Kitabı oku: «UTOP», sayfa 3
»Sie sind ein wenig unvorsichtig«, sagte der Konsul und lächelte schmerzlich. Empört durch die kaltherzigen Reden des Polizeibeamten und noch mehr durch das ewige Lächeln des Konsuls hatte Mara flammend bekannt: »Ich denke genau wie Vera Gutschkow.«
»Das interessiert uns nicht«, brummte der Polizeibeamte. »Es handelt sich um Ihre etwaige Mitschuld an dem Attentat. Seien Sie froh, daß wir Sie nicht wie die anderen Freunde der Mörderin hinter Schloß und Riegel setzen. Ihre Reden ignorieren wir als die Verirrung eines Mädchens.«
»Was gehen Sie denn die russischen Studenten an, meine Liebe?« fragte der Konsul freundlich und betrachtete anerkennend das schöne Mädchen. »Es gäbe viel amüsanteren Verkehr für Sie. Sie werden schon noch darauf kommen.«
Sobald Jakob Silberland das Café Stephanie betreten hatte
holte er sich vom Ständer sechs oder acht Zeitungen und legte sie auf einen Tisch am Fenster. Als er sich zurechtgesetzt hatte, bestellte er einen Kaffee und begann, die Brust an den Tischrand gedrückt, eifrig zu lesen. Gerade als er die Kreuzzeitung mit gerunzelter Stirn fortlegte und nach dem Vorwärts griff, erschien vom Kellner geführt, der Briefträger an seinem Tisch und übergab ihm einen eingeschriebenen Brief. Silberland erkannte sofort die Handschrift seines Freundes Paul Seebeck und schob mit einer energischen Armbewegung die Zeitungen zur Seite.
Lieber Jakob!
Paß mal auf: wir haben eine neuentstandene, vulkanische Insel entdeckt, und zwar bin ich der erste, der sie sah. Ich bin geblieben und habe sie für das Deutsche Reich in Besitz genommen. Die Sache ist Geheimnis, nur der Kapitän und der Erste Offizier von der Prinzessin Irene wissen davon. Wo die Insel liegt usw., kannst du von diesen Herren erfahren. Bitte geh sofort nach Berlin, zum Reichskolonialamt und laß mir eine Vollmacht als Reichskommissar ausstellen. Die Leute sollen aber schweigen, bis feststeht, ob die Insel bewohnbar ist oder nicht. Du verstehst, was ich will: ich denke an unsere Gespräche über den absolut korrekten Staat, der durch keinerlei Traditionen und Rücksichten gehemmt ist – hier können wir ihn gründen, wenn auch nur in einem kleinen Maßstabe. Gruß dein Paul S.
Überall rüstete man sich zur Pilgerreise
es war der erste Tag des Monats Juli, der Tag der Weihe der deutschen Reichsburg! Über Groß-Berlin lagerte der azurblaue Himmel. Unaufhörlich rollten Sonderzüge in allen Bahnhöfen der Reichshauptstadt ein. Studentenverbindungen erschienen in Prunkkleidung mit ihren Fahnen, der deutsche Adel in Trachten längstvergangener Tage. Innungen, mit ihren alten Werkzeichen, durchzogen die Straßen, dazwischen bewegten sich Schützengilden, Turnerschaften und Sängervereine. Planmäßig wurden die Gruppen in den Nebenstraßen verteilt, und vor dem Lustgarten des königlichen Schlosses ertönte Ehrendonner, die Kaiserfahne ging hoch. Unter den Klängen des neuen deutschen Einheitsmarsches setzte sich der Zug vom Schlosse aus in Bewegung.
Die Prunkwagen umstanden die Reichsburg, vor dem tiefen Rundsee am Deutschen Ring und Preußen-Ring. Der Festzug wälzte sich in die Tunnels der hohen Wälle, der Kaiser rückte mit seinem glänzenden Gefolge an der Spitze der Fahnenträger heran. Ihm zur Seite ritt die Kaiserin, gefolgt von den Kindern des kaiserlichen Hauses. Da erbrauste aus dem mächtigen Kuppelbau die Orgel. Bei dem Lied So trete ein, du deutsches Kind, fühl’ dich in deutschem Schoße sicher überschritt der Kaiser die Brücke zur Reichsburg. Graf Hardteneck überreichte ihm den goldenen Schlüssel und der Monarch schloß das Riesentor der Hochburg auf, weit öffnete sich dieses durch elektrische Triebkraft und gewährte dem Kaiser Einlaß mit seinem Gefolge. Bald erschien er auf einem kleinen Erker und seine bewegte Stimme scholl hinunter zu der schweigenden Schar:
»Deutsche, aus allen Gauen unseres großen Vaterlandes!
Allen Völkern der Erde verkünde ich es in dieser weihenvollen Stunde:
Deutscher Frieden, ist Weltfrieden.
Nie wird eine Stunde kommen, da das deutsche Volk sein Kraftbewußtsein
dem Schwachen mit dem Schwerte in der Hand aufzwingen wird.«
Wer beschreibt den Freudenrausch, der die Anwesenden nach diesen Worten des Kaisers befiel?
Ein Grauen überlief ihn
da er der Gegenstände gedachte, die ihn stets aufsaugen wollen; wie er die Gegenstände durch seine Symbolik vernichte, und wie alles nur in der Vernichtung existiere. Hier sah er eine Berechtigung alles Aesthetischen; aber zugleich auch, dass er, da er keinen ganzen Endzweck mehr sah, den einzelnen leugnen musste. Er sehnte sich nach dem Wahnsinn, doch
Ein Brausen, unschilderbar, durchzitterte die Luft
man umarmte und küßte sich. Und Heil dir im Siegerkranz rauschte gegen das stolze Gebäude der Reichsburg heran. Der Kaiser befand sich auf einem kleinen Rundgang, denn viel zu ausgedehnt war dieser Kolossalbau. Ringsum von Wasser umgeben, führten acht breite Brücken zu einer oft unterbrochenen Rundtreppe, der Haupteingang wurde von einem mächtigen Burgtor gebildet. Hoch in die Lüfte ragte ein gewaltiger Turm, dessen breite Masse durch die vergoldete Kuppel gemildert wurde. Und eine Wandlung in den überdeckten Hallen vor dem See verriet das Rundgemälde eines auf Erden einzigartigen Tempels. Stundenlang wandelte man im Innern umher, das Auge konnte all die Herrlichkeiten nicht fassen, die hier kunstverständige deutsche Hände geschaffen hatten. Schon waltete das Leben in diesen Räumen, wie es geplant war. In dem einfachen Herrenhause des Germanen saß man beim brennenden Buchenscheit und schweren Steinkrug. Allmählich gelangte man in die Zeit des Mittelalters. Rittersaal und Landsknechtsschenke folgten.
Am Abend wurde Bornhofens Oper Terra Elysium gegeben, die bei ihrer Anlehnung an den großen Friedensgedanken vortrefflich in den Rahmen des Tages hineinpaßte. Nach dem ersten Akt bildete das Kaiserpaar einen Geselligkeitsring in den Wandelgängen. Kommerzienrat Landbürger war hier zu einer Vorstellung befohlen worden. In liebenswürdiger Weise begrüßte ihn der Kaiser. »Das war ein Ehrentag für das deutsche Volk und auch für Sie, Herr Kommerzienrat von Landbürger-Tempelhof!«
Maßlos überrascht durch diese Worte verlor Landbürger seine Beherrschung.
»Majestät,« stammelte er, »was bedeutet das?«
»Meinen kaiserlichen Dank und den Dank des deutschen Volkes, dem Sie durch Ihre hochherzige Schenkung zu dem herrlichen Tempel der deutschen Reichsburg verhalfen.«
Constanze stand bei ihrem Onkel, und holde Verwirrung hielt sie befangen, denn die Erteilung des Adels an ihren Onkel kam ihr zu überraschend. Wohlgefällig betrachtete der Kaiser die schlanke Gestalt der jungen Dame, eine Königin in Wuchs und Anmut.
Herr, gib mir ein Wunder
wir suchen es seit Kapitel eins.
Fangen wir also von vorn an
Exakte Wissenschaft kommt so zustande: der kombinierte Sinnenverstand des Menschen erfährt Erlebnisse, die er in Konstruktionen des Seins umwandelt. Gedächtnis und Sprache kommen dazu und arbeiten in der selben Richtung weiter: ein neues Stockwerk von Konstruktionen des Seins wird aufgesetzt. So haben wir feste, isolierte Dinge als Träger alles Geschehens, Wirkens und Änderns, und als Behältnisse für sie oder auch als neue Selbständigkeiten Begriffe, Abstraktionen usw. Die Aufgabe der exakten Wissenschaft ist nun, dieses Sein, das um unserer Sinne und unserer Verständigung willen von uns geschaffen worden ist, wieder in Werden zurückzuverwandeln. Die Begriffe werden zertrümmert und flüssig gemacht, die Dinge schwirren unter dem Druck der Vergleichung und Besinnung auseinander wie Sonnenstäubchen: und siehe, es ist alles anders geworden, als Worte und Augen der Menschen gefabelt hatten. Exakte Wissenschaft ist also: Sammlung und Beschreibung aller Sinnendata, periodisch erneuerte Kritik der Abstraktionen und Generalisationen, und darauf aufbauend: Gesamtkritik unsrer scheinbaren Seinswelt, Schöpfung des Werdens, das als Erklärung der Substanzbehauptungen unsres Sinnenverstandes in Übereinstimmung mit unsrer inneren Erfahrung gesetzt wird.
Anders steht es mit dem Gebiet, das ich im weitesten Sinne Geschichte nenne. Da gibt es nämlich als elementare Unterlage keinerlei Substanzen, Stoffe oder Dinge: von den Trägern aller Geschichte, nämlich den Körpern der Menschen, wird völlig abgesehen; sie kommen höchstens einmal in Betracht, wenn sie mißhandelt oder enthauptet werden. Sonst aber sind die Data der Geschichte Geschehnisse, Handlungen, Leiden, Beziehungen.
Das ist sehr einfach
sagte er, »Salammbo ging in das Lager der Barbaren, sie trug ein goldenes Kettchen zwischen den Fußgelenken. Als sie am Morgen zurückkam, war das Kettchen zerrissen.«
Der Mann sprach vorgebeugt, fast in den Hals des Mädchens, ihr Hals von vollkommener Zartheit und Weiße erhob sich wie ein schlanker und fester Blütenschaft, über dem ihr rundes, rosenfarbenes Gesicht als die Blume ruhte. Am lebhaftesten entzückte ihn das Beben ihrer Nasenflügel, pulsender und durchsichtiger Muschelschalen, die einen tiefer gefärbten korallenroten Kern freiließen, der Mund war groß, von seltener kluger Tatkraft; der erste Eindruck, den dies Mädchen weckte war der von Stolz und Gesundheit. Orff empfand diesen Eindruck sehr stark, er sagte: »Ich liebe Sie, Fräulein Sybille von Chavanais! Aber ich liebe Sie ganz unplatonisch, ich möchte Sie besitzen!«
So dicht neben ihr, fiel seine Häßlichkeit doppelt auf. Sein gelbes, geistreiches Gesicht bestand zumeist aus Falten und Narben. Das Kinn war viereckig, und doch wirkte er elegant, bizarr und auffällig. Sie dachte: Er ist häßlich, er ist ein buckliger Zwerg, er ist grotesk! Sie war für ihn ein Stück Fleisch, war ein Ding, war die ausgelegte Ware. Ihr ganzer Körper wurde starr, stemmte sich. Sie mußte stillsitzen neben ihm, um der anderen, der Dinergäste willen. »Ich hasse Sie!« sagte sie. »Für mich sind Sie ungefähr die unangenehmste Art von Mann, die ich kenne.«
»Trotzdem werde ich Sie in meinen Armen halten, Sybille! Und wenn wir allein wären, würden Sie mir angehören. Ja, sogar hier! Wann und wo ich wollte.«
Er kam ihrem Nachdenken über die Gründe seiner Unverschämtheit zuvor. »Heut sind Sie reizend,« gestand er. »Ich finde Sie ganz und gar entzückend. Nun, ich mag schriftstellernde Frauen und Blaustrümpfe nicht. Eine Frau soll Kunstwerk sein, nicht Kunstwerke schaffen! Übrigens kann sie nichts schaffen, das ist bekannt! Dann schreiben Sie Bücher, die mir nicht gefallen. Sehr viel Wollen und Schwärmerei, große Worte! Man hat Ihre Bücher gelobt, weil Sie gelegentliche Kraßheiten einflechten, delikate Dinge geschmacklos deutlich behandeln. Das ist schlechte Zolasche Schule. Sogleich hatte ich von Ihnen die Vorstellung eines Sekundaners in Unterröcken.«
Er dachte: Es ist lächerlich, wie sie purpurrot wird und ordentlich wie ein Pferd unter einem Peitschenhiebe aufspringt! Ich werde sie jetzt sehr kurz und sehr behutsam fassen; zuletzt schlage ich sie über den Kopf, in die Augen. Dann ist sie blind und zahm.
»Sie haben nämlich ein sehr dummes Buch geschrieben,« erklärte er kauend. »Sie Barbarenfräulein, Jungfrau mit dem Tigerfell und der Armbrust. So ausgerüstet ungefähr gehen Sie gegen moderne Panzertürme und Maschinengewehre vor. Mich erstaunt, daß Ihre linke Brust noch am Platz sitzt. Die hätten Sie eigentlich abnehmen müssen! Immer verblendet und bockig! Ihre Brust ist das Hübscheste an Ihnen, keusch, bewegt und halbreif. Trotz der vierundzwanzig Jahre erst halbreif! In diesem dummen und überflüssigen Buch nun sprechen Sie von einem jungen Mädchen, irgend einer Frida oder Elida, die mit einem jungen Mann zusammenwohnt. Plump und gründlich wie Sie sind, Johanna im Harnisch, nehmen Sie, glaub’ ich, die äußere Not, Geldmangel, als Ursache dieses Zusammenwohnens. Die Beiden sind durchgegangen, um Sozialisten zu werden oder sonst was Gutes. Selbstredend sind sie schrecklich edel und tugendhaft, und hirnverbrannt, was weiß ich! Aus Ihrer Lektüre, akademisch, wußten Sie, daß der junge Mann, Waldemar oder Ottokar, nun einige Emotionen empfinden muß. In Wahrheit empfindet er natürlich keine, Sie betonen seine körperliche Schwäche, Krankheit, gewissermaßen Unzurechnungsfähigkeit. Die edle Dame opfert sich für ihn, damit er Bomben werfen oder Pamphlete drucken lassen kann, – weiter geht nämlich Ihre Phantasie für den sozialen Märtyrer und Idealverbrecher nicht! Sie fühlt nichts, Sie versichern es uns ein über das andere Mal. Sehen Sie denn gar nicht, wie sowas widerlich ist?«
»Ich finde es groß,« sagte sie. Die Tränen traten ihr fast in die Augen, wenn sie an die ihr heiligen Stunden der Niederschrift gerade jenes Abschnittes dachte. Er beleidigte sie tödlich; sie haßte ihn.
»Na, weinen Sie nicht!« bat er spöttisch, sein Glas hinstellend. »Trinken Sie lieber Sekt! Sie werden ja jetzt in die Schule gehen und vieles lernen. Es ist bloß unverschämt, daß man sich einbildet, Bücher schreiben zu können, eh’ man das Alphabet weiß.«
»Ich habe mit meinen Büchern viele Freunde gefunden,« wehrte sie sich. »Viele denken wie ich.«
»Es hat immer mehr Esel als Menschen gegeben. Take my word: Sie gebären nie einen gesunden Jungen, rechtwinklig an Leib und Seele, auch literarisch, bevor Sie nicht – wie würde Adeline oder die alte Waschfrau sagen? Des Weibes Los getragen haben! Die biblische Schlange drückt es noch vielverheißender aus: Ihr werdet wie Gott sein und wissen, was gut und böse ist.«
»In allem, was Sie sagen, steckt etwas Wahres,« gestand Sybille Chavanais tapfer. »Sie sagen es in einer teuflischen und verzerrten Weise.«
»Solche Sachen sagt immer der Teufel. Eh’ Sie die Bekanntschaft dieses ehrenwerten Gentleman nicht machen, werden Sie nichts wissen, und noch viel weniger können. Darum aß Eva vom Apfel, und sie tat weise daran! Diese Erdbeere hier könnten sie wenigstens vorläufig probieren?«
Er hielt eine besonders schwere und saftige Beere lockend in der Luft.
»Wie ist’s Fräulein Sybille – Sybille – Wann und wo?«
»Ja, ich will mit Ihnen über Ihre Ideen sprechen,« sagte sie unwillig. »Aber nur sprechen!«
»Bon.« Zur Strafe verzehrte er die schöne purpurne Frucht selbst. »Wo sprechen wir?«
In der Potsdamerstraße stauten sich die elektrischen Wagen
sie krochen trägen, gepanzerten Bienen gleich. Sybille liebte den Blick von der Brücke über die Baumreihen und das Wasser, nach dem Platz wurde das Gedränge stärker, körperlich fühlbar, und ängstliche Gemüter fanden es gefährlich. Sie ging die Königgrätzerstraße nach dem Brandenburger Tor hinunter. Längs der Mauer des Reichskanzlerparkes war es stiller. Die Linden waren Sybillens Lieblingsgang, wenn sie durch das Tor trat, empfand sie den Straßenzug vor sich als eine Fanfare, wie Militärmusik. Überall sah man militärische Bilder, die Torwache, den alten Fritz, Uniformen, Denkmäler und Paläste. Sybille hatte ein sehr intensives Preußengefühl, ihr gefiel die Straffheit und Zucht. Sie stak so zugeknöpft in ihrem knapp anliegenden Kleid aus starkem, englischen Stoff.
Vor dem Gitter, neben der Nationalgalerie, hielt ein Kupee mit elegantem Kutscher und einem einzelnen Traber, der Kutscher hatte das Pferd gewendet, fuhr nach Hause, nach dem Tiergarten, zurück. Sie wußte sogleich, daß es Orffs Wagen sein mußte, vielleicht sah sie darum, unbewußt, das Gefährt so genau an; es hatte graues Seidenpolster inwendig, an einer Seite, im Halter, staken Zeitungen.
Ihr Weg, an dem häßlichen Monument vorbei, führte durch die große Eingangskuppel mit der vergoldeten Kurfürstenstatue. Die Säle und Gänge waren fast menschenleer. Orff stand vor der in den Zeitungen vielbesprochenen Büste. Er interessierte sich für Kunstgeschichte und hatte mit einigen Aufsätzen in exklusiven Zeitschriften Beachtung gefunden. »Fad, glatt und hohl!« sagte er. »Wir sind in unserer Gesamtheit heute grüne Barbaren wie unsere Vorväter, Siegfried, der Renommierrüpel, oder Hagen, der Chauvinist. Im Individuum, nicht in der Generation, durchlebt sich die Weltgeschichte.«
»Und wieviel Jahrhunderte haben Sie gelebt, bitte?« fragte Sybille lachend.
»Fast sind Sie noch hübscher im Straßenkleid, als im Ballsaal. Die Verhüllung ist bei Ihnen noch stärkere Koketterie.«
»Ich mag nicht, daß Sie mir Fadheiten sagen! Sie sollen mich belehren.«
Er warf ihr einen prüfenden halben Blick zu, ob sie im Ernst sprach. »Was veranlaßt Sie eigentlich, mir die Ehre des heutigen Rendezvous zu geben?«
Sybille zögerte. Sie standen im Botticellisaal, vor dem Bilde, das eine Krönung der Jungfrau darstellt. Ekstatisch bleiche Jünglinge mit umschatteten Augen hielten Lilien und Kerzen, eine angegriffene Jungfrau mit dem Kinde sah von der Wand gegenüber. Auf raffiniert schwarzem Hintergrund reckte die Venus in fast schmerzhafter Verrenkung die weißen, matten Mädchenglieder. – Heute schrieben wir einfach Mieze Meyer! fiel ihm ein.
Sie sagte kühl: »Sie sind mir unangenehm. Sie haben etwas Spöttisches, das mich reizt. Ich glaube, ich würde einen Widerwillen haben, von Ihnen angefaßt zu werden. Deshalb bin ich wohl hier.«
»Können Sie formulieren, was Sie eigentlich zu erfahren wünschen? Wir müssen hinausgehen, denn es ist zu fatal, daß ich hier keine Zigarette anstecken kann.«
Das Mädchen schritt achtlos neben ihm her. »Erstens möchte ich wissen, ob zwischen dem Körper, einem rein körperlichen Vorgang und dem geistigen, der Seele also, ein Zusammenhang besteht. Ich glaube es nämlich nicht, und will es mir beweisen. Zweitens –« sie stockte.
Er wiederholte: »Zweitens?«
Sie zwang sich zu dieser Antwort, sprach langsam und suchend. »Sie haben in einem recht, daß ich zu sehr in der Spekulation, rein gehirnmäßig, lebe. Mir wird immer vorgeworfen, daß ich keine Seele habe. Und ich hab’ keine. Ich kann jetzt nicht mehr anders. Nun muß ich es so oder so tun.«
»Dann kommen Sie zu mir,« bat er rasch. »Ich erwarte Sie morgen, an der Ecke Ihrer Straße, am Knie. – Sie geben sich ganz in meine Hand! Ganz?«
»Ja,« sagte sie.
Er lachte noch einmal: »Es ist die unglaublichste Sache, die mir je vorgekommen ist. Aber wenn Sie Mut haben, ich habe ihn! – Diese Verabredung gilt?«
»Sie gilt.«
Sie trennten sich, eigentlich nur mit einem Blick noch grüßend. Ihre Blicke waren die zweier Duellanten.
Für die Entschlossnen, die Geistigen
steht heute das echte Weib dem echten Manne ferner gegenüber als je. Zunächst: die Frauen sind ungeistig. Wenn man von ihnen sagt, daß sie Geist haben, so sagt das in bezug auf die Art jener Geistigkeit genau dasselbe, wie wenn man sagt, daß der Mond Licht habe. Niemand wird sein Leuchten bezweifeln, niemand den Wert seines Leuchtens; – aber es ist nicht ursprüngliches Licht. Es ist auch die Geistigkeit der Frau keine ursprüngliche Geistigkeit, sondern durchaus reflektierte. Nicht die einzelnen Wissensgebiete sind reflektiert, darauf käme es nicht an, sondern der Geist selber. Daher kommt es auch, daß die Frau, mag sie noch so hoch in der Bildung steigen, den Geist doch niemals wirklich ernst nimmt. Auch ihr höchster Typ verhält sich zu ihm in letzter Instanz spielerisch, des Mannes höchster Typ verpflichtend: der Mann kann sich opfern für den Geist; die Frau opfert sich nur für Mann und Kinder. Geist ist sekundäres männliches Geschlechtsmerkmal.
Der Wagen erwartete sie an der Ecke der Straße
die immer menschenleer und schweigend war. Orff stieg nicht aus, er öffnete nur den Schlag und ließ Sybille einsteigen. Der Tag war neblig und regenfeucht, alles schien Auflösung, Schlamm und Tropfen. Er packte sie gleich mit gewollter und äußerster Brutalität an der Kehle. »Wenn du schreist, erwürge ich dich! Ich bereite dir einen öffentlichen Skandal!«
Sie wehrte sich gar nicht. Es war ein einfacher Akt körperlicher Vergewaltigung. Jedes Denken, irgendeine Stimmung, blieb dabei ausgelöscht.
Was ist Antifeminismus?
Sorge für die Zukunft. Es könnte sein, daß die nächste Zeit geschlossene Männerbünde liefert, die dem Geiste verfallen sind. Führt nur eine Frau in solch einen Bund, und das Rückenmark wird lahm! Noch einen Einwand gegen den Feminismus: die Frau hat nur ein Gesellungsprinzip, der Mann zwei. Die Frau tendiert unbedingt und allein nach der Familie, der Mann nach der Familie und der Männlichen Gesellschaft. In der Männlichen Gesellschaft herrscht das wichtige Beziehungsverhältnis zum überlegenen Manne, das Gefolgschaft heißt; die Frau aber steht zum überlegenen Manne im Verhältnis der Hörigkeit. Es ist freilich schwer, der Freundlichkeit jener Zerstörerinnen zu widerstehen, denn sie sind wirklich ein ausgezeichnetes Geschlecht von Mädchen. Und das Herz muß bluten – muß! – bei dem Gedanken, sie wieder in die würdelose Verlogenheit ihrer bisherigen Erziehung zurückzustoßen: aber alle Lösungen sind flach, die nicht tragisch sind.
Eine neue Geschichte, rief jemand
diese Leere ist ja unerträglich!
Sprechen wir also von der Siedlung
Seit langer Zeit hat es einzelne gegeben, die mit ihrer Lage und schimpflichen Umgebung aktiv unzufrieden waren, sich zusammentaten, die Städte verließen und auf dem Lande eine Siedlung begründeten. Es geschah das in Nordamerika, Brasilien, Australien, in England, der Schweiz und anderswo. Diese Versuche sind auch durchaus nicht immer gescheitert; manche Siedlungen der Art gedeihen heute noch. Manche leben so in weitgehendem Kommunismus; andere, die z. B. Gegenstände herstellen, die auf dem kapitalistischen Markt gesucht sind, etwa kunstgewerbliche Arbeiten, haben nur eine Art Verkaufsgenossenschaft.
Was wir wollen, ist anderes als diese Unternehmungen. Unser Fortgehen ist nicht um unsres Behagens willen, sondern um unsretwillen, das heißt um der Revolution willen. Unsre Bewegung ist eine, die von den Jahrhunderten herkommt und in die Jahrhunderte hinausgeht. Wir wollen das Schaffen der Verbrauchsgüter in unmittelbare Verbindung mit den bedürfenden Menschen bringen; wir wollen die Grundform der neuen, der wirklichen, der sozialistischen, der freien und staatlosen Gesellschaft schaffen: die Gemeinde. Wohin wir blicken, sehen wir Aufgaben vor uns. Lauter unbestelltes, öd gelassenes Land; man hat uns alles überlassen, wir sehen nirgends, daß ein Anfang zum Wirklichen gemacht worden ist. Es liegt alles brach um uns, es ist alles verfallen, es regt sich fast noch nichts da draußen; wenige sind wir und jeder unter uns möchte sich verzehnfachen, möchte den Tag spalten, damit mehr Zeit sei, möchte hundert Arme haben, um überall mitanzugreifen: es ist eine Lust zu leben!
zwischen Auf- und Niedergehen der Gestirne
lag die Masurenlandschaft blaß und farblos da. Die Siedelung Gemeinsamkeit bestand aus zwei Gebäuden, das größere kehrte der Chaussee die Rückenseite zu, schmale Fenster in einer glatten Mauer, an der die weiße Tünche abgefallen war. Ein schmales, altersschwaches Holzhaus bog sich nach vorn, die Verzierungen seiner vom Wind kraus zernagten Oberfläche glichen Runenzeichen aus einer heidnischen Epoche. Hinter dieser Anlage fing der Garten an. Seine besonderes Gepräge erhielt er durch den See, in den er sich gleich einer Zunge streckte, ihn so begrenzend, daß eine dickstämmige Linde die Fülle und den Duft der Blüten aus ihren weittragenden Zweigen in das Schilf verstreute.
Sabine Urbschad hüpfte die Freitreppe hinunter und wollte sich zum Wasser wenden. Kam der gedämpfte Ton, der sich wiederholte, aus den Wirtschaftsbaulichkeiten? Mit nackten Füßen in ledernen Sandalen lief sie dem Schall nach, sah in dem Schuppen ihren Bruder Hubert stehen, über einen Gegenstand gebeugt, gegen den er vorsichtig den Hammer führte. Sabine staunte Huberts Arbeit, einen großen Lehnstuhl, an. Man müsse Kornelie mit in das Vertrauen ziehen. Auf der Ebene des Hügels am jenseitigen Seeufer hatten die Siedler eine Halle aufgerichtet, die Feier, mit der das Bauwerk übergeben werden sollte, war von der Jugend in Heimlichkeit ersonnen worden.
Von einer Südamerikanerin geboren, hatte Kornelie Urbschad der Mutter dunkles Kolorit geerbt, und das schwarze Haar umschloß den Schädel wie ein Helm; es waren die dichten, zu einem schwarzen Strich geeinten Brauen, die ihren Blicken, auch jetzt, da sie auf dem Sessel ruhten, etwas Finsteres verlieh. »Woher kommt dieser Brokat?«
Hubert verzögerte sekundenlang die Antwort: »Vera Petroff, ein Überbleibsel ihrer Vergangenheit.«
Die Geschwister lachten, aber Kornelie schalt die Russin eine Scheinheilige, die immer irgendwo ein Häuflein Schlamm verborgen halte, um die Reinheit der Gemeinde damit zu beschmutzen.
Mathias Urbschad, gewohnt, als erster den Gutshof zu betreten, vernahm befremdet die Seinen im Streit miteinander. Doch er vergaß nach einem Grund zu fragen, ihn erfreute die Entwicklung von Huberts Geschicklichkeit. Kornelie benagte ihre Unterlippe. »Und du mißbilligst nicht, daß der Stuhl mit einem von Vera Petroffs Sündenkleidern überzogen worden ist?«
»Du vergißt, daß wir uns vereinigt haben, nicht um zu richten, sondern um zu lieben.«
Die Bewohner des Masurenhäuschens traten in den Garten. Peter Vogtherr, ein hochaufgeschossener blondhaariger Junge, der schwarzhäutige Ephraim Lewicki, Helene Vogtherr, Peters Mutter, und Albert Krelle, ein Dreißiger. Tritte kamen aus dem kleinen Anwesen. Familie Sodählen beherbergte dort zwei Genossen, den Caspar Hucke und den Klemens Hassenkamp. Voran schritt Karl Sodählen, dürr wie ein Stecken, in seinen Kleidern hängend, als habe er darin geschlafen, hinter ihm Hermann, sein Ältester, und der geschmeidigere Otto. Caspar Hucke, klein, einen braunen Bartkranz um den genießerischen Mund, mit Fie Sodählen, einer sommersprossenreichen Magd. Am weitesten blieb das letzte Paar zurück: Miete Sodählen mit Klemens Hassenkamp, der, hühnenhaft, sich im Gespräch weit zu dem üppigen flachsblonden Mädchen herunterbeugen mußte.
Die kleine Diele des Haupthauses, in dem die Siedler ihre Mehlsuppe verzehrten, war durchschwirrt von Stimmen. »Kruppzeug, kindisches,« brummte Karl Sodählen in sich hinein, »meint, Landarbeit ist Spielerei.« Er ging hinaus, um den Glockenklöppel anzuschlagen. »Fangt an!« Die Diele wurde leer. Mathias vergönnte sich noch Muße, ehe er sich an den Schreibtisch setzte.
Die sogenannte Geschichtswissenschaft
kann uns zu nichts führen als immer wieder gerade zu den ersten Daten der Erfahrung zurück. Sozialpsychologie ist die vorläufig raffinierteste Art, die Hilfskonstruktionen des Gedächtnisses in den Rohstoff der Erfahrung, d. h. in die elementaren Beziehungen von Mensch zu Mensch aufzulösen. Die Hilfskonstruktionen der Geschichte: Kirche, Staat, Ständeordnung, Klassen, Volk usw. sind nicht nur Instrumente der Verständigung, sondern vor allem Schaffung neuer Tatsächlichkeiten, Gemeinschaften, Zweckgestalten, Organismen höherer Ordnung. In der Geschichte schafft der schöpferische Geist nicht theoretische Erkenntnisse; darum ist es auch ganz recht und ist es bezeichnend, daß die Ausdrücke Geschichte und Politik ebenso das Geschehen und Tun meinen, das Aktivität ist, wie die Betrachtung, die passiv oder neutral sein will, meist aber nur latentes Wollen und Handeln ist. Wir haben im Deutschen ein gutes Wort für diese Konzentration und Beschauuung: Vergegenwärtigung. In der Tat wird in aller Geschichte das Vergangene vergegenwärtigt, zur Gegenwart gemacht. Jeder Blick in Vergangenheit oder Gegenwart menschlicher Gruppierungen ist ein Tun und Bauen in die Zukunft hinein.
Ein Hobel kreischte und verstummte
Mathias beobachtete, wie nahe die mit Tannenwald bestandenen Erhebungen des jenseitigen Seeufers heranzurücken schienen und daß der Wind nach Westen umgesprungen war. Er sah Vera Petroff, wie verführerisch sie sich in den Hüften wiegte, und es rauschte um sie, als knistere Seide unter ihrem nonnenhaft geschnittenen dunklen Gewand. Sie ging in den Gemüsegarten, um das Unkraut auszujäten; aber würde sie nicht in einer halben Stunde wiederkommen, Blumen an die Brust gedrückt, begierig die Zimmer damit auszuschmücken. Er lächelte, als seine Frau zu ihm ins Zimmer trat und als Bob und Evelyn Kennel in die Stube hüpften. Die Zwillinge, kurz vor der gemeinschaftlichen Abfahrt von Amerika, halb erfroren in einer New-Yorker Straße aufgegriffen und, da der Polizeiaufruf erfolglos blieb, in eigener Fürsorge behalten, waren für ihre sieben Jahre klein und bleich, als fehle ihrer Haut die Kraft, die Sonne mit den Poren einzusaugen.
Urbschad trank hastig einen Becher Milch, steckte das gestrichene Brot in seine Tasche und ging davon, um seinen Rundgang durch die Felder zu beginnen. Noch war der Himmel rein, nur an den Rändern des Horizonts wie von einem durchsichtigen Rauch umzogen. Urbschad hatte den alten Kleeschlag, auf dem Karl Sodählen und sein Ältester mit den Brachvorbereitungen beschäftigt waren, halb erreicht. Der Alte ließ den Pflugschar stehen: »War ich just auf dem Weg, den Herrn zu holen.« Es war Mathias bisher nicht gelungen, den ungebildeteren Genossen den Ton der Gleichheit beizubringen. Auch Karl Sodählens Haltung zeigte Unterwürfigkeit, in die sich aber etwas wie überlegenes Mitleid mischte. Not am Mann, die Arbeit brenne auf den Nägeln, sollte da das Theaterspielen auf dem Berge wirklich unaufschiebbar sein? Außerdem stecke ein Gewitter in der Luft, das Heu liege getrocknet auf den Wiesen. Und er verlangte, daß sich alle Hände regten, auf die Gefahr hin, daß diese Forderung dem Vergnügen der jungen Herrschaft in die Quere käme.
Am Abend speiste man im Garten. Dicht an der Hecke, die See und Grundstück von einander trennte, war die Tafel aufgestellt. Über dem Wasserspiegel, der metallisch glänzte, stand die Luft wie eine schwere Masse. Zeitiger als sonst ging die Gesellschaft auseinander. Mathias, allein, lag auf einem Gartenstuhl und starrte in den dichtverschlossenen Himmel, über den von Zeit zu Zeit ein grelles Leuchten zuckte, als brenne hinter dem Gewebe seiner Wolken das Firmament.
Wir leben zumeist in geschlossenen Räumen