Kitabı oku: «Logos Gottes und Logos des Menschen», sayfa 6

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Die Kritik Ratzingers an der ontologischen Naturrechtsidee bezieht sich dabei, wie gesehen, einerseits auf die Verankerung von Glaubensaussagen im Naturrecht, die dort seiner Ansicht nach nicht hingehören; andererseits scheint ihm hier ein Begriff von Natur vorzuliegen, der sich zu stark am Biologischen orientiert. Wie sich besonders bei seinem Hinweis auf die paulinischen Anwendungen von Röm 2,14 zeigt, scheint ihm gerade der Bezug des Naturrechts auf die stoische Philosophie Normen zu sehr aus einem noch sehr stark biologisch geprägten Naturbegriff ableiten zu wollen. „Die Grundeinstellung des stoischen Ethos darf man, unbeschadet seiner geistigen Höhe, insofern als Naturalismus bezeichnen, als die Stoa in der durchgotteten Natur zugleich das wegweisende Wirken des Logos, des allwaltenden göttlichen Sinnes fand. Demgemäß erschien ihr als die umfassende Norm des Ethos das ‚kata physin‘, die Naturgemäßheit.“38

2.1.2. Die moralische ‚Vernunft der Natur‘

Aus der Kritik Ratzingers am Naturrechtsgedanken lässt sich nun allerdings keine Abkehr vom moralisch-ontologischen Denken ableiten. Zwar betont er, wie gesehen, im Zuge dieser Kritik besonders die historische Verfasstheit des Menschen und scheint in seinem Aufsatz von 1964 die Ontologie sogar fast in Geschichte aufzulösen. Dies geschieht aber offensichtlich nur im Zuge der Polemik gegen ein sich von aller Tradition und Geschichtlichkeit befreiendes naturrechtliches Denken, da er sofort wieder betont, dass es „das alle Menschen umgreifende Rechte“39 gibt. Wie schon festgestellt, bewegt sich das Denken Ratzingers in Bezug auf die moralischen Einsichten des Menschen zwischen den Polen Ontologie, Geschichte und Glaube. Betont Ratzinger in den 60er Jahren gegen die klassische Naturrechtslehre besonders die Geschichte und den sich in ihr konkretisierenden Glauben, so verschiebt sich der Schwerpunkt ab den 70er Jahren zusehends auf den ontologischen Pol der Naturrechtslehre und somit vom heilsgeschichtlichen Denken hin zu metaphysischem Denken. Dies soll nicht heißen, dass das metaphysische Element vorher im Denken Ratzingers nicht vorhanden war. Es scheint vielmehr so zu sein, dass er sich genötigt sah, gegen nachkonziliare theologische Verkürzungen dieses Element seines Denkens mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Umgekehrt lässt sich, wie zu zeigen sein wird, aus der Betonung des ontologischen Pols nicht schließen, dass die anderen Aspekte völlig ausfallen.

Im Zuge der stärkeren Betonung der Ontologie in Bezug auf die moralische Botschaft der Natur kommt dem Begriff der Vernunft eine Schlüsselstellung zu. Denn der Grund, warum das ontologische Verständnis des Naturrechts unglaubwürdig geworden war, liegt nach Ansicht Ratzingers, wie gesehen, in dem mit ihm verbundenen, stark biologisch geprägten Begriff von Natur, „in dem Natur und Vernunft ineinander greifen, die Natur selbst vernünftig ist.“40 Diese enge Verbindung von Vernunft und Natur ist mit der Durchsetzung der Evolutionstheorie unglaubwürdig geworden, denn diese betrachtet Ratzinger zufolge als grundlegendes Strukturelement der Natur nicht etwa die Vernunft, sondern den Zufall.41 Ein Naturrecht, das den Naturbegriff rein biologisch versteht, kann daher heute nicht mehr an die Vernunft des Menschen anknüpfen, weil Natur eben nicht mehr a priori als vernünftig gilt.

