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1.3 »Sois jeune et tais toi«:1 der Ausbruch des Mai 68 in Frankreich
Während in der Bundesrepublik die Hauptphase der 1968er-Studentenbewegung die Jahre 1967 und 1968 umfasste und von unterschiedlichen Ereignissen geprägt wurde, die den Revolutionsenthusiasmus der Studenten ständig erneuerten, kristallisierte sich in Frankreich der Höhepunkt des Aufruhrs in den Vorkommnissen des Mai 68. Die Intensität der Proteste, die hohe Zahl der Beteiligten, die auf beiden Seiten der Barrikaden standen – Studenten und Arbeiter vs. Staatsmacht und Polizisten –, das beispiellose Medieninteresse für die Widerstandsaktionen und die Verbreitung aufgeheizter Reaktionen in der öffentlichen Meinung trugen zum Stilisieren des Mai 68 als Mythos bei und machten sie zur Standarte der Studentenbewegungen in Europa.2 Der Mai 68 war jedoch kein isoliertes Ereignis im Kampf der jungen Franzosen für eine Veränderung des Establishments: So wie in anderen westeuropäischen Ländern fanden die jungen Franzosen die Triebkraft für ihre révolution in einer Wirklichkeit mit zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen.
1967 erlebte Frankreich eine Verlangsamung des seit dem Zweiten Weltkrieg andauernden wirtschaftlichen Wachstums, was zur Implementierung eines Sparmaßnahmenkatalogs im öffentlichen und im privaten Wirtschaftssektor führte. Die Befürchtung, dass eine Krise und eine Rezession, wie sie auch andere große Mächte wie die Bundesrepublik, das Vereinigte Königreich und die USA erlebten, sich auf das unternehmerische und industrielle französische Netz ausbreiten würden, führte zu einer Zügelung in der von General de Gaulle betriebenen politique de grandeur – eine Politik, die neben der Betonung der Autonomie Frankreichs in Bezug auf die Außenpolitik auf ständigen ökonomischen Fortschritt basierte. Die Implementierung dieser Maßnahmen führte zu allgemeiner Unzufriedenheit der Arbeiterklasse, die unter Kaufkraftverlust und geringen Möglichkeiten in der Karriereentwicklung litt. Die junge Generation, besonders die Studenten und Studienabsolventen, spürte ebenfalls diese Unzufriedenheit und sah sich in einer prekären Lage wegen der fehlenden beruflichen Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt und den steigenden Arbeitslosenbeiträgen.3
Entscheidend für die Zuspitzung der Jugendproteste im Verlauf des Jahres 1968 waren die von der jungen Generation gefühlte Ausgrenzung von der Gesellschaft und die Krise im Hochschulwesen.4 Trotz der seit einer halben Dekade vorgenommenen Änderungen infolge der Bildungsreform der Minister Christian Fouchet und Alain Peyrefitte, die eine Umgestaltung des Hochschulwesens anhand einer hauptsächlich ökonomischen Perspektive beabsichtigten, sahen sich die französischen Studenten am nde der 1960er-Jahre in einem defizitären Bildungswesen.5 Die Überfüllung der Hörsäle, ein zu kleiner Lehrkörper gegenüber der hohen Studentenzahl, die Wertlosigkeit der akademischen Abschlüsse und Diplome, sowie der autoritäre und elitäre, obsolet gewordene Lehrstil, waren allgemeine Probleme der Universitäten. Diese Probleme bestanden seit Langem sowohl innerhalb der Universitäten als auch auf den neuen Campus, die im Verlauf der 1960er-Jahre in der Peripherie der großen Städte entstanden waren, um der wachsenden Zahl der Studenten zu begegnen.6 Trotz der modernen Bauweise waren diese Universitätsgelände nicht geeignet, die Erwartungen an eine Erneuerung der Ausbildungsstrukturen zu erfüllen und wurden durch den Gegensatz von moderner Architektur und akademischer Stagnation selbst zu Gründen weiterer studentischen Proteste.
Es war auf dem Campus von Nanterre, einer Dependance der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Sorbonne in der Umgebung von Paris, wo die Studentenrevolte begann, bevor diese sich in die Hauptstadt verlagerte. Am 22. März 1968, im Anschluss an die Festnahme von Aktivisten durch die Polizei bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Paris, entschieden sich Cohn-Bendit und unterschiedliche kommunistische Gruppen, Trotzkisten, Marxisten und Anarchisten aus Nanterre, dazu, in den Verwaltungsturm der geisteswissenschaftlichen Fakultät einzudringen und den Raum des akademischen Rats zu besetzen. Dabei forderten sie die Einrichtung einer sogenannten kritischen Universität (vgl. Gilcher-Holtey, 2008: 112), d.h. eines neuen Universitätsmodells, das auf kritischem Denken und auf freier Meinungsäußerung basierte.7 Im Verlauf der Monate März und April erlebte Nanterre eine Eskalation des Aufstands. Die Studenten organisierten Demonstrationen, Examensstreiks und Boykotts der Lehrveranstaltungen im Protest gegen die Universität, gegen die Polizei und auch gegen einen stark bürokratisierten und zentralisierten Staat, der traditionell aus geschlossenen Institutionen bestand, welche staatlichen Anordnungen unterstanden (vgl. Judt, 2010: 411). Jedoch war es erst Anfang Mai, als sich die Bewegung aus der Umgebung zur Sorbonne und in die Straßen der Hauptstadt verlagