatten sie nicht gefunden, aber dafür umso mehr Boutiquen. Und in denen war sogar das Passende gewesen. Ihre Übereinstimmung freut mich, schon, weil sie mir das Leben erleichtert. So will ich es haben. Ist man glücklich, wenn man sich vormacht, dass man glücklich ist? Vielleicht sollte es wirklich ein Ziel sein, keins zu haben. Aber das muss sehr planmäßig angesteuert werden, sonst verwahrlost man – oder es klappt nicht.

Nachdem Triest von uns erobert worden war, wollten wir es verlassen. Das führte uns, nachdem auch die Zitadelle begutachtet worden war, durch sehr enge Straßen – erst sehr rauf und dann sehr runter in eine sehr lange Unterführung. Wäre es der Navifrau immer noch verboten gewesen, Tunnel zu benutzen, wäre sie unter der Motorhaube schreiend zusammengebrochen.

83So aber kamen wir doch nach Muggia, das uns aber nicht weiter interessierte, weil das ‚Risorta‘ geschlossen hatte. Das war etwas ungerecht von uns, denn ein ganz so erbärmliches Kaff ist Muggia nun auch wieder nicht:

Während der Eroberungskriege Istriens fiel Muggia 181 (aber vor Christus!) an die Römer, die dort ihr Lager Castrum Muglae gründeten. Doch nichts hält ewig: Nach dem Ende des Weströmischen Reichs kam Muggia unter die Herrschaft der Goten, später der Langobarden, der Avaren und der Franken. 931 wurde Muggia von den Königen Italiens dem Patriarchat Aquileia übergeben. 1420 kam die Stadt unter die Herrschaft der Republik Venedig. Nach Napoleons Niederlage ging ja, wie besprochen, alles in der Gegend an Österreich, was gar nicht so schlecht war. In Muggia entwickelte sich eine prosperierende Werftindustrie, die größte Schiffswerft der K.-u.-k.-Monarchie, die bis 1912 als Einzige in der Lage war, die größten Schlachtschiffe zu bauen.

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Yaş sınırı:
18+
Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
Hacim:
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ISBN:
9783963114236
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