‚Moral‘ würde nach Ansicht Ratzingers unter diesen Umständen in der Nachbildung der Evolution bestehen: „Das optimale Überleben der Art ‚Mensch‘ wäre nun der moralische Grundwert; die Regeln, nach denen man es macht, wären die einzelnen moralischen Ordnungen.“42 Doch eine solche moralische Nachbildung der Evolution hat nichts mehr mit dem Hören der Vernunft auf die moralische Weisung der Natur zu tun. Vielmehr wird in der verabsolutierten evolutiven Sinnlosigkeit die Vernunft des Menschen vom Kalkül und Machtstreben abgelöst.43 Doch durch diese Aufhebung der moralischen Vernunft hebt der Mensch sich nach Ratzinger selbst auf: „Die Moral ist abgetreten, und der Mensch als Mensch ist abgetreten. Warum man sich an das Überleben dieser Art klammern soll, ist nicht mehr einsichtig zu machen.“44

Ein Naturrecht, das Natur rein biologisch versteht, muss Ratzinger zufolge den Menschen also zwangsläufig als im Letzten unvernünftiges, vom reinen Naturtrieb gesteuertes Wesen betrachten und hat daher zu heutigen moralischen Fragen, „die die Vernunft des Menschen geschaffen hat und die ohne Vernunft nicht beantwortet werden können“45, nichts beizutragen. „Die physikalisch-chemische Struktur des Menschen gibt nun einmal keine Aussagen im Sinn der traditionellen Moraltheologie ab, überhaupt keine ethischen Aussagen“46.

Folglich muss ein heutiges Naturrecht laut Ratzinger, will es den Menschen nicht nur als Gattungswesen verstehen, sondern ihm als einem die reine Natur in seiner Vernunft überschreitendes Wesen gerecht werden, Vernunftrecht sein: „Das Naturgesetz ist ein Vernunftgesetz: Vernunft zu haben, ist die Natur des Menschen.“47 Der Mensch muss vom Naturrechtsdenken als vernünftiges und somit das rein Biologische überschreitendes Wesen ernst genommen werden.

Für das moralische Verhalten des heutigen Menschen ist deshalb Ratzinger zufolge die Frage unumgänglich, ob es nicht auch angesichts des Evolutionsgedankens „eine Vernunft der Natur und so ein Vernunftrecht für den Menschen und sein Stehen in der Welt geben könne.“48 Es geht Ratzinger also um das Finden einer über das rein Biologische und somit über die klassische Naturrechtskonzeption hinausreichenden ‚Vernunft der Natur‘, auf die sich der Mensch mittels seiner Vernunft beziehen kann. Um angesichts der Evolutionstheorie den ontologischen Pol des naturrechtlichen Denkens aufrechtzuerhalten, ist Ratzinger also darauf angewiesen, in der vernünftigen Strukturiertheit der Wirklichkeit, die das theoretische Denken findet, auch gleichzeitig eine vorgegebene Strukturiertheit des Seins im Hinblick auf die moralische Vernunft anzunehmen.

Dazu greift er auf Überlegungen des deutschen Physikers Werner Heisenberg zurück.49 Heisenberg spricht von einer ‚zentralen Ordnung‘ der Wirklichkeit, auf welche ihre mathematische Strukturiertheit verweist. Er macht sich nun Gedanken über eine mögliche personale Verfasstheit dieser ‚zentralen Ordnung‘, indem er sich z.B. die Frage stellt, ob man ihr als Mensch so nahe sein kann, „wie dies bei der Seele eines anderen Menschen möglich ist“50. Von der Bejahung dieser Frage ausgehend gelangt Heisenberg dann zur Beschreibung der ‚zentralen Ordnung‘ als einem Kompass, „nach dem wir uns richten sollen, wenn wir unseren Weg durchs Leben suchen.“51 So kann Ratzinger zusammenfassend feststellen: „Schöpfung ist nicht nur eine Sache der theoretischen Vernunft, des Schauens und Staunens, sie ist ein ‚Kompass‘“52.

Der geistige Gehalt der Schöpfung ist für Ratzinger also „nicht nur mathematisch-mechanisch. Das ist die Dimension, die die Naturwissenschaft in den Naturgesetzen erhebt. Aber es ist mehr an Geist, an Naturgesetzen in der Schöpfung. Sie trägt eine innere Ordnung in sich und zeigt sie uns auch an. Wir können aus ihr die Gedanken Gottes und die richtige Art ablesen, wie wir leben sollen.“53 Der Logos des Schöpfers zeigt sich nach Ansicht Ratzingers dem Menschen also nicht nur in naturwissenschaftlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die moralische Vernunfterkenntnis des Menschen. Auch die moralische Vernunft des Menschen erlangt ihre Erkenntnis im Nachdenken der ihr vorgegebenen Vernunft Gottes.54

Somit existieren nach Auffassung Ratzingers zwei „Ordnungen der Natur“:55 Neben der empirisch erfassbaren biologischen Ordnung gibt es eine der moralischen Vernunft zugängliche moralische Schöpfungsordnung. Dies wird für Ratzinger am Beispiel der Ehe deutlich: In ontologisch-moralischer Hinsicht führt die Natur Mann und Frau zueinander und schafft so den familiären Raum für die Entwicklung neuen Menschseins.56 Andererseits erfährt der Mensch in biologischer Hinsicht auch immer die Tendenz zu sexueller Promiskuität, die der Logik von Ehe und Familie zuwiderläuft. „Das eine stellt sich wirklich als die Botschaft der Schöpfung dar – das andere als die Selbstverfügung des Menschen.“57 Nicht die Konzentration des Menschen auf die biologische Ordnung der Natur, sondern nur das Hören auf die moralische Vernunft der Natur kann ihm also moralische Werte an die Hand geben.

Auch wenn Ratzinger also ‚Naturrecht‘ im klassischen Sinne nicht mehr als glaubwürdig erscheint, so bleibt der Grundgedanke des Begriffs seines Erachtens doch bestehen: „Es gibt das von ‚Natur‘, vom Kompass der Schöpfung her Rechte, das zugleich Völkerrecht über die Grenzen der einzelnen staatlichen Rechtssetzungen hinweg ermöglicht.“58 Der Gedanke einer die Wirklichkeit strukturierenden schöpferischen Vernunft, auf den schon das naturwissenschaftliche Denken stößt, kommt auf diese Weise auch im Hinblick auf die moralische Vernunft des Menschen zum Tragen und ermöglicht Ratzinger eine Rehabilitation des Naturrechtsgedankens auf einer das Biologische transzendierenden metaphysischen Ebene.

Für diese Arbeit ist es von Bedeutung, dass Ratzinger in dieser Argumentation explizit dem Vorbild Platons folgt. Denn auch „Platon stellt, auf Sokrates gestützt, dem Naturrecht des Schlau-Starken das Naturrecht des Seins entgegen, in dem dem Einzelnen ein Plan im Ganzen zukommt.“59 Platon nimmt dabei den sophistischen Begriff des Naturrechts also bewusst auf, „interpretiert ihn aber nicht individualistisch und rationalistisch, sondern als Gerechtigkeit des Seins, die dem Einzelnen und dem Ganzen Existenzmöglichkeit gibt.“60 Natur wird demnach bei Platon ganz analog zu Ratzinger nicht im Sinne des Rechts des Stärkeren verstanden, sondern als Quelle ethischer Einsichten für die Gemeinschaft, die Polis. Auf einer metaphysischen Ebene fallen sowohl für Platon als auch für Ratzinger Natur und moralische Vernunft zusammen.61

2.2 Gewissen: Die moralische Vernunft im Menschen
2.2.1. Reduktion des Gewissens auf Subjektivität

Der Begriff des Gewissens ist für Ratzinger zentral für die nähere Bestimmung des Bezugs des Menschen zur moralischen Vernunft des Seins. Er grenzt sich dabei von einem Gewissensverständnis ab, welches die Subjektivität des Menschen zum letzen Maßstab moralischer Entscheidungen erhebt.62 In diesem Verständnis erscheint Gewissen seiner Ansicht nach als ein „Bollwerk der Freiheit gegenüber den Einengungen der Existenz durch die Autorität“63, als die „oberste Norm … der der Mensch – auch gegen die Autorität – zu folgen hat.“64 Eine besondere Schärfe gewinnt diese Auffassung von Gewissen in Bezug auf das Verhältnis gläubiger Christen zum kirchlichen Lehramt, denn das „Gewissen vieler Christen harmoniert keineswegs einfachhin mit den Aussagen des kirchlichen Lehramts; es erscheint im Gegenteil weithin als die eigentliche Legitimationsinstanz für den Dissens.“65

Dass einer klaren Gewissensweisung immer zu folgen ist, ist auch für Ratzinger unbestritten. „Aber ob das Gewissensurteil oder was man für ein solches ansieht, auch immer recht habe, ob es unfehlbar sei, ist eine andere Frage.“66 Denn eine solche Auffassung würde die Existenz einer vom rein Subjektiven unabhängigen moralischen Wahrheit der Wirklichkeit abstreiten, moralische Wahrheit ins rein Subjektive verlegen und sie somit auf bloße Wahrhaftigkeit reduzieren.67 Dieses Abschneiden des subjektiven Denkens von einer objektiven moralischen Wahrheit führt nun aber nach Überzeugung Ratzingers zu verheerenden Konsequenzen für das moralische Empfinden des Menschen. Denn von dieser Überzeugung her wäre ja z.B. die Ansicht vertretbar, „dass Hitler und seine Mittäter, zutiefst von ihrer Sache überzeugt, gar nicht anderes handeln durften und daher – bei aller objektiven Schrecklichkeit ihres Tuns – subjektiv moralisch gehandelt hätten.“68

Aus diesen Überlegungen folgt für Ratzinger eindeutig die Unzulänglichkeit eines solchen rein subjektiv verstandenen Gewissensbegriffs. Gewissen muss seiner Auffassung nach dagegen sehr wohl etwas mit einer moralischen Wahrheit zu tun haben, die vom rein subjektiven Empfinden unabhängig ist. Denn nur dann kann ja überhaupt die Rede davon sein, dass das Handeln eines Menschen durch sein Gewissen infrage gestellt wird.69

Bleibt diese kritische Aufgabe des Gewissens unerfüllt, kann das nach Ratzinger zu einer inneren Abkapselung und somit zu einer Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit des Menschen führen, wie er am neutestamentlichen Vergleich des büßenden Zöllners mit dem selbstgerechten Pharisäer deutlich macht: „Der Pharisäer weiß nicht mehr, dass auch er Schuld hat. Er ist mit seinem Gewissen völlig im Reinen. Aber dieses Schweigen des Gewissens macht ihn undurchdringlich für Gott und die Menschen, während der Schrei des Gewissens, der den Zöllner umtreibt, ihn der Wahrheit und der Liebe fähig macht.“70 Ein Mensch, der sich seiner selbst völlig sicher ist und sich von nichts mehr infrage stellen lässt, ist nicht mehr imstande, sich auf die Beziehung zu anderen Menschen geschweige denn zu Gott einzulassen und somit zur Liebe unfähig. Ohne Wahrheit ist Liebe für Ratzinger folglich nicht möglich.71

So geht es für Ratzinger nicht an, das Gewissen des Menschen einfach mit dessen subjektiver Gewissheit gleichzusetzen. Denn ein solches Selbstbewusstsein des Menschen kann sich ja auch einfach nach den gerade in seinem Umfeld angesagten Meinungsbildern richten, ohne diese kritisch zu hinterfragen. Deshalb wirkt die Reduktion des Gewissens auf die menschliche Subjektivität auch nicht als Befreiung des Menschen, sondern im Gegenteil als seine Versklavung, denn sie führt in die totale Abhängigkeit von den herrschenden Meinungen: „Wer das Gewissen mit oberflächlicher Überzeugtheit gleichsetzt, identifiziert es mit einer schein-rationalen Sicherheit, die aus Selbstgerechtigkeit, Konformismus und Trägheit gewoben ist. … Die Reduktion des Gewissens auf subjektive Gewissheit bedeutet zugleich den Entzug der Wahrheit.“72 Ein solches Gewissensverständnis, das den Relativismus gewissermaßen kanonisiert, ist in Ratzingers Augen in der Gegenwart vorherrschend.73

