Kitabı oku: «Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots», sayfa 7

Yazı tipi:

Le salon d’une réception – Annäherung zwischen Gilles und „ihr“

Zu den für die Hintergrundhandlung wichtigen Schauplätzen in Paris gehören auch jene Räumlichkeiten eines Empfangs, in denen Gilles auf „sie“ trifft und sich spontan für sie begeistert.1 Sie durchschreitet den Salon, der „[…] périlleux comme un étang gelé […]“2 ist und sie zwingt, ihre Bewegungen und Gesten zu kontrollieren. Die Erzählstimme lässt den „Parcours“ an einer zweiflügeligen gläsernen Tür beginnen und an dem den Kamin verdeckenden Buffet enden. Bezeichnenderweise trifft Gilles in der Nähe der gläsernen Tür auf „sie“, um ihr – […] devant le grand miroir qui répétait la scène […] – zu erklären: „Je vous tiens […] je ne vous lâche plus.“3 Nachdem „sie“ sich für eine Weile absentiert hat, kehrt sie in Begleitung François’ zurück, den sie Gilles vorstellt. Gilles hat den Eindruck, als ob „sie“ François „[…] comme une évidence, un rempart“4 betrachte, und er fragt sich, wovor sie Angst haben mag. Er spricht sie dann „[à] l’abri de l’immense miroir qui reflétait la scène“ mit den Worten „Vous êtes belle […]“ an. Der Spiegel wacht wie eine „[…] tour de garde solitaire […]“ über die Gesellschaft, und das Gewirr von Stimmen hüllt wie ein unsichtbares, durchsichtiges Gewebe – une toile diaphane – alle Gäste ein, die auf diese Weise „[…] opaques, résistants, inaccessibles […]“ werden. Gilles wendet sich nun erneut an „sie“ mit den Worten: „[…] vous êtes belle […] l’êtes-vous plus de ce côté ou de l’autre, je ne sais pas.“ Auf ihre Frage: „L’autre côté de quoi?“ antwortet er: „Du miroir.“5 Als er sie dabei beobachtet, wie sie sich im Spiegel betrachtet, gewinnt er den Eindruck „[qu’] [i]l émanait d’elle quelque chose d’irréel, d’étranger, qu’il ne reconnaîtrait nulle part“ und er ergänzt seine Antwort mit den Worten: „De l’autre côté […] j’y serais entré, avec vous.“6 Ausgerechnet Gilles, der Theaterregisseur, reagiert damit auf die von „ihr“ erzeugte, durch die Virtualität des flüchtigen Spiegelbildes verstärkte Ausstrahlung des spielerisch Unwirklichen, indem er den Wunsch äußert, mit ihr gemeinsam durch einen Schritt „hinter den Spiegel“ in die Wirklichkeit zu gelangen. Damit wird jedoch auch verständlich, dass, nachdem François gegangen ist, zunächst „[…] le refuge d’un miroir […] les renvoyait chacun à sa solitude“7. Erst nachdem sie zu den gläsernen Türen zurückgekehrt sind, wenden sie ihren Blick in die Zukunft, indem „sie“ ihm verspricht, sein Theaterstück, in dem sie eine Rolle übernehmen soll, zu lesen.8

So erklärt sich, dass die Erzählstimme im Rückblick auf die theaterhaft gespiegelte Szenerie des Abends nur fragmentarische Erinnerungen an sich rasch verflüchtigende Eindrücke – [d]es débris d’une soirée ruinée par l’éphémère […] – 9 notiert. Erkennbar ist jedoch auch, dass aus der Sicht Gilles’ zumindest etwas Konkretes, ein Versprechen, Bestand haben mag.10

