Kitabı oku: «Logos Gottes und Logos des Menschen», sayfa 7

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2.2.3. Notwendiges Leiden für die Wahrheit

Weil das Gewissen nach Ansicht Ratzingers das Organ für die moralische Wahrheit des Seins ist, kann es dem Menschen als ein objektiver Maßstab in moralischen Fragen dienen. Aufgrund dieser Objektivität fällt es nicht zusammen „mit den eigenen Wünschen und dem eigenen Geschmack; es fällt nicht zusammen mit dem, was das sozial Günstigere ist, mit dem Konsens der Gruppe, mit den Ansprüchen politischer und sozialer Macht.“103 Es generiert vielmehr Widerspruch gegen Lebensumstände, die der moralischen Vernunft der Wirklichkeit, die es dem Menschen zugänglich macht, zuwiderlaufen. So ist für Ratzinger ein Mann des Gewissens auch jemand, „der niemals Verträglichkeit, Wohlbefinden, Erfolg, öffentliches Ansehen und Billigung von Seiten der herrschenden Meinung durch den Verzicht auf Wahrheit erkauft.“104 Eine solche Haltung impliziert notwendigerweise eine Leidensbereitschaft für die Wahrheit: Der „Höhenweg zur Wahrheit, zum Guten ist nicht bequem. Er fordert den Menschen.“105 Denn als Mensch ist man nach Ansicht Ratzingers immer versucht, unter dem Vorwand der Gutmütigkeit etwa Bequemlichkeit oder gutes Ansehen der Wahrheit überzuordnen.106

Doch auch wenn die Option für die Wahrheit den Menschen mehr fordert als ihr Ignorieren, bleibt ihm nach Ratzinger keine wirkliche Wahl, denn mit der Unwahrheit kann der Mensch auf Dauer nicht glücklich werden. „[N]icht das bequeme Bleiben bei sich selbst erlöst ihn; darin verkümmert er und verliert sich.“107 Ganz im Gegenteil braucht der Mensch einen moralischen Maßstab, nach dem er sein Leben ausrichten kann, wie Ratzinger mit einem Verweis auf die seines Erachtens moralisch unterforderte Jugend feststellt.108 „Irgendwo steckt das im Menschen drin, dass er weiß: Ich muss gefordert werden und ich muss mich nach einem höheren Maß bilden und mich zu geben und zu verlieren lernen.“109 Der Mensch braucht das Herausgerissen-werden aus seinem nach Bequemlichkeit strebendem Eigenwillen hin zum ihn fordernden und leiden lassenden moralischen Logos, welcher der Wille des Schöpfers ist. Ratzinger folgt mit dieser Auffassung ganz seinem eingangs beschriebenen Verständnis der menschlichen Natur, die zwischen dem Eigenwillen des Menschen und dem Willen des Schöpfers angesiedelt ist.110

Wo der Mensch sich nun aber scheut, den unbequemen Weg der Wahrheit zu gehen, verfehlt er nach Ratzinger den Sinn seines Daseins, denn eine solche Leidverweigerung, die nichts anderes ist als die Verweigerung seiner eigenen Kreatürlichkeit, „ist letzten Endes die Verweigerung der Liebe selbst, und das ruiniert den Menschen.“111 Wieder kommt hier die enge Verbindung von Wahrheitsorientierung und Liebesfähigkeit bzw. Beziehungsfähigkeit des Menschen zur Sprache: Ohne die Ausrichtung des Menschen an der moralischen Wahrheit ist ihm auch die Fähigkeit der Liebe verwehrt; die Verweigerung der Wahrheit impliziert die Verweigerung der Liebe. Weil Leben und Leiden für Ratzinger untrennbar zusammengehören, ist Leidflucht für ihn außerdem identisch mit Lebensflucht.112

Seine Erfüllung findet der Mensch also nicht in der Loslösung von der moralischen Vernunft des Seins zugunsten seiner subjektiven Interessen, sondern im Gegenteil durch den Aufbruch zur Wahrheit, im Hören auf die Stimme seines Gewissens. „In der Bergwanderung des Guten entdeckt er immer mehr die Schönheit, die in der Mühsal der Wahrheit liegt und dass gerade sie für ihn das Erlösende ist.“113 Das Erlösende besteht dabei gerade in der Selbstlosigkeit der Wahrheit, denn diese führt den Menschen über seine Subjektivität hinaus; sie macht ihn frei von der Abhängigkeit vom eigenen Geschmack und von der herrschenden Meinung.

Die durch das Gewissen in der Wirklichkeit vorgefundene Wahrheit ist für den Menschen also nicht primär eine Einschränkung, sondern wirkt vielmehr erlösend und befreiend. „Freiheit und Bindung werden hier, im Innersten menschlichen Wesens, identisch.“114 Denn die moralische Vernunft der Wirklichkeit ist gleichzeitig der Wille des Schöpfers und dieser Wille „ist für den Menschen nicht eine fremde, von außen kommende Gewalt, sondern die Richtung seines Wesens.“115 Die Bindung des Eigenwillens des Menschen an die moralische Vernunft, an den Willen des Schöpfers, führt den Menschen zu seiner wahren Natur und somit zur wahren Freiheit.116

2.2.4. Das Ausstrecken des Gewissens auf den Erlösungsglauben hin

Diese im Gewissen und damit im moralischen Vernunftvermögen des Menschen angetroffene Erkenntnis der moralischen Schöpfungsordnung wird von Ratzinger zunächst einmal unabhängig von der Glaubensentscheidung des Menschen gedacht. Jeder Mensch kann also nur mittels seines moralischen Vernunftvermögens, im Hören auf die Stimme seines Gewissens, die moralische Vernunft des Schöpfers in der Wirklichkeit vernehmen. Wie soeben erläutert, bedeutet diese dem Menschen einsehbare Wahrheit aber einen unglaublichen Anspruch an ihn und sein Handeln. Denn sie zwingt ihn über sich selbst hinaus, über seinen Egoismus und seine Konformität in den Raum des ‚objektiv‘ moralisch Vernünftigen, in den Raum der objektiven Wahrheit. Das Gewissen ist deshalb eben nicht die Bestätigung der menschlichen Subjektivität, sondern der Richter über den Menschen. Dies aber führt Ratzinger zufolge dazu, dass es den Menschen im Falle seines Verstoßes gegen die moralische Vernunft schuldig spricht: Der Mensch muss fortan mit einem schlechten Gewissen leben. Dies ist ihm jedoch auf die Dauer unerträglich, und so wird er dieser Situation zu entrinnen versuchen, indem er die Stimme seines Gewissens fortan ignoriert. Die Fähigkeit des Menschen, Schuld wahrzunehmen, verkümmert dann, was nach Ansicht Ratzingers zur Verhärtung und inneren Erkrankung des Menschen führt.117 „Dieses Abstumpfen des Gewissens ist unsere große Gefahr. Es erniedrigt den Menschen.“118

Das Einzige, was den Menschen aus diesem Dilemma befreien kann, ist der erlösende Freispruch von seiner Schuld. Der Mensch sehnt sich laut Ratzinger deshalb danach, „dass der objektiv gerechte Schuldspruch des Gewissens und die daraus folgende zerstörerische innere Not nicht das Letzte seien, sondern dass es eine Vollmacht der Gnade gebe, eine Kraft der Sühne, die die Schuld verschwinden lässt und Wahrheit erst wirklich erlösend macht.“119 In diesem Gedanken Ratzingers wird eine innere logische Verbindung zwischen moralischem Logos Gottes und christlicher Erlösungslehre deutlich: Hier zeigt sich für Ratzinger, „wie die Anamnese des Schöpfers sich in uns ausstreckt auf den Erlöser hin und jeder Mensch ihn als Erlöser zu begreifen vermag, weil er auf unsere innerste Erwartung antwortet.“120

Der Mensch findet Ratzinger zufolge also mittels seines Vernunftvermögens den moralischen Logos des Schöpfers, wird aber aufgrund des Anspruchs dieses Logos über denselben hinaus verwiesen auf den liebenden, vergebenden Zuspruch ebendieses Logos. Dieser liebende Zuspruch liegt jedoch außerhalb der Reichweite der moralischen Vernunft des Menschen, etwa vergleichbar mit der Begrenzung seiner naturwissenschaftlichen Vernunft, die ja auch selbst über ihre Methode hinausweist. Um wirklich moralisch handeln zu können, ist der Mensch in seiner moralischen Vernunft im Letzten auf den Glauben an die liebende und somit erlösende Zuwendung des Schöpfers angewiesen. Denn der Mensch kann das ‚Joch der Wahrheit‘ (vgl. Mt 11,30) nach Ansicht Ratzingers nur tragen, wenn dieses Joch für ihn durch die Gewissheit leicht geworden ist, dass „die Wahrheit kam, uns liebte und unsere Schuld in ihrer Liebe verbrannte. Erst wenn wir dies von innen her wissen und erfahren, werden wir frei, die Botschaft des Gewissens angstlos und freudig zu hören.“121

Anders formuliert kann man sagen: Wahrheit ohne Liebe erlöst den Menschen nicht. Seine moralische Vernunft gibt ihm die Einsicht in die Wahrheit und die damit verbundene Einsicht in seine Schuld; die Erlösung von dieser Schuld aber kann ihm nur durch Liebe zuteil werden. Die Einsicht in die Liebe aber, in die vergebende und erlösende Zuwendung der schöpferischen Vernunft, kann ihm sein moralisches Vernunftvermögen, sein Gewissen, allein nicht geben. Es kann ihm lediglich seine Abhängigkeit von der Wahrheit vor Augen führen und ihn so auf das existentielle Bedürfnis verweisen, von dieser Wahrheit auch geliebt zu sein. Durch die Vernunft der Schöpfungs-Anamnese streckt sich der Mensch also zum Erlösungsglauben hin aus; er sieht ein, dass er der erlösenden Liebe durch die Wahrheit bedarf. „Der Mensch ist abhängig – das ist seine primäre Wahrheit. Weil es so ist, kann nur die Liebe ihn erlösen, weil nur sie Abhängigkeit in Freiheit umwandelt.“122

So kann Ratzinger auch sagen, dass ‚nach dem Gewissen zu leben‘ für den Menschen bedeutet, dem „Ruf auf Glaube und Liebe hin“123 zu folgen. Man kann hier eine Wechselbeziehung zwischen moralischer Vernunfteinsicht und Glaube feststellen: Die moralische Vernunft streckt sich im Gewissen auf den Glauben hin aus, während dieser durch den Erlösungsgedanken die moralische Vernunfteinsicht für den Menschen erst möglich und im konkreten Leben erträglich macht und das Gewissen so vor seiner Abstumpfung schützt. Denn die „Fähigkeit, Schuld wahrzunehmen, ist dann erträglich und entfaltet sich, wenn es auch die Heilung gibt.“124 Nur in der durch Christus vermittelten vergebenden Liebe der Wahrheit ist es dem Menschen möglich, sich trotz aller Verfehlungen immer wieder an dieser Wahrheit auszurichten und die Stimme seines Gewissens immer wieder neu als Maßstab seines Handelns anzunehmen.

Aufgrund dieser Wechselbeziehung von moralischem Vernunftvermögen des Menschen und seinem Glauben an die erlösende Liebe durch die Wahrheit kann Ratzinger die moralische Vernunft eines Menschen als Maßstab für seinen christlichen Glauben ansehen. Die Offenheit des Gewissens ist für ihn letztlich gleichbedeutend mit der inneren „Zugehörigkeit zu Christus“125.

Die moralische Vernunft als ‚Organ‘ des Menschen für den Logos Gottes ist, wie gesehen, laut Ratzinger verwiesen auf geschichtliche Formung. „Auch die Vernunft … ist ein Organ und nicht ein Orakel. Auch sie bedarf der Übung und der Gemeinschaft.“126 Diese Geschichtsbezogenheit menschlicher Vernunft im Denken Ratzingers wird im Folgenden behandelt. Dabei wird deutlich, dass bei allem Gewicht, das er auf den Bezug der Vernunft zu einer übergeschichtlichen Wahrheit legt, die Geschichte und die Tradition bei Ratzinger nach wie vor eine große Rolle spielen.