2.2.2. Gewissen als Organ der moralischen Vernunft

Gewissen hat für Ratzinger also im Gegensatz zum beschriebenen subjektivistischen Verständnis etwas mit objektiver Wahrheitserkenntnis zu tun. Seine Auffassung, dass der Mensch fähig ist, eine objektive moralische Wahrheit in der Wirklichkeit mittels seiner Vernunft zu erkennen, ist seiner Meinung nach auch genau der Standpunkt, den schon Sokrates und Platon gegen die Sophisten bezogen haben. In diesem antiken Streit sieht Ratzinger die Parallele zum heutigen Disput um die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, „in dem der Urentscheid zwischen zwei Grundhaltungen durchgeprobt worden ist: dem Vertrauen auf die Wahrheitsfähigkeit des Menschen einerseits und einer Weltsicht andererseits, in der nur der Mensch sich selbst seine Maßstäbe schafft.“74

Auch im Römerbrief des Paulus findet sich ein Plädoyer für die Wahrheitsfähigkeit des Menschen, wenn Paulus sagt, „dass die Heiden sehr wohl auch ohne Gesetz wussten, was Gott von ihnen erwartet (Röm 2,1–16).“75 In Röm 2,14f schreibt Paulus: „Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist“. Ratzinger folgert daraus: „Es gibt die gar nicht abzuweisende Gegenwart der Wahrheit im Menschen – jener einen Wahrheit des Schöpfers, die in der heilsgeschichtlichen Offenbarung auch schriftlich geworden ist. Der Mensch kann die Wahrheit Gottes auf dem Grund seines Geschöpfseins sehen.“76

An dieser Stelle muss natürlich auffallen, dass gerade die von Paulus behauptete natürliche moralische Erkenntnis aus Röm 2,14 von Ratzinger selbst im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem Naturrechtsgedanken kritisiert worden war. Grund dafür war der stark stoisch geprägte biologische Einschlag des paulinischen Naturbegriffs, der sich nach Ratzinger besonders in Röm 1,26 und 1 Kor 11,14f zeigt.77 Wenn Röm 2,14f nun trotzdem zum Zentrum der Argumentation Ratzingers wird, macht das deutlich, dass der Gedanke einer Ausrichtung der moralischen Vernunft des Menschen an einer übergeschichtlichen moralischen Wahrheit stärker in den Mittelpunkt von Ratzingers Denkens gerückt ist als zu Anfang seiner Schaffenszeit.78

Des Weiteren muss hier der Bezug zum Schöpfungsgedanken unterstrichen werden: Moralische Wahrheit hat für Ratzinger offensichtlich etwas mit der im Menschen anwesenden Schöpfungsordnung Gottes zu tun. „Im Gewissen, im stillen Mitwissen des Menschen mit dem innersten Grund der Schöpfung, ist der Schöpfer als Schöpfer dem Menschen gegenwärtig.“79 Dazu passt auch Ratzingers Bezug zum Gewissensbegriff John Henry Newmans, den er als „die Aufhebung der bloßen Subjektivität in der Berührung zwischen der Innerlichkeit des Menschen und der Wahrheit von Gott her“80 beschreibt.

Ratzinger sieht also im Gewissen den inneren Ort der Begegnung des Menschen mit der Wahrheit des Schöpfers, die er dort ganz unabhängig vom Glauben an die Offenbarung einsehen kann. „Gewissen heißt, ganz einfach gesagt, den Menschen, sich selbst und den anderen, als Schöpfung anerkennen und in ihm den Schöpfer respektieren.“81 Das Gewissen bringt dem Menschen seine „seinshafte Verwiesenheit auf Gott“82 zu Bewusstsein. „Unser ganzes eigenes Sein sagt uns doch, dass wir uns weder selbst gemacht haben noch selbst machen können. Dass wir voneinander und letzten Endes alle miteinander von dem abhängig sind, was nicht in unseren Händen steht.“83 Ratzinger beschreibt das Bewusstsein dieser Abhängigkeit des Menschen von seinem Schöpfer als Erfahrung, „die zur metaphysischen Urerfahrung eines jeden Menschen gehört“84.

