Kitabı oku: «UTOP», sayfa 2
Ja, trotzdem
die Gemütlichkeit der Vernichtung ist das Interessanteste.
Die Zukunft der Hauptstadt
war in der Tat höchst dunkel. Die Berliner Elektrizitätsgesellschaft verschickte eine Erklärung, in der sie unter höflichem Bedauern anzeigte, daß sie nicht mehr imstande sei, für die Anschlüsse Elektrizität zu liefern. Bei Tag und Nacht durchzog Polizei und Militär patrouillierend die Straßen, jede Ansammlung von Menschen auseinandertreibend. Es wurden Fensterscheiben zertrümmert, Telegraphendrähte zerschnitten, Schienen demoliert. Das Abhalten öffentlicher Versammlungen war untersagt. Die Streikenden fanden Mittel und Wege, sich zu verständigen. Sie gingen von Haus zu Haus, und trugen die Nachrichten weiter.
Das Aktionskomitee hatte sein altes Haus in der Stallschreiberstraße aufgegeben; es hatte keinen festen Sitz mehr. So saßen in einer kleinen Destille des Nordostens – sie führte den anmutigen Namen Zum blutigen Knochen – drei Leute beieinander, von denen wir den Führer Bessel schon kennen. Der zweite war ein Mensch von etwa vierundzwanzig Jahren, mit blassem, bartlosem Gesicht und einer langen, fahlgelben Mähne. Der dritte war ein kräftiger Mensch von etwa dreißig Jahren; der Schnitt des Gesichts, die klobige Nase, der dicke, herabhängende Schnurrbart verrieten den Polen; das bestätigte denn auch sein Name, der Mendrzycki lautete.
Der blasse Jüngling nahm das Wort: »Es war vielleicht die einzige Gelegenheit auf Jahre hinaus.«
»Gewiß,« sagte Bessel, »die Proletarier sind reif geworden. Ich habe das Sozialistengesetz mit erlebt, ich habe, als ich noch am Anarchist mitarbeitete, acht Monate gesessen, ich habe John Most und Emma Goldmann gekannt. Damals war der Vorwärts der große Verblödungsapparat.«
»Ich weiß nicht,« murmelte Schwietal; »ich glaube, ich hätte etwas angerichtet damals.«
»Freilich, Propaganda der Tat! Jede solche Sache hat der Bewegung genützt.«
»Sehr gut,« bemerkte Mendrzycki, der das Deutsche mit dem rollenden R der Polen sprach, »wir werden hören, ist in Polen der Teufel los – ich hab’ Nachrichten von gutem Freund.«
»Nationalitäten kümmern uns nichts,« sagte Schwietal mürrisch. »Großpolen! so ein Stumpfsinn.«
Die Tür der Destille wurde aufgerissen; Meckel trat ein, erhitzt und atemlos.
»Nun sag’, was ist los?« fragte Schwietal höchst ungeduldig. Im selben Augenblick hörte man von nicht allzu weit her ein kurzes, scharfes Prasseln. Gewehrfeuer.
Krawall!
sagte Meckel. »Militär ist da! Die Weiber haben angefangen. Da ging eine Frau in einen Bäckerladen in der Prenzlauer Allee, nahm einfach ein Brot und wollte hinausgehen. Es kam zur Prügelei, das Bäckermädchen holte Polizisten. Sie kratzte und biß; sie schleiften sie hinaus aufs Trottoir. Vor dem Laden hatten sich so ein Stücker zwanzig Frauen angesammelt; wie die Polizisten mit Verhaftung drohten, fielen sie über die beiden her. Die Kerle hieben drein, gaben Notsignale. Da kamen die Männer zu Hilfe; zwei haben die Blauen erschossen. Endlich gelang’s ihnen, in den Laden zurückzuweichen, der Bäcker ließ die Rolläden herunter. Die Leute holten Äxte und fingen an, die Läden zu bearbeiten. Da kamen die Berittenen. Einen haben sie vom Pferd gerissen, ein anderer ist mit einer Kugel herunter geholt worden. Es müssen mindestens zwanzig Leute totgeschlagen sein. Wie die Berittenen weg waren, holten die Leute den Ladentisch und die Stühle heraus und schmissen sie auf die Straße; dann plünderten sie ein Eisengeschäft und zogen Stacheldraht quer über, rissen mit Brechstangen das Pflaster auf und haben nun eine Barrikade fertig. Waffen haben sie dem Fritzen auch weggenommen. Vornüber wollten sie einen Graben ziehen, ging aber nicht mehr.«
Eine Salve dröhnte, ein lautes, furchtbares Geschrei folgte.