2.3 Traditionen: Die moralische Vernunft in der Geschichte
2.3.1. Der Mensch als geschichtliches Wesen

Menschsein ist für Ratzinger untrennbar mit Geschichtlichkeit verbunden. Diese gründet seiner Ansicht nach in erster Linie in der leiblichen Verfasstheit des Menschen. Denn „wenn der reine Geist streng für sich seiend gedacht werden kann, so besagt Leibhaftigkeit das Abstammen voneinander: Die Menschen leben in einem sehr wirklichen und zugleich in einem sehr vielschichtigen Sinn einer vom andern.“127

Diese durch seine Leiblichkeit bedingte Bindung des Menschen an Geschichte und Gemeinschaft wirkt sich nun ebenfalls auf seinen Geist aus. Denn sie bedeutet für den Menschen, welcher selbst „Geist nur im Leib und als Leib ist, dass auch der Geist – einfach der eine, ganze Mensch – zutiefst von seinem Zugehören zum Ganzen der Menschheit … gezeichnet ist.“128 So sind in jedem Menschen nach Ratzinger „die Vergangenheit und Zukunft der Menschheit mit anwesend“129, denn er ist in ihre geschichtliche Mitte hineingeboren und sein Denken ist mit dem Denken der gemeinsamen Menschheitsgeschichte untrennbar verwoben.

Ratzinger macht diese Untrennbarkeit am Beispiel der Sprache deutlich: Als Mensch bin ich in meinem geistigen Leben vollkommen auf sie angewiesen, mein „Menschsein realisiert sich im Wort, in der Sprache, die meine Gedanken prägt und mich einstiftet in die mitmenschliche Gemeinschaft, die mein eigenes Menschsein prägt.“130 Dabei ist die Sprache aber alles andere als eine private und neue Erfindung des jeweiligen Menschen: „Sie kommt von weit her, die ganze Geschichte hat an ihr gewoben und tritt durch sie in uns ein als die unumgängliche Voraussetzung unserer Gegenwart, ja, als ein beständiger Teil davon.“131 Die Sprache schaffe ich als Mensch nicht selbst; sie wird mir geschichtlich vermittelt und verbindet mich deshalb mit der gemeinsamen Geschichte der Menschheit. Deshalb ist sie für Ratzinger „Ausdruck der Kontinuität des menschlichen Geistes in der geschichtlichen Entfaltung seines Wesens.“132

Der einzelne Mensch kann nun nicht einfach unabhängig von dieser geschichtlichen Geistesentwicklung der Menschheit betrachtet werden. Die geschichtliche Verfasstheit gehört für Ratzinger vielmehr untrennbar zum Wesen des Menschen hinzu.133 Deshalb kann man seiner Ansicht nach nicht einfach „ein zeitlos währendes Wesen dem Wechsel und der Zufälligkeit der Geschichte gegenüberstellen, ohne den Menschen von Grund auf misszuverstehen, da doch Geschichte und Wesen bei ihm ineinanderfallen und das eine nur im anderen wirklich ist.“134

Die geschichtliche Prägung des menschlichen Wesens impliziert, dass der Mensch nie in ungeschichtlich gedachter Freiheit beliebig über sein Wesen verfügen kann. „Er ist selbst nur in der Spannung von Vergangenheit über Gegenwart in Zukunft hinein.“135 Zwar kann der Mensch die Geschichte im Rahmen seiner Möglichkeiten beeinflussen und ihr sozusagen seinen persönlichen Stempel aufdrücken, aber er kann sich doch nicht unabhängig von ihr denken, er kann sie „nicht aufsprengen und verlassen in ein vermeintlich reines Wesen hinein, das eine Utopie ist, in der er sich selbst verkennt.“136

In einer scharfen Abgrenzung vom Deutschen Idealismus charakterisiert Ratzinger die dort seiner Auffassung nach versuchte Loslösung des Menschen von seiner Geschichtlichkeit dementsprechend als „die bei Fichte zu ihrer höchsten Übersteigerung gekommene idealistische Verkennung des menschlichen Wesens, so als wäre jeder Mensch ein autonomer Geist, der sich ganz aus eigener Entscheidung auferbaut und ganz das Produkt seiner eigenen Entschlüsse ist – nichts als Wille und Freiheit, die nichts Ungeistiges duldet, sondern sich ganz in sich selbst gestaltet.“137 Diese Auffassung des Menschen als einem von jeglichen geschichtlichen Bindungen losgelösten, also ‚absoluten‘, schöpferischen ICH, läuft für Ratzinger auf die Gleichsetzung des Menschen mit Gott hinaus.138 Durch diese Folgerung, die Ratzinger bei Fichte konsequent vollzogen sieht, widerspricht sich die idealistische Auffassung aber seiner Ansicht nach selbst, denn „der Mensch ist nicht Gott: Um das zu wissen, braucht man im Grunde nur selber ein Mensch zu sein.“139