Diesen auf die moralische Schöpfungsordnung bezogenen Charakter des Gewissens beschreibt Ratzinger nun mit dem platonischen Begriff der ‚Anamnesis‘. Platon versteht unter diesem Begriff die Erinnerung der Seele an ihre unmittelbare Schau der Ideen vor ihrem Eintreten in den Körper.85 Ratzinger findet auch in Röm 2,14f das Motiv der Erinnerung und kann so den philosophischen Begriff der Anamnesis auf den paulinischen Gedanken des den Heiden ins Herz geschriebenen moralischen Gesetzes beziehen. „Die … ontologische Schicht des Phänomens Gewissen besteht darin, dass uns so etwas wie eine Urerinnerung an das Gute und an das Wahre (beides ist identisch) eingefügt ist; dass es eine innere Seinstendenz des gottebenbildlich geschaffenen Menschen auf das Gottgemäße hin gibt.“86 Ratzinger beschreibt diese „Anamnese des Ursprungs, die sich aus der gottgemäßen Konstitution unseres Seins ergibt“87, nicht etwa als ein inhaltliches Wissen von bestimmten Normen, sondern vielmehr als einen ‚inneren Sinn‘, „eine Fähigkeit des Wiedererkennens, sodass der davon angesprochene und inwendig nicht verborgene Mensch das Echo darauf in sich erkennt. Er sieht: Das ist es, worauf mein Wesen hinweist und hin will.“88 Der Mensch erinnert sich also gewissermaßen an einen ihm als Geschöpf vom Schöpfer eingeprägten Begriff des moralisch Richtigen. Er findet auf dem Grund seines Seins seine ursprüngliche, verschüttete Natur, die schöpferische Vernunft seines Seins.

Bei aller Bezogenheit auf den Schöpfer ist es nun aber wichtig, das Gewissen nicht selbst mit der Stimme Gottes im Menschen zu verwechseln. Eine solche Interpretation würde seine Unverletzlichkeit zwar auch klar herausstellen, kann aber sich widersprechende Gewissensentscheidungen bei verschiedenen Menschen nicht erklären: „Sagt denn Gott zu verschiedenen Menschen Widersprüchliches? Widerspricht Gott sich selbst? Verbietet er dem einen bis hin zur Martyriumspflicht, was er dem anderen erlaubt oder sogar gebietet?“89 Für Ratzinger erweist sich eine solche problembeladene Identifizierung von Gewissensurteilen mit der Rede Gottes als nicht schlüssig. Dagegen sagt er mit Bezug auf Robert Spaemann: „Das Gewissen ist ein Organ, kein Orakel. Es ist ein Organ, d.h.: es ist etwas uns Gegebenes, zu unserem Wesen Gehöriges, nicht etwas von außen Gemachtes.“90 Das Gewissen ist also nicht selbst die moralische Wahrheit, sondern ein Organ für diese Wahrheit, die von außen auf den Menschen zukommt. „Aber als Organ bedarf es des Wachstums, der Bildung und der Übung.“91 Mit Spaemann vergleicht Ratzinger die Bildung des Gewissens mit der Entwicklung der Sprache eines Menschen: „Der Mensch ist von sich selbst her ein sprechendes Wesen, und er wird es doch nur, indem er von anderen das Sprechen lernt.“92 Zwar ist die Sprachfähigkeit im Menschen angelegt, doch sie bedarf der Formung von außen. Analog verhält es sich mit der Gewissensbildung. Der Mensch ist für Ratzinger „von sich selbst her ein Wesen, das ein Organ des inneren Wissens um Gut und Böse hat. Aber damit er wird, was er von sich her ist, bedarf er der Hilfe der anderen: Das Gewissen bedarf der Formung und der Erziehung“93. Bleibt eine solche Erziehung aus, kann es zur Verkümmerung des Gewissens kommen, zur Unfähigkeit des Menschen, Schuld zu empfinden.94

Vor diesem Hintergrund wird nun auch deutlich, in welcher Hinsicht das Gewissen des Menschen fehlbar ist und warum ein Mensch in objektiver Hinsicht moralisch schlecht handeln kann, obwohl er seinem Gewissen folgt, also ‚nach bestem Wissen und Gewissen‘ handelt. Denn wenn das Gewissen nicht selbst als Stimme der moralischen Wahrheit, sondern nur als Organ für diese aufgefasst wird, kann es auch im Menschen verkümmert sein, sodass er in diesem Fall die moralische Wahrheit des Seins mittels seines Gewissens nicht zu vernehmen vermag. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass seine Handlung nicht dem moralischen Sollen des Seins gemäß ist und der Mensch sich objektiv schuldig macht, obwohl er nach seinem Gewissen gehandelt hat. „Es ist nie Schuld, der gewonnenen Überzeugung zu folgen – man muss es sogar. Aber es kann sehr wohl Schuld sein, dass man zu so verkehrten Überzeugungen gelangt ist und den Widerspruch der Anamnese des Seins niedergetreten hat. Die Schuld liegt dann woanders, tiefer: nicht in dem jetzigen Akt, sondern in der Verwahrlosung meines Seins, die mich stumpf gemacht hat für die Stimme der Wahrheit und deren Zuspruch in meinem Innern.“95

Der Mensch ist der Verkümmerung seines Gewissens allerdings nicht gänzlich schutzlos ausgeliefert, als ob er nur Opfer einer schlechten Erziehung wäre. Ratzinger betont nämlich in Anlehnung an Augustinus, dass für die moralische Erkenntnisgewinnung der Wille des Menschen eine große Rolle spielt. Augustinus sah es zwar nicht als Schuld des Menschen an, nicht im Besitz von Erkenntnis zu sein, sehr wohl aber, nicht nach dieser zu streben.96 „Ob hier etwas erkannt oder nicht erkannt wird, hängt immer auch vom Willen des Menschen ab, der Erkenntnis versperrt oder zur Erkenntnis führt.“97 Der Mensch ist nach Ratzinger also imstande, seine vorgegebene moralische Prägung durch seinen Willen entweder weiter zu entstellen oder aber zu reinigen.98 Auf diesem Wege entgeht Ratzinger einem Gewissens-Determinismus, der den Menschen als Opfer seiner Umwelt der Verantwortung für seine Taten entheben könnte.

Unterschiedliche Gewissensentscheidungen unterschiedlicher Menschen bedeuten folglich für Ratzinger auch nicht, dass es unterschiedliche Wahrheiten gäbe. Die Wahrheit ist nur eine einzige, und deshalb ist auch der „Weg des Gewissens, der Ausschau hält nach der Wahrheit und dem objektiv Guten … nur ein Weg, auch wenn er gemäß der Vielheit der Menschen und ihrer Situationen viele Gestalten hat.“99 Menschen können bei ihrer Suche nach der Wahrheit aufgrund ihres nicht hinreichend geformten Gewissens irren, die Wahrheit bleibt indessen immer dieselbe.

Ausgehend von diesen Überlegungen kann das Gewissen als konstitutiver Bestandteil der moralischen Vernunft des Menschen bezeichnet werden. Es ist das „Organ für die Wahrheit“100, mit welchem der Mensch die moralische Seite des Schöpfungslogos erkennen kann. Im Idealfall ist dann „die Sprache des Seins, die Sprache der ‚Natur‘, identisch mit der Sprache des Gewissens.“101 Ratzingers doppelpoliges Verständnis des Vernunftbegriffs tritt hier sehr deutlich hervor: Es gibt auf der einen Seite die Vernunft des Menschen als ‚Organ‘, auf der anderen Seite die Vernunft des Schöpfers als bleibende, übergeschichtliche Wahrheit, auf welche sich die Vernunft des Menschen bezieht.102

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