»Die Bande muß merken, daß wir mächtig sind,« sagte Bessel.
Die ganze Sache vollzieht sich streng kausal
Singen wir das Lied von der gemeinsamen Einsamkeit.
Meckel hatte die Stadt durchquert und war gewandert
immer gewandert; nach Süden zu. Längst hatte er das freie Feld gewonnen; nun ging er am Bahndamm lang, möglichst innerhalb der Schattengrenze. Ab und zu sah er nach der Uhr. Es ging auf zehn. In der Hand trug er einen Beutel voll Sand, dessen Griff zusammengedreht war. Er wog ihn, schlenkerte ihn hin und her, prüfte ab und zu seine Schlagwucht. Er schlich den Damm hinauf, der eine steile Böschung aufwies, und legte sich hin. Er zog aus der Brusttasche eine Stahlsäge und einen scharfen Schraubenzieher und begann, die Kuppelung der Schienen in Angriff zu nehmen. Er hatte kaum begonnen, als er von fern Schritte sich nähern hörte; gleich glitt er zurück hinter den Abhang und faßte den Sandsack fester. Der Bahnmeister kam mit der Laterne die Schienen entlang und leuchtete sorgsam vor sich hin. Ab und zu stieß er mit der Stiefelspitze fest gegen eine Schiene, die den Klang dann kräftig zurückwarf; dann ging er weiter und entfernte sich bald außer Hörweite. Meckel kroch wieder herauf und lockerte die Schraube; dann grub er ein Loch unter die Schwelle und steckte in die Versenkung einen schweren Gegenstand, den er seiner Tasche entnahm. In der Ferne zeigte sich ein Lichterpaar. Eine Maschine sauste in voller Fahrt heran, wie gejagt. Aber – kein Wagen hing daran! Dieser Plan wurde zwecklos, die Katastrophe lohnte die Mühe nicht!
Meckel begann mit hastigen Händen die Bombe wieder zu lockern. Die Schiene war nach unten gesunken und klemmte den Sprengapparat fest. Meckel rüttelte, er hob mit Riesengewalt die Schiene wohl einen Millimeter hoch. Sie schnappte zurück und er fiel aufs Gesicht. In diesem Augenblick brauste die Lokomotive heran; er taumelte auf und wurde von dem Puffer vor die Brust gestoßen. Im selben Augenblicke erfolgte eine Detonation, dann ein Niederprasseln von Eisenteilen auf den Kies des Dammes. Die herbeieilenden Streckenwärter fanden ein tiefes, trichterförmiges Loch, von dem aus Risse durch den ganzen Bahnkörper gingen; der Vorderteil der Lokomotive war in kleine Fetzen zerrissen, der Kohlenwagen halbiert; der Heizer lag verstümmelt eine Strecke weiter hinten; der Führer war in Atome zerpflückt. Man fand endlich, auf die Seite geschleudert, noch Reste eines dritten Körpers, der nach den Anzugsfetzen keinem Bahnbeamten gehören konnte.
ihr Zustand ließ sich noch immer verheimlichen
Mara war im vierten Semester. Dienst an der Wissenschaft hieß der Weg, den ihr das Studium eröffnete. Sie sah das Turmzimmer des Pastors vor sich. Die harten Arbeitsstunden am Spieltisch der Orgel, die Stunden über den Problemen der Harmonielehre, die Stunden unermüdlichen Übens. Man konnte der Musik nicht nebenbei dienen. Aber vor dem werdenden Leben in ihr mußte die Orgel bestehen, vor dem Wissen um die Not von Hunderttausenden. Vielleicht war es die Musik, daß Wassilij sie verächtlich eine Individualistin nennen konnte? Schlief nicht die Stimme des Teufels in Tasten und Registern: Du wirst Macht haben, Mara. Viel Macht. Du wirst nicht ein einfacher Soldat auf der Heerstraße sein. Wie die Schlange im Paradiese war diese Stimme und Mara floh gepeinigt in die Welt Professor Wernheims zurück, in der die Phantastik ihrer Jugend sich der kühlen Herrschaft des Wissens beugen mußte. Sie vergrub sich in die Bücher, die Wassilij und Michail ihr sandten. Sie drang durch Bakunin, Landauer, Proudhon und Marx in ein Reich, das so kühl und gesetzmäßig war wie das Wernheims und dennoch durchglüht von einer großen Liebe und einem großen Haß. Kein Lied lebte in diesem Reich und der Himmel der Kunst bedeutete in ihr nichts als ein Vorrecht der Satten.
Rezept zu einer Wirtschaftskrise
Bei der Abschnürung vom Weltmarkt werden helle Scharen von Arbeitern auf die Straße gesetzt, dem Nichts anheimgegeben. Die Regierung muß angesichts ihrer schwachen Position, der fehlenden Mittel auf Eingreifen verzichten. Und wer zweifelt, daß diese Massen ohne Brot sich nicht auf jene stürzen, denen ihr Haß von klein auf gilt, und die zu morden und in ihren Schätzen zu wühlen, keiner hindert? Aber auch vom Kapitalismus wird der Zersetzungsprozeß ausgehen. Er wird seine nationalen Gefühle nicht in Selbstmord ausarten lassen. Die Grenzpfähle der Länder existieren für den Besitz nicht. Und drittens ist der Rassenhaß, meine Lieben, ein wichtiges Moment! Die Arbeitsnot, die berghoch sich türmenden Preise für das Allernotwendigste, die losgelassenen Genußinstinkte der Verdienerschicht werden das soziale Chaos erzeugen. Und dann, meine Freunde, ist unsere Zeit da!
so daß man bereits von Generalstreik reden konnte
Auch das westliche Industriegebiet war davon ergriffen worden. Die preußische Regierung war stets der Meinung gewesen, daß das Heer der Eisenbahnbeamten eine besondere Verpflichtung zur Treue gegen Kaiser und Reich habe. Es war bei ihnen niemals Streik oder Obstruktion vorgefallen. Aber die Streckenarbeiter blieben weg; die Kohlenzufuhr stockte.
Meckels Attentat war der Anfang einer Reihe weiterer Angriffe auf die Züge. Bald fand man Schienen gelockert, Schrauben abgedreht, Hindernisse auf die Gleise gewälzt. Die ersten Stockungen traten im Osten ein, wo die Polen mit voller Aktivität vorgingen. In der Nähe der Grenze wurden Züge zum Stehen gebracht und auf ganze Strecken hin Bahndämme zerstört. Da erschreckten – am selben Tage – zwei Betriebsunfälle die Eisenbahnverwaltung. Ein um die Mittagsstunden von Küstrin herkommender Güterzug stieß zwischen Müncheberg und Straußberg auf eine Mine, die wohlversteckt im Eisenbahndamm angebracht war. Die Explosion war sehr stark; außer der Lokomotive wurde der erste Wagen völlig zerstört, der zweite sprang aus dem Gleis und riß einen Teil des Trains mit sich hinunter über die steile Böschung. In dem Gepäckwagen eines Personenzuges von Berlin nach Hannover befand sich ein Koffer, der auf eine Fahrkarte dritter Klasse nach Stendal aufgegeben worden war. Diesem Koffer entströmte ein eigentümlich süßlicher Geruch, der die Aufmerksamkeit des Aufsichtsbeamten erregte. In Rathenow machte der Beamte den Zugführer darauf aufmerksam, dieser ließ die Waggons nach dem Eigentümer des Gepäckstückes durchsuchen; ohne Ergebnis. Dicht vor Bismarck erhielt aber der Zug einen Ruck; ein gewaltiger Knall ertönte, die Fensterscheiben splitterten in tausend Stücke. Der Postwagen, der dicht hinter der Lokomotive fuhr, flog in die Luft. Der Koffer, der dem Beamten verdächtig vorgekommen war, hatte eine Höllenmaschine und eine Nitroglyzerinladung enthalten.
Es wird nicht unerwünscht sein
die von uns bereits besprochenen Verbrechen aufzuzählen und einige, die wir im Zusammenhang der Erzählung übergingen, nachzutragen:
15. März: Brand der Prinzschen Werkzeugfabrik in Berlin.
16. März: Brand der Anilinfabrik in Rummelsburg.
21. März: Brand der Maschinenfabrik von Pietsch in Berlin.
22. März: Attentat auf den D-Zug München-Berlin.
23. März: Sperrung des Kaiser Wilhelm-Kanals durch Versenkung eines Schiffs.
25. März: Ermordung des Fabrikanten Franke in Crimmitschau (Revolverschuß).
28. März: Brand der Fechnerschen Weberei in Langenbielau.
29. März: Bombenattentat auf den Polizeipräsidenten von Breslau (erfolglos).
31. März: Plünderungsszenen in Myslowitz.
2. April: Explosion einer Höllenmaschine im Gepäckwagen des Personenzugs Berlin-Hannover.
2. April: Bombenattentat auf Prinz Eitel Friedrich und General v. Deimling.
Aufklärung war nur zu erwarten durch eine Denunziation aus dem Kreise der Verschworenen heraus. So entschloß sich die Regierung, es mit einem außergewöhnlichen, wennschon ungesetzlichen Mittel zu versuchen: sie verhieß demjenigen Anarchisten, der der Polizei ganze Aufklärung geben würde, Straffreiheit. Außerdem versprach sie dem, der eine Verhaftung der Hauptteilnehmer herbeiführe, eine Belohnung von 100.000 Mark. Der Arbeiter rückte weg von den Menschen, die von der Manie systematischer Zerstörung besessen schienen. Die Ausschreibung einer Belohnung weckt stets die Sympathie für den Ausschreibenden. Man muß nur einmal zuhören, wie oft der Polizei ohne Groll gedacht wird, wenn sie auf die Ergreifung eines Raubmörders einen Preis setzt. Es ist nicht Habgier, was da waltet. Nein, da herrscht ein rein sportliches Interesse.
der Wille zur Dummheit
verlangt Entsagung, und man bekommt ihn nur durch sorgfältiges Zuendedenken. Wenn man sieht, dass unsere Gedanken in sich zusammenfallen, wie die Flügel eines geschossenen Wildhuhns; Gedanken, nein, sie sind keine Zwecke für sich, sie sind wert als Bewegung; aber können Gedanken bewegen; o, sie fixieren, sie nageln zu sehr fest, sie konservieren selbst den Revolutionär. Bilder sind Taten der Augen, und mit einem Bilde ist nicht alles gesagt; aber ein Gedanke täuscht stets vor, er habe die ganze Kette erschöpft, und lähmt.

Bessel war zu Fuß losgegangen
denn alle Bahnhöfe wurden scharf bewacht. Sobald er die Großstadt hinter sich hatte, war ein merkwürdiges Gefühl über ihn gekommen; der Wald war ihm fremd, die Einsamkeit berührte ihn mit einem seltsamen Schauder. Es war noch dunkel. Bessel wanderte auf Straußberg zu. In dem ersten Dämmerlicht sah er nahe dem vorspringenden Dach eines Schuppens eine Holztafel angebracht, die ein rotes Plakat trug. Neugierig trat er näher und begann zu lesen, fand unter der Aufzählung seine eigne Personalbeschreibung. Sein Name – eine leise Beruhigung – war nicht genannt. Er sah nach der Uhr. Halb sieben. Jetzt konnte schon einer, der ihn kannte, in Berlin vor der Plakatsäule stehen und von da zur Polizei gehen. Er war gewiß 10.000 Mark wert. Bessel durchzuckte es wie ein Blitz. War da nicht Rettung? Wenn er selbst? Verrat, Verrat! Er war müde, hungrig, abgehetzt. Gestern wäre er noch bereit gewesen, eine Bombe zu werfen, auf die Gefahr hin, sich selbst zu töten. Aber jetzt? Es würde doch keiner seiner Komplizen zur Polizei gelaufen sein? Schwietal, der war ein Schwärmer. Kunard hatte zuviel andres auf dem Kerbholz. Mendrzycki? Bessel gingen die Augen über. Dieser Polack, der verdammte! Und er begann zu laufen, als renne er mit ihm um die Wette, gerade in die Stadt hinein.
Eine Viertelstunde, nachdem er das Polizeipräsidium betreten hatte, lief von einem Revier die Nachricht ein, ein Pole namens Mendrzycki habe sich gestellt. Am selben Tage noch wurden alle in Berlin sich aufhaltenden Terroristen verhaftet bis auf einen: Schwietal. Zu gleicher Zeit wurden in Stettin, Hamburg, Breslau, Bochum und Mülheim Verhaftungen vorgenommen. Die Zahl der in das terroristische Komplott Verwickelten betrug etwa 60 Mann. Da die Straftaten unter der Herrschaft des Kriegsrechts stattgefunden hatten, waren die Urteile sehr hart: 29 Männer wurden zum Tode verurteilt, 16 zu lebenslänglichem Zuchthaus, die übrigen zu langjährigen Zuchthausstrafen. Zweien der Angeklagten gelang es trotz schärfster Aufsicht, sich vor der Verhandlung selbst zu töten. Nur Schwietal war dem Arm der Gerechtigkeit entgangen. Bessel begab sich nach Amerika. Als er den Landungskai betrat, knallte ein Schuß. Er sank, durch den Kopf getroffen, sofort zusammen. Die zweite Kugel jagte sich Schwietal über dem Körper des Getöteten in den Mund.
so viele Welten
die gar nichts miteinander zu tun haben
Der Kapitän schüttelte ungläubig den Kopf
»Unmöglich, dort liegt kein Land. Es ist undenkbar.«
»Aber wenn es neu entstanden wäre?« warf Paul Seebeck ein.
»Das wäre ja –«
Aber jetzt kam von der Seite her feiner Staubregen
der in wenigen Augenblicken die Aussicht verschleierte. Die Herren hüllten sich fester in ihre Mäntel. Der Regen wurde stärker und stärker, und außerdem brach schnell die Nacht herein.
Als sie auf Deck hinaustraten
sahen sie, daß Nebel und Regen völlig verschwunden waren, der Mond schien. Passagiere gingen plaudernd und rauchend auf und ab, oder saßen, in Plaids gehüllt, auf Feldstühlen. Paul Seebeck folgte dem Kapitän auf die Kommandobrücke. Jetzt war kein Zweifel mehr möglich: vor ihnen lag, steil dem Meere entsteigend, ein Vulkan, über dessen kegelförmiger Spitze eine blauschwarze Wolke schwebte. Wieder sah Paul Seebeck dem Kapitän fest ins Gesicht: »Ich habe mein Motorboot, mein Zelt und Konserven für zwei Monate. Sobald wir einen Landungsplatz sehen, setzen Sie mich ins Wasser. Ich will die Insel für das Deutsche Reich in Besitz nehmen.«
und unter Kettengerassel sinkt ein Motorboot
auf die kaum gekräuselte Wasserfläche. Halblaute Abschiedsrufe, ein Winken und Grüßen, der Motor wird eingestellt, und das Boot saust davon. Jetzt verschwindet es hinter einer Klippe, taucht in den Mondschatten, biegt um einen Felsen und ist fort.
Unweit der Feste Herat
im Bergland Afghanistan, an den Ausläufern des Hindukusch, saß Rautenschmied vor dem Zelt und schrieb in ein Tagebuch, die übrigen Reiseteilnehmer lagerten auf Teppichen und rauchten.
»Was sagen Sie zum Wetter, Doktor Ulmenau?« fragte Prinz Atlanta.
»Ein Bergsturm naht, Durchlaucht, wir müssen uns sputen, sonst fegt uns der Orkan von der Ebene weg!« Ulmenau gab einen schrillen Pfiff ab. Diener eilten herbei, und bald befand sich die Reisegesellschaft mit ihren Bergpferden und Lastkamelen auf dem Weg zum Tal Heri Rud.
Der ewige Chorgesang der Wüste, das Läuten der Kamelglocken tönte herüber. Sven Hedin hatte recht, dieses Lied verstummte nie, und wenn das Kamel den Tücken der Wüste zum Opfer fiel, sofort wurden die alten Schellen einem neuen Leittier angeschnallt. Schon fegte der Wind über die Ebene, im flotten Tempo ging es daher der Talniederung zu. Pinusarten, Tamarisken, Platanen und Weiden standen hier urwaldartig zusammen. Noch bevor die Dunkelheit hereinbrach, hatte man Herat erreicht. Über die Heri-Rud-Brücke ging es zur fest umwehrten Stadt, die im Nordwesten von der mächtigen Zitadelle beherrscht wird. Die Gesellschaft nahm ihren Weg nach dem Königsgarten Baghi Schahi und schlug hier ihre Zelte auf. Es fügte sich, daß zufällig der Emir von Afghanistan nach Herat gekommen war. Ein Herold erschien im Lager und überbrachte die Einladung.
»Wie gut, daß wir Berliner Filme aufgenommen haben«, rief Rautenschmied.
Die Herren hatten die Uniformen ihrer früheren Regimenter mitgenommen, damit sie bei öffentlichen Festen feierlicher auftreten konnten. Der Emir saß auf einem thronartigen Sessel, umringt von den Würdenträgern seines Reiches. Kühn stürmten die Reiter daher, was bei europäischen Regimentern die geschlossene Attacke mit ihrem wuchtigen Ansturm, das war hier bei diesen halbwilden Söhnen der Berge die Gewandtheit, die sie auf ihren flinken Pferden entwickelten. Lanzenkämpfe gaben manchen aufregenden Augenblick, und nicht ohne ernstliche Verletzungen gingen diese Vorführungen zu Ende.
Der Emir wollte sich von seinen Gästen verabschieden. Doch Prinz Atlanta bewog ihn zum Bleiben. Eine Leinwand senkte sich hernieder und schon zitterte das erste Bild über die helle Fläche. Bild auf Bild folgte, Denkmäler und Prachtbauten aus Groß-Berlin, darunter das stolze Gebäude der deutschen Reichsburg. »Seine Majestät der Deutsche Kaiser und seine Garde!« sprach nun der Prinz. Das lebensgroße Bild Kaiser Wilhelms II. wurde sichtbar. Atemlose Stille herrschte, und die Augen der Krieger glänzten freudig. Der Eindruck der Macht war vollkommen.
Und nun vertraute Bilder
die Eisenbahn mit der kleinen Lokomotive, die langsam, von Rufen im Dialekt der Heimat begleitet, tief in das Land hineinfährt. In dieses Tal, auf das eine weiße Sonne brennt, mit fernen Bergen ringsumher und breiten Weinfeldern. An allen Stationen stehen Menschen in Gruppen, die die Tracht der Heimat tragen. Mara preßt das erregte Gesicht an die schmutzigen Scheiben. Der Schaffner sagt: »Die nächste Station ist Gruda!«
Die alte Stane brachte vor Erregung kein Wort hervor. Tränen liefen über ihr zerknittertes Gesicht. Oh, wie alt sie geworden war! Wie klein und mager! Ihre Augen aber leuchteten. Niemals hatte die alte Frau dieses Kind vergessen, das ihr dessen Mutter in der Sterbestunde anvertraut hatte. Voll Stolz sah sie an Mara empor. Die Augen und das schwarze Haar, das Mara so kurz trug, wie es die alte Stane noch niemals gesehen hatte. Ja, Mara war schön geworden, viel schöner und seltsamer noch als ihre Mutter gewesen war, der alle Burschen von Gruda so besessen nachgestellt hatten!
Blaß war Mara und die dunklen Haare klebten feucht auf ihrer Stirne, als nach einem Tage, an dem ihr zuckender Leib sich viele Stunden lang in Schmerzen gewunden hatte, Stane ihr den Knaben in die Arme legte. Dieses allererste Staunen in die blicklosen Augen ihres Kindes, in dieses winzige zerknitterte Antlitz, das so seltsam alt aussah, erschreckte und beseligte Mara. Sie ließ es geschehen, daß Stane den Knaben wieder hinaustrug. Eine Frau brachte Mara den Knaben am nächsten Tage. Hinter der Fremden stand Stane. »Du hast ja kaum Brüste,« sagte sie leise. »Und da Anne gerade ein Kind hat …« die roten Backen der Bäuerin verzogen sich zu einem Grinsen, »so ist es das Beste ….« Fast böse sah Mara auf Anne, auf deren so reifen, schwerblühenden Körper.
Auf den Namen Nikodemus hatte der Priester Maras Knaben getauft. »Aber wie wirst du ihn rufen?« fragte die alte Stane, ein wenig verwundert über den altertümlichen Namen. »Nenne ihn Nino, so heißt auch der Sohn des Bürgermeisters.«
Werde ich es ertragen, niemals mehr auf den Orgeln in den großen Städten zu spielen? Mara überlegte alle Möglichkeiten. Die Professoren? Die Kollegen? Sie mußten es nicht wissen. Wenn ich abends heimkehre, werde ich nicht wie bisher in ein leeres Zimmer kommen. Ich werde am Schreibtisch arbeiten und wenn ich aufsehe, werde ich immer dich in deinem Bettchen sehen. Aber die alte Stane konnte unbeugsam sein. »Nino hat sein eigenes Recht. Du mußt arbeiten, Mara, kannst dich nicht Tag und Nacht um ihn sorgen. Du kannst ihn nicht mitnehmen. Aber du mußt kein Jahr verlieren, wie du sagst. Habe ich dich nicht großgezogen und meine eigenen Kinder dazu?«
Sie schrak auf aus dem quälenden Dunkel
Mit welchem Recht sperrt man die Menschen ein, die keine größere Schuld haben, als daß sie im Armenviertel geboren wurden, und die sich ihr bißchen Essen nun von denen nehmen, die reich sind?
Sie fürchten sich wohl vor uns?
fragte Wassilij mit Spott und Trauer. »Sie möchten wohl nicht gerne, daß Ihre bürgerliche Welt samt deren Sternenhimmel von Wissenschaft und Kunst zusammenfällt?«
»Ich bin viel mehr bei Ihnen, als Sie ahnen«, erwiderte Mara gedrückt. »Michail gab mir eine Liste von Büchern. Aber ich habe so wenig Zeit. Die Prüfungen …«
Eigentlich kam Mara, um Michail zu sehen, mit dem sie eine Freundschaft ohne viel Worte verband. Von seinem guten, bärtigen Antlitz, von seinen energischen Händen ging der Ausdruck eines gebändigten Lebens aus, dessen Kraft Mara liebte. Denn es war doch so, daß alle Ideen sich in der Persönlichkeit verschiedener Menschen anders spiegelten. Die russischen Studenten bekannten sich alle zu einer Partei, zu einem Ziel. Aber während der Chemiker Wassilij drohend von der Wirkung neuer Nitroglyzerinverbindungen sprach, und sich nicht genug tun konnte in der Verspottung der Religionen, die er bürgerliche Ideologien nannte, indes Vera in erschreckender Unbekümmertheit von Eisenbahnattentaten phantasierte, die der Weg zum Kommenden Reich der Güte seien, schien Mara die Weltanschauung Michails von tiefem Glauben erfüllt.
Wenn Mara noch immer zögerte, den Hohnreden Wassilijs und der sanften Beschwörung Michails zu folgen und bereit zu sein, an deren Seite zu kämpfen, so war es, weil sie sich den Anschauungen ihrer Freunde über die Mittel des Kampfes nicht anschließen konnte. »Glauben Sie nicht, Michail, daß die religiöse Erneuerung die Menschen auch auf Erden glücklicher machen würde, als soziale Programme allein?«
Das Antlitz Michails verdunkelte sich. »Sie sind ein Kind«, entgegnete er abweisend. »Sie wissen nicht, daß Hunger und Vergewaltigung den Menschen so tief erniedrigen, daß er sich nicht mehr auf sein unsterbliches Teil besinnen kann. Ich teile nicht das materialistische Bekenntnis Wassilijs. Aber ich glaube, daß Gott von meinem Volke will, daß es mit Flamme und Schwert die Händler und Schurken aus dem Tempel seiner Welt treibe. Sie sind zu jung, sonst wüßten Sie, daß ein wohlgezielter Schuß die Menschheit ihrem Ziele näher bringen kann.«
In zwei Reiche
war die Welt früher für Mara zerfallen gewesen. Das eine hatte die Arbeit, das Studium beherrscht, das Erleben im Turmzimmer des Pastors, Besuch von Bibliotheken und viele Nächte über Büchern. Und dann war es nach Wochen heißester Hingabe an diese Arbeit geschehen, daß Mara sich besessen an die Wollust gegeben hatte. Ihr Denken von gestern hatte diese Zweiteilung bejaht. Und mit beiden Händen hatte sie in jedem Erleben ihr Herz festgehalten, damit nichts Tieferes sie an jene Stunden binde, in die ihr heißes Blut sie trieb. Aber eine mahnende Stimme war immer stärker geworden und belud nun vergangene Stunden der Leidenschaft mit Scham. Die Männer stießen einen nur immer tiefer hinab. In eine schrecklich leere Einsamkeit nahm man ihren entfesselten Schrei, ihr verzerrtes Gesicht, ihre nackten Worte mit. Und dann, nachher, mochte man sich mühen, stückweise sich selbst wieder zu sammeln. Ich war damals entsetzlich jung, dachte die neunzehnjährige Mara. Gott ist die Erregung, die den Körper übertrifft.
»Sie haben große Fortschritte gemacht, seit Sie von Ihrem Urlaub zurückgekommen sind«, sagte Pastor Eckart zu Mara. »Sie sind eine andere geworden. Und –« entschlossen hielt er ihren Blick, »irre ich, oder hat Ihnen Gott nun die Kraft gegeben, dem Dunklen in sich zu widerstehen?«
»Nicht immer ist es leicht«, antwortete Mara. »Die Musik verlangt mich ganz.«
Aber der Körper, die Sinne
»Du, mein Gott, das sind die ärmlichsten Gewöhnungen, Vorurteile. Viel stärker, reizvoller, gefährlicher sind die Empfindungen, die keines Erlebnisses bedürfen. Denn schliesslich gibt es Menschen, die kommen auf die Erde und kennen alles. Das Leben ist nur eine mühevolle Darstellung der Erinnerung, nichts Neues.«
»Also kämen wir doch von Gott.«
»Aber woher denn?«
Am Weg zum Frauenmünster
gab es neben der Brücke einen Straßenhändler. Zwischen Büchern, auf deren Umschlägen nackte Frauen frech lachten oder finstere Detektive mit Blendlaterne und Revolver ein düsteres Zimmer betraten, lagen oft Schätze, die vergeblich auf einen Käufer warteten. Hier hatte Mara die Gedichte Jehuda Halevis gefunden, erfüllt von Weltmüdigkeit, Jubel der Gottesschau, Erschütterung der Umkehr. Und nun hatte sie heute die Merkpunkte des hl. Bonaventura entdeckt. Ein fast zerfetztes Büchlein, auf dessen erster Seite in verblaßter Tinte ein Name stand. Und neben diesem Namen war mit der gleichen Tinte, von derselben Hand geschrieben worden: »Dieser, dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden. Er war verloren und ist wieder gefunden.« Mara legte den kleinen Betrag, den der verwunderte Händler von ihr forderte, auf den schmierigen Tisch. Ehe sie weiterging, blätterte sie noch in dem Buch. Und sie fand einen Satz, der sie erschreckte wie die Stimme des Gerichtes. Denn es war in diesem Satze gesagt, daß nichts so schlimm sei als das Erkalten, weil darin der Weg der Verstörung beschlossen liege, »der da führt zum Tode.«
»Ich habe eine kleine Bitte an dich«, sagte Vera und legte eine Aktentasche auf Maras Schreibtisch. »Wunderschön hast du es hier«, fuhr sie fort, indes sie sich in Maras engem Zimmer umsah. Vera trug einen weiten Mantel aus grobem Tuch und einen breitkrempigen Hut in die Stirn gedrückt. Mara betrachtete sie. In dem großen mageren Mädchen mit den entschlossenen Zügen war nichts mehr von der kleinen, ein wenig ungeschickten Klosterschülerin. »Ich verreise«, erklärte Vera einfach. »Und da ich nicht weiß – es könnte mir etwas zustoßen, nicht wahr – bei Wassilij würden sie ja sogleich suchen. Es sind wichtige Papiere, du verstehst.«
Mara griff nach Aktenmappe. »Selbstverständlich mache ich das für dich.«
»Ich muß gehen«, sagte Vera.
»Du fährst schon heute?«
Die Russin antwortete nicht, aber in einer jähen Bewegung riß sie Mara an sich und küßte sie.
Als Mara sich an einem der nächsten Abende von Professor Wernheim nach der Arbeit verabschieden wollte, nahm er eine Zeitung von seinem Schreibtisch und reichte sie ihr. »Da haben Sie Ihre Weltverbesserer!« sagte er. »So sinnlos grausam ist nicht einmal die Natur.«
Interlaken, 10. Juni.
Eine Mörderin verwechselt ihr Opfer!
Der Seidenfabrikant Sergej Georgewitsch Bozner aus der Krim, der gestern hier zum Besuch seiner Familie eintraf, wurde von der russischen Anarchistin Vera Gutschkow auf der Frühstücksterrasse seines Hotels ermordet. Die Mörderin, die kaltblütig aus dem Hinterhalt geschossen hatte und sich ruhig abführen ließ, brach zusammen, als sie erfuhr, daß sie statt des russischen Polizeiministers, dem das sorgfältig vorbereitete Attentat galt, einen Kurgast erschossen hatte. Sergej Georgewitsch Bozner hinterläßt eine junge Frau und zwei Knaben im Alter von drei und vier Jahren.
Sehr früh am Morgen, als Mara noch im Bett lag, kam ein Agent der Polizei, der Mara gebot, ihm zu folgen. Auf der Polizeistation fand sie neben einem mürrischen Beamten den österreichischen Konsul, einen jovialen Herrn, der nur schmerzlich bewegt den Kopf schüttelte. Mara wartete nicht erst, und begann: »Die wirklichen Mörder sind jene, welche die Opfer eines schändlichen Regimes so weit treiben, daß sie Gewalt gegen Gewalt setzen und selbst schuldig werden.«
»Das interessiert uns nicht«, entgegnete der Beamte und schrieb Maras Daten in ein großes Buch. »Sie haben zu beantworten, wonach man Sie fragt.«
Jawohl, nichts interessierte, als der Umstand, daß wenige Minuten später ein Agent erschien, der in Maras Zimmer Nachschau gehalten hatte und mit einem verächtlichen Blick auf die Studentin die Aktenmappe Veras auf den Tisch legte. Schon nach wenigen Fragen hatte der Beamte festgestellt, daß Mara nichts von dem Inhalt der in russischer Sprache beschriebenen Papiere ahnte, die man ihr zum Aufbewahren übergeben hatte.