Ganz im Gegenteil zum idealistischen Denken erfährt man sich laut Ratzinger als Mensch vielmehr jeden Tag aufs Neue als ein „Wesen der Abhängigkeiten … das gar nicht isoliert gedacht werden kann, weil die Abhängigkeit, das Mitsein mit anderen sozusagen in seine Definition hineingehört.“140 Ratzinger weiß in diesem Zusammenhang auch um die häufig zu idealistisch ausgerichtete christliche Metaphysik, die seines Erachtens „längst vor Fichte eine allzu starke Dosis von griechischem Idealismus in sich aufgenommen“141 hatte, sodass sie geschichtliche Aussagen des Glaubens wie Erbsünde und Erlösung aufgrund ihres ungeschichtlichen Denkens nicht mehr erklären konnte.142

Es ist also für Ratzinger gerade nicht so, „dass jeder Mensch vom Nullpunkt seiner Freiheit aus sich ganz neu entwirft, wie es im deutschen Idealismus erschien.“143 Vielmehr ist jeder Mensch „geprägt von einer Gemeinschaft, die ihm Formen des Denkens, des Fühlens, des Handelns vorgibt. Dieses Gefüge von Denk- und Vorstellungsformen, das den Menschen vorprägt, nennen wir Kultur.“144 Zur Kultur gehören neben der Sprache für Ratzinger z.B. auch die jeweilige staatliche Verfassung einer Gesellschaft, das Recht und die moralischen Auffassungen, die Kunst sowie der religiöse Kult.145 All dies bildet seines Erachtens den unhintergehbaren Ausgangspunkt menschlichen Denkens. Die Gegenwart des Menschen ist nicht von seiner Geschichte, den Erfahrungen seiner Vergangenheit, trennbar.

Dies wird auch in Ratzingers Verständnis von ‚Gedächtnis‘ deutlich: „Zeit wird für uns als eine in allem Vergehen zusammenhängende Wirklichkeit nur durch das Gedächtnis wahrnehmbar. Im Gedächtnis ist Vergangenheit als Gegenwart verwahrt. Was überhaupt Gegenwart für uns bedeutet, hängt von unserem Gedächtnis ab“146. So manifestiert sich der Geist des Menschen gerade „in der Überschreitung der Zeit, des Augenblicks: Geist ist grundlegend Gedächtnis – Einheit stiftender Zusammenhang über die Grenze der Augenblicke hinweg.“147

Ausgehend von diesem Gedanken ist es logisch, dass auch die Zukunft des Menschen von seiner Geschichte beeinflusst wird: „Die Zukunftsfähigkeit des Menschen hängt davon ab, welche Wurzeln er hat, wie er Vergangenheit in sich aufzunehmen und von da aus Maßstäbe des Handelns und des Urteilens zu bilden vermag.“148 Hier zeigt sich deutlich die Bedeutung der Geschichte des Menschen, die Bedeutung seiner jeweiligen Kultur, für sein moralisches Denken und Handeln, welches ja ein auf die Zukunft gerichtetes Denken ist. Die moralische Vernunft des Menschen kann für Ratzinger folglich keine geschichtslose Vernunft sein; sie kann sich nicht an der jeweiligen Geschichte und kulturellen Tradition vorbei, nicht unabhängig von ihr entwickeln. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden näher erläutert.

2.3.2. Das moralische Wissen der Traditionen

Ausgehend von den vorhergehenden Einsichten in die geschichtliche Verfasstheit des Menschen kann nun gesagt werden, dass menschliche ‚Tradition‘ sich für Ratzinger aus dem Zusammenspiel von Gedächtnis und Sprache in einem gemeinschaftlichen Traditionssubjekt aufbaut. Denn wie gesehen, wirkt Gedächtnis seiner Ansicht nach „sinngebend, indem es Einheit stiftet, das Vergangene in Gegenwart vermittelt und zugleich Ausgriff auf Zukunft vollzieht.“149 Ebenso verhält es sich mit der Sprache: „Sie erfüllt ihre einheitsstiftende Funktion wesentlich als vorgegebene, als empfangene; Bedingung ihrer Wirksamkeit ist ihre Unbeliebigkeit, ihr Traditionscharakter.“150 Gleichzeitig aber ist sie offen für zukünftige Weiterentwicklung und Weiterbildung der Tradition.151 Als drittes Element neben Gedächtnis und Sprache braucht Tradition ein Traditionssubjekt, das sie im Normalfall in der jeweiligen Sprachgemeinschaft findet.152 „Sie ist nur möglich, weil viele Subjekte im Zusammenhalt gemeinsamer Überlieferung so etwas wie ein Subjekt werden.“153 Wir sind als Menschen von unserer Herkunft her in die Geschichte eines bestimmten Traditionssubjekts eingegliedert, „sodass wir unausweichlich an Segen und Fluch dieser bestimmten Geschichte beteiligt sind.“154

Wie schon angedeutet, kann die moralische Vernunft des Menschen nach Ansicht Ratzingers nun nicht unabhängig von seiner geschichtlichen Tradition gedacht werden. Dieser Gedanke ist auch von daher logisch, dass Ratzinger das moralische Vernunftvermögen des Menschen als ein ‚Organ‘ bezeichnet hat155, dessen Ausbildung und Wachstum innerhalb von Geschichte und Gemeinschaft des Menschen erfolgen muss. „Denn auch die praktische Vernunft braucht das Bürgnis des Experiments, aber eines größeren, als es in Laboratorien geleistet werden kann: Sie braucht das Experiment des bestandenen Menschseins, das nur aus der bestandenen Geschichte selbst kommen kann.“156 Menschliches Denken und „die Bewährung des Lebens sind in einer Wechselbeziehung ineinander verschränkt, in der auf keine der beiden Seiten zu verzichten ist.“157

Aufgrund dieser ihrer Bezogenheit auf geschichtliche Erfahrung ist die moralische Vernunft des Menschen auf geschichtliche Räume verwiesen, in denen sie sich bewähren kann. Sie ist nach Ratzinger „immer eingeordnet in den großen Erfahrungs- und Bewährungszusammenhang ethisch-religiöser Gesamtvisionen.“158 Moralische Werte sind für Ratzinger folglich aufs Engste mit der Kultur verknüpft, in die der einzelne Mensch hineingeboren wird. Kultur ist für ihn in dieser Hinsicht „die geschichtlich gewachsene Ausdrucksgestalt der das Leben einer Gemeinschaft prägenden Erkenntnisse und Wertungen.“159 Moralische Werte existieren nicht einfach nackt und abstrakt, sondern immer in Abhängigkeit von geschichtlicher Tradition, in geschichtlichen Bewährungszusammenhängen: „Geschichtlich betrachtet, ist Moral gerade nicht der Bereich der Subjektivität, sondern von der Gemeinschaft verbürgt und auf die Gemeinschaft bezogen.“160 Sie ist kein „abstrakter Kodex von Verhaltensnormen, sondern sie setzt einen gemeinschaftlichen way of life voraus, in dem sie ihre Evidenz und ihre Vollziehbarkeit empfängt.“161 So ist moralische Vernunft auf ein ‚Wir‘ mit all seinen geschichtlichen Erfahrungen angewiesen, „in denen nicht nur Berechnung des Augenblicks spricht, sondern Weisheit der Generationen zusammenströmt.“162 Moralische Vernunft hat ihren Ort in den geschichtlichen Kulturtraditionen der Menschheit.