Le café de l’avenue calme und Hugos Wohnung – Hugos Abschied von „ihr“

Als „sie“ und Hugo kurz vor ihrer Abreise nach Brasilien noch einmal im „café de l’avenue calme“ – ihrem üblichen Treffpunkt – zusammenkommen, sprechen sie zunächst über die „réunions du dimanche“ des Quartetts, die auf „ihre“ Anregung zurückgehen.1 Als Hugo „ihr“ gesteht, dass er nur „ihretwegen“ daran teilnehme,2 antwortet sie sinngemäß, dass dies für die anderen genauso gelte.3 Im Übrigen erklärt „sie“, dass „sie“ der „regards de biais“, konkret: der ihm, Hugo, geltenden Verdächtigungen ihres Mannes François, der amusierten Beobachter­attitude ihres Bruders Vincent und seiner, Hugos, zur Verschleierung seiner Verliebtheit vorgetäuschten Kälte überdrüssig geworden sei und die sonntägliche Veranstaltung, die es nicht länger geben werde, für reine Heuchelei halte.4 Nicht ein einziges Mal habe „sie“ den Eindruck gehabt, dass er in „sie“ verliebt gewesen sei, nie habe er mit „ihr“ aufbrechen (partir) wollen und sich für „sie“ Zeit genommen. Als Hugo erwidert, dass „sie“ nie bereit gewesen sei, das Ende eines Nachmittags mit ihm in seiner Wohnung zu verbringen, fragt „sie“ ihn, ob er beim „Verliebtsein“ sofort „an das Bett denke“.5 Als Hugo auf „ihre“ Frage, ob er jeden Sonntag mit dieser Hoffnung gekommen sei, mit „Nein“ antwortet, demütigt und verletzt sie ihn mit schneidenden Worten.6 Völlig überrascht, aber zugleich sehr glücklich reagiert Hugo, als „sie“ ihm in eben diesem Moment vorschlägt: „C’est bien ça que tu veux, alors écoute, viens, emmène-moi chez toi.“7 In seiner Wohnung, so scheint es, beglückt sie ihn, indem sie sich ihm hingibt und ihm sagt, ihn zu lieben, doch bereits beim Abschiedskuss wird ihm klar, dass „[c]ette rencontre était faite pour s’effacer et s’il la retenait, ce serait pour subir l’humiliation brûlante de s’être laissé duper.“8 Und als sie bei einem – angeblich unter Zeitdruck getätigten – Anruf am Tag danach den Eindruck erweckt, als wolle sie das Geschehene ungeschehen machen, gelangt Hugo, wie die von der Erzählinstanz gewählte Form der internen Fokalisierung eindeutig zu erkennen gibt, zu einer für ihn ernüchternden Schlussfolgerung:

Beaucoup à faire, songeait-il à présent, préparer des bagages pour deux semaines ne dure pas des journées entières, et elle n’avait rien d’autre à faire. Tout était faux, depuis le début, le hasard du café n’était pas un hasard, elle l’avait attiré comme les sirènes ensorcellent les marins par leur chant, faux, la musique, tout, jusqu’à la visite chez lui, il avait vu une victoire, ce n’était que défaite, la reddition totale, après lui avoir donné cela, elle ne devait plus rien, elle avait réglé ses dettes avant de partir. Quelles dettes? Il n’en avait aucune idée. La route était barrée et derrière l’éboulis attendait le néant.9

So wird Hugos Wohnung zu einem Ort des Betrugs und des Selbstbetrugs. Aus der von ihm erhofften Erwiderung seiner Liebe wird eine ihn demütigende Pervertierung intimer Nähe. Bereits im Moment „ihres“ übereilten Abschieds steigen Vorahnungen einer abgrundtiefen, unendlichen Leere in ihm auf,10 die sich wie ein düsterer Schatten über sein Leben legen.

Reisebereitschaft der handelnden Figuren

Als Gilles im Gespräch mit „ihr“ erstaunt feststellt, dass „sie“ sich innerhalb von drei Tagen entschlossen habe, „au bout du monde“ zu reisen, erwidert sie kühl, dass sie für diese Entscheidung nur eine Viertelstunde benötigt habe und es übertrieben sei, Brasilien mit dem „Ende der Welt“ gleichzusetzen.1 Die Erzählstimme lenkt das Leserinteresse somit bereits zu Beginn des ersten Kapitels – Allegro – auf „ihre“ Bereitschaft zum Aufbruch. Daran anknüpfend greift sie das Thema zu Beginn des zweiten Kapitels – Andante con moto – erneut auf, indem sie Vincents Schwester das an Hugo gerichtete Wort „Partir“ in den Mund legt und sodann ihrerseits hinzufügt: „[…] et dans son regard bleu océan déferlaient les vagues du voyage, du départ, de l’exil.“2 Mit der dreiteiligen, als Klimax angelegten Aufzählung „[…] les vagues du voyage, du départ, de l’exil“ deutet die Erzählinstanz unzweideutig an, dass sich „ihr“ Wunsch nach Aufbruch nicht aus schlichter Reiselust, sondern aus dem Gefühl einer wie auch immer gearteten Gefährdung erklärt. Weiterhin an Hugo gewandt, fügt „sie“ hinzu, dass sie aus einem anderen Land – la ville d’Ys – 3 stamme, also einer sagenumwobenen bretonischen Stadt des 4./5. Jahrhunderts, die der Legende nach von Fluten verschlungen worden sein soll.4 Neben der erneut genannten Augenfarbe „bleu océan“ ist die Erwähnung der legendären „ville d’Ys“ zwar kein expliziter, aber doch ein eindeutiger, subtextuell vermittelter proleptischer Hinweis auf den Flugzeugabsturz über dem Atlantik, bei dem Vincents Schwester zu Tode kommen wird.

Von den drei anderen Mitgliedern des Quartetts ist Vincent, der einige Monate in der Millionenstadt Belem an der Mündung des Amazonas im Holzhandel gearbeitet hat, der einzige, der seiner Schwester bereits angeboten hat, ihn zu begleiten.5 Hugo antwortet auf „ihre“ Frage, ob er bereit sei, mit „ihr“ aufzubrechen, mit dem durch die überraschende Direktheit der Frage provozierten, reflexartig, aber nicht reflektiert hervorgebrachten Satz „Je partirais“, den er unter „ihrem“ ihn herausfordernden prüfenden Blick mit einem zwanghaft vorgebrachten „Vraiment“ bekräftigt.6 François reagiert auf „ihren“ Vorschlag „Partons“ eindeutig ablehnend, wobei sich die von ihm gesehenen Hindernisse „comme une chaîne de montagne“7 vor ihm auftürmen. Auch von Gilles wird „sie“ enttäuscht, als er ihr erklärt, dass er mit seiner Theatertruppe keine Tourneen unternehme, sondern immer in demselben Theater spiele.8

Dass Vincent, dessen vom lateinischen Verb „vincere“ abgeleiteter Name der ‚Siegende‘ bedeutet, angesichts seiner beruflichen Tätigkeit von der Erzählinstanz als flexible, reisefreudige Figur präsentiert werden kann, ist leicht nachvollziehbar. Gleichwohl mag es auf den ersten Blick überraschen, dass er auf die Einladung Gilles’ zu einem von ihm als Hommage an „sie“ verstandenen Wiedersehenstreffen zunächst mit entschiedener Ablehnung reagiert, die er folgendermaßen begründet: „Savez-vous une chose, Gilles? Elle avait horreur de ce qui restait, horreur des traces, de la durée, horreur du passé, mais surtout des écrits. Lui rendre hommage, c’est une idée ridicule, on ne l’emprisonne pas, il n’y a rien à ressaisir.“9

Aus der Sicht Vincents ist das von ihm entworfene Bild seiner Schwester positiv, insofern er suggeriert, dass eine Gedenkveranstaltung zu ihren Ehren der vergebliche Versuch wäre, sie im Rückblick klischeehaft auf eine bestimmte Rolle festzulegen und damit gleichsam ihrer Freiheit zu berauben. Für ihn steht fest, dass man damit einer Frau, die stets als nonkonformistische Außenseiterin gelebt hat, nicht gerecht wird. Gleichzeitig betont er durch das dreimal geäußerte „Elle avait horreur […]“10 ihren Abscheu und ihr Entsetzen vor allen Zeugnissen und Spuren der Vergangenheit. Damit gibt er jedoch auch seine Befürchtung zu erkennen, dass bei dem geplanten Treffen sein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester ans Licht kommen mag. Sein und seiner Schwester hohes Maß an „innerer Beweglichkeit“, das in beider Bereitschaft zum Inzest zum Ausdruck gelangt, steht durchaus im Einklang mit seiner anfänglichen Abwehr in seiner Reaktion auf die Initiative Gilles’. Dafür bedarf es weder psychologisierender noch moralisierender Erklärungen, sondern nur der Erinnerung daran, dass die Erzählinstanz den Schauplatz des Tabubruchs sicherlich bewusst nach Brasilien verlegt hat, um die Grenzen überschreitende Qualität der Handlung zu unterstreichen. So lässt die Erzählinstanz zu Beginn des Romans eine Vorstellung der Schwester Vincents entstehen, die in der Folge mehrfach durch ihr über einen Spiegel reflektiertes Auftreten, durch das sie sich genauerer Beobachtung und Einordnung entzieht, bestätigt und ergänzt wird.

In welchem Maße die Erinnerungen an die mit seiner Schwester in Brasilien verbrachte Zeit in Vincent nachwirken, vermittelt in besonders intensiver Weise die Beschreibung seiner Fahrt zu Gilles’ Haus am Meer.11 Die Erzählung wird in einer surrealistisch anmutenden Weise verschmolzen mit Rückblicken auf eine Autofahrt durch den brasilianischen Dschungel, bei der Vincent und seine Schwester in der Nähe eines Hafens eine Szenerie erleben, die, wie die großen Schwärme schwarzer und weißer Vögel „[…] qui s’apprêtaient au festin funèbre de leurs becs“12 signalisieren, durch eine Fülle von Gegensätzen gekennzeichnet ist: Exotische Farben unbekannter Spezies rufen Bewunderung hervor, der Anblick von Fäulnis und eiternden Wunden erregt Ekel. Auf der einen Seite wirkt das Marktgeschehen anziehend auf die Menschen, auf der anderen Seite locken Schlamm und Dreck die Vögel an. Die detaillierte Beschreibung des Nebeneinanders von Leben und Tod gipfelt in einem sich fast über eine ganze Seite erstreckenden Satzgefüge, in dessen Schlussteil Vincents Angst vor tödlicher Bedrohung zum Ausdruck gelangt:

[…] d’un côté la vie – une vie de masse et de grouillement […] une vie nue ni pire ni meilleure que d’autres mais dure et coincée entre deux grands espaces, la forêt et le fleuve […] d’un côté la vie et de l’autre la mort, les charognards présents, massés, serrés, les pattes engluées dans les boues rouges, à attendre, à guetter, le suivant, flottant parmi les eaux, prêts à partir le chercher.13

Die Schilderung der Erinnerungen Vincents an die morbide Atmosphäre des brasilianischen Dschungels wird von der Erzählinstanz nahtlos übergeleitet in die Beschreibung eines lebensgefährlichen Überholmanövers, bei dem Vincent – auf der Fahrt zu Gilles’ Haus am Meer – glaubt, eine seiner Schwester täuschend ähnliche Frau erkannt zu haben.14 Wenn in den Gedanken Vincents die Realität durch traumähnlich-halluzinatorische Zustände verdrängt wird, so macht dies deutlich, mit welcher Intensität die Schwester auch nach ihrem Tod – völlig unabhängig von räumlichen Veränderungen – für ihn präsent ist. Zugleich jedoch verbindet die Erzählinstanz mit Vincents Schwester Gedanken der Sterblichkeit und des Verfalls.

Die Sehnsucht Vincents nach Freiheit, Aufbruch und Weite manifestiert sich auch bei der Ankunft im Haus am Meer, als er in der Nähe der Kaimauer mit Gilles über den Kampf zwischen Land und Meer streitet:15

 C’est la terre qui l’emporte, Vincent.

 C’est l’eau.

 La terre, les constructions. Regardez les maisons, là où courait le fleuve, au siècle dernier, construire est finalement plus durable.

 Non, c’est détruire.16

Der kurze Redeausschnitt lässt die disparaten Standpunkte klar hervortreten. Gilles sieht sich durch den Prozess der Landgewinnung in seinem Glauben und Vertrauen auf die konstruktiven Kräfte des Menschen bestätigt und in seiner Suche nach Sicherheit und einem festen Grund ermutigt. Konsequenterweise hält er die schützende Bucht für „menschlicher“ als das bedrohlich wirkende Meer.17 Durch die Lage des Hauses mit seiner Nähe und seinem Abstand zum Meer ist Gilles prädestiniert, zwischen den extremen Positionen Vincents und François’ zu vermitteln. Während letzterer explizit erklärt: „Je n’aime pas la mer […]. Je ne l’avais pas revue, depuis.“18, fühlt sich Vincent von der Macht des Wassers und der unendlich anmutenden Weite des offenen Meers – le large – angezogen. Die unterschiedlichen Positionierungen der beiden letztgenannten Figuren korrespondieren mit ihren schon zuvor deutlich gewordenen Einstellungen zum Aufbruch.

Im Haus am Meer – Aufklärung und tragisches Ende eines Beziehungsdramas

Die Erzählinstanz nutzt das Treffen im Haus am Meer, um das zwischen den vier beteiligten Figuren entstandene Beziehungsdrama aufzuklären. Die Bedeutung von Raum und Bewegung ist dabei einerseits im Rückblick auf den Aufenthalt Vincents und seiner Schwester in Brasilien von Bedeutung, andererseits im Hinblick auf die von Hugo gewählte Art des Suizids.

Auf das in Brasilien offenbar gewordene und vollzogene inzestuöse Verhältnis zwischen Vincent und seiner Schwester wurde bereits verwiesen. Vincent bekennt sich zu dem Geschehenen gegenüber Hugo in einer umfangreichen Erklärung während eines Spaziergangs, der die beiden vom Strand zurück zu Gilles’ Haus führt.1 Für die Analyse ist entscheidend, ob und ggf. wie Vincent in seiner Erzählung einen Einfluss räumlicher bzw. den Raum prägender Faktoren auf das Geschehene geltend macht.

Vincent und seine Schwester befinden sich an einem Strand in Rio, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich ein Armenviertel befindet. Die aus den Favelas die Hügel hinab-steigenden ausgehungerten Kinder wirken auf die beiden „[…] comme des animaux sauvages pour bondir sur leur proie, mais leur proie, ce n’est qu’un peu de viande à manger, du pain, un peu de sel, n’importe quoi pour remplir le vide […]“2. Als Vincent und „sie“ einen ganz in Weiß gekleideten Mann erblicken, der soeben seinem Segelboot entstiegen ist, die Straße überquert und dann in der Masse der Armen verschwindet, vermuten beide, dass dies seinen Tod bedeutet. Eine Bestätigung haben sie indes nie bekommen. Und in genau diesem Moment setzt eine Entwicklung ein, die Vincent als eine Abfolge schicksalhaft vorbestimmter, unabwendbarer Ereignisse beschreibt:

La même idée nous habitait au même moment et, à quel point un geste peut paraître stupide quand on le dit, nous nous sommes pris la main. C’était la veille de son départ, Hugo. La suite était inévitable, inévitable depuis le commencement, la seule surprise était que ce ne soit pas arrivé plus tôt. Nous avons eu vingt-quatre heures ensemble […] vingt-quatre heures de vérité contre une vie de faux-semblants. Il ne sert à rien de se cacher les choses, tout finit par se découvrir et par arriver, les désirs les plus fous savent attendre leur heure, même le délire a de la patience.3

Unausgesprochen bleibt, weshalb sich Vincent und seine Schwester ihrer – wohl seit langem gespürten – intensiven Zuneigung füreinander in einem Augenblick voll bewusst werden, in dem sie das unmittelbare Nebeneinander von Armut und Reichtum, den Aufeinanderprall zweier Welten erleben. Insinuiert wird, dass der bezeichnenderweise weiß gekleidete und damit Reichtum und vermeintliche Unschuld verkörpernde Mann den hungrigen Kindern, die „[…] la faim mène à tout, au désespoir, au vol, au meurtre […]“, im Schmutz der Favelas zum Opfer fallen wird. Denn „[…] si quelqu’un s’interpose entre le pain et la faim […] il faut l’éliminer.“ (Hervorhebung H.H.)4 Dass das unmittelbare Erleben bzw. Erahnen sozialer Ungerechtigkeit und daraus resultierender Gewaltakte in Vincent und seiner Schwester als Beobachtern den Wunsch nach Schutz und Nähe, Geborgenheit und Liebe weckt, ist plausibel. Naheliegend ist jedoch auch ein durch das binnenreimähnliche phonetische Echo zwischen „le pain“ und „la faim“ hervorgerufener Bezug zwischen der instinkthaft-triebgesteuerten Handlung der qualvoll hungernden Kinder, die den in makellosem Weiß gekleideten Mann aus schierer Verzweiflung töten, und der sich am Strand zwischen den Geschwistern abspielenden Szene, in der sich in einem enttabuisierenden Ambiente ein über Jahre verdrängtes erotisch-sexuelles Verlangen – la faim – triebhaft Bahn bricht. Zur Geltung gelangt somit hier die im Werk Cécile Wajsbrots an vielen Stellen zu beobachtende Überzeugung, dass „…Räume und Raumkonstellationen immer auch handlungsauslösende oder -determinierende Faktoren [sind], und zwar allein schon wegen der in und zwischen ihnen stattfindenden Bewegungen“5.

Die Erzählinstanz bedient sich sodann einer raummetaphorischen Bildersprache voll intensiver Emotionalität, um Vincents Verstört- und Aufgewühltsein über den unwiderruflichen Verlust seiner Schwester zum Ausdruck zu bringen.6 Dabei beschäftigt ihn die Frage, ob „[…] la scène qui le hantait depuis l’accident[…]“7, also der Vollzug der inzestuösen Liebe, eine Fortsetzung gefunden hätte und „sie“ dies gewünscht hätte. Er erinnert sich, dass er sich vor der intimen Begegnung mit ihr täglich darum bemüht hatte, sich der von ihr ausgehenden erotischen Faszination zu entziehen, indem er das sich wie eine „forteresse“ ausnehmende Verhältnis zu ihr nur umkreiste oder sich weit entfernte, um sie nicht zu sehen, die Gedanken an sie zu verdrängen. Dies erwies sich jedoch als ebenso aussichtslos wie der Versuch, „den Horizont zu überschreiten“, und in Brasilien führten alle Wege unweigerlich bis in das Zentrum – vers le cœur – ihrer sich bislang festungsartig verschließenden, sich nun aber öffnenden und frei entfaltenden Beziehung:

[…] car les chemins détournés construisaient la route pour y parvenir, et trouver le pont-levis baissé, les lourdes portes grandes ouvertes, aucun soldat pour garder les salles, avancer avec précaution vers le cœur, portes ouvertes, aucun soldat, avancer encore et enfin la trouver elle, seule, abandonnée, prête à ce qu’elle avait toujours refusé, ignoré – comme lui – prête à prendre au sérieux ce qu’elle feignait de croire un jeu, et lui, Vincent, désemparé par l’évidence, pris au dépourvu, continuait le chemin, avançait […] la rejoignait avec la sensation, dans ses bras, d’être arrivé pour la première fois, l’unique.8

Die Bilderfolge gelangt an dieser Stelle zu einem isotopisch-konsistenten Höhepunkt. Der erinnerte, metaphorisch verfremdete Ort der Begegnung des sich liebenden Geschwisterpaars – la chambre où ils se trouvaient – entzieht sich jeglicher Vorstellung von Realität, sowohl dem geschlossenen Raum der aus der Fantasie der Erzählstimme geborenen „forteresse“ als auch der als grenzenlos gedachten Welt:

Les portes lourdes se refermaient d’un coup brutal. La forteresse était coupée du monde, comment tant de chemins comment tant de détours avaient pu y mener, et la chambre où ils se trouvaient était coupée de la forteresse coupée du monde.9

Man muss sich Vincent im Haus am Meer als einen einsamen, trauernden Menschen vorstellen, der sich verzweifelt fragt „[…] pourquoi son avion, à une semaine de distance, n’avait pas eu la même défaillance, comme ils disaient, au-dessus de l’océan, pourquoi pas le sien, si elle était restée, au lieu de lui, que penserait-elle, à sa place, quels regrets?“10

Das Treffen am Meer bahnt Hugo, der die Frage François’: „Tu l’aimais?“ für alle hörbar mit „Oui“11 beantwortet, den Weg zum Suizid.12 Die Erzählinstanz wählt für das tragische Ende einen angesichts des Ortes der Handlung im Wortsinn naheliegenden, vor allem aber eine den Gefühlen und Sehnsüchten Hugos im höchsten Maße entsprechenden Ausgang. So beginnt der letzte Abschnitt des Schlusskapitels – Presto – mit den Worten:

Hugo se releva […] il avait besoin de la mer. […] Quelle heure pouvait-il l’être, il s’en moquait, midi, une heure, deux heures, il était en retard, mais en retard pour quoi, il n’avait pas l’intention de revenir. Le soleil était haut, il entendait la rumeur de la mer et le reste – le reste n’existait pas.13

Hugo nähert sich dem Meer und befindet sich „[…] à la limite des terres et de l’océan bleu“14 – eine Formulierung, die sofort die Erinnerung an „ihre“ Augenfarbe wachruft und darüber hinaus eine gedankliche Verbindung zum Flugzeugabsturz über dem Atlantik evoziert. Hugo erinnert sich an sein letztes Telefonat und Treffen in einem Café mit „ihr“ und wirft sich vor, „sie“ nicht vor der Nähe Vincents bewahrt und von der Reise nach Brasilien zurückgehalten zu haben. Als er schließlich den Ruf „Hugo“ vernimmt, fragt er sich: „[…] était-ce elle encore, déjà?“15 Als ob er von „ihr“ gerufen würde, scheint er ihr geradezu entgegengehen zu wollen, um zumindest im Tod für immer mit „ihr“ vereint zu sein. Dabei lässt die Erzählinstanz in der Schwebe, ob er das Rufen seiner Gefährten noch wahrgenommen hat:

Hugo! Ils l’avaient repéré, enfin, il s’enfonçait dans la mer, eux étaient loin encore.16

₺2.995,33