Laut Ratzinger wusste schon Platon um diese Verbindung von moralischer Vernunft und Geschichte, denn sein Denken zielt Ratzinger zufolge nicht etwa auf eine „Philosophie der reinen Vernunft“163, sondern darauf, die Vernunft dahin zu führen, „sich von jenen Grundüberlieferungen her neu zu finden, die wahre Gemeinschaft ermöglichen.“164 Auf dem Boden dieser überlieferten Weisheit war Platons Denken für Ratzinger nicht etwa auf abstrakte Spekulation, sondern vielmehr auf „die Wiederermöglichung der Polis, die Neugründung der Politik“165 ausgerichtet. Platon wollte also die in der Gemeinschaft bewährten und tradierten Werte wieder für das geordnete Leben in der Gemeinschaft fruchtbar machen. Diese geschichtliche und traditionsorientierte Ausrichtung des Platonischen wird dort Ratzinger zufolge völlig verkannt, wo Platon „als individualistischer und dualistischer Denker eingestuft wird, der das Irdische verneint und die Menschen zur Flucht ins Jenseits anleitet.“166 Im Gegensatz zum Deutschen Idealismus wird der platonischen Philosophie von Ratzinger also eine angemessene Geschichtsbezogenheit bescheinigt.

Ratzinger ist nun allerdings weit davon entfernt, moralische Vernunft in Geschichte aufzulösen bzw. ihre Erkenntnis ganz auf den inneren Raum der geschichtlichen Wirklichkeit zu beschränken. Geschichtliche Tradition ist zwar der Ort, an dem sich moralische Vernunft in menschlicher Gemeinschaft bewährt und sich das Organ des menschlichen moralischen Vernunftvermögens auf diese Weise ausbildet; die moralische Wahrheit, auf die die Vernunft des Menschen dabei Bezug nimmt und die in den menschlichen Kulturen tradiert wird, ist aber keine geschichtlich erfundene, sondern eine geschichtlich gefundene Wahrheit: Die tradierte Wahrheit transzendiert die Geschichte selbst.167 Es handelt sich dabei um die übergeschichtliche moralische Wahrheit des Logos Gottes, die der Mensch in seinem Gewissen und mittels der moralischen Weisung der Natur erfassen kann.168

Genau diese moralische Wahrheit ist es, auf die sich der Mensch in seiner geschichtlich verfassten moralischen Vernunft beziehen kann und die sich dann in geschichtlichen Zusammenhängen bewähren muss. Laut Ratzinger ist uns das Wissen um diese moralische Wahrheit heute in den großen Traditionen der Menschheit erhalten geblieben. Denn „nahezu der ganzen vormodernen Menschheit“ war seiner Ansicht nach die Überzeugung gemeinsam, „dass im Sein des Menschen ein Sollen liegt; die Überzeugung, dass er Moral nicht selbst aus Zweckmäßigkeitsberechnungen erfindet, sondern im Wesen der Dinge vorfindet.“169 Zwar gibt es bezüglich dieses Wissens der Kulturen Unterschiede im Detail, „aber viel stärker als die Unterschiede ist das große Gemeinsame, das sich als Urevidenz menschlichen Lebens darstellt: die Lehre von objektiven Werten, die sich im Sein der Welt aussagen; der Glaube, dass es Haltungen gibt, die der Botschaft des Alls entsprechend wahr und darum gut sind und dass ebenso andere Haltungen, weil dem Sein widersprechend, wirklich und immer falsch sind.“170

Ratzinger richtet sich damit gegen die Auffassung eines Kulturrelativismus, der die moralischen Aussagen unterschiedlicher Kulturen als miteinander unvereinbar versteht. Dem neuzeitlichen Menschen wird seiner Ansicht nach eingeredet, „dass all dies menschliche Erfindungen seien, deren Ungereimtheiten wir nun endlich durchschauen und durch vernünftige Erkenntnis ersetzen könnten.“171 Eine solche Diagnose aber ist für Ratzinger extrem oberflächlich.172 Tatsächlich ist es seiner Ansicht nach so, „dass die Grundintuition über den moralischen Charakter des Seins selbst und über den notwendigen Zusammenklang des menschlichen Wesens mit der Botschaft der Natur allen großen Kulturen gemeinsam ist und dass daher auch die großen moralischen Imperative gemeinsam sind.“173 In den großen kulturellen Traditionen der Menschheit werden Ratzinger zufolge also nicht etwa ausschließlich zufällig geschichtlich entstandene Wertvorstellungen überliefert, sondern ein immer gleiches Wissen, das das rein Innergeschichtliche übersteigt, weil es sich auf die übergeschichtliche Wahrheit der moralischen Vernunft der Wirklichkeit bezieht, ermöglicht durch die „Transparenz der Schöpfung, die ihre Weisungen durchscheinen lässt.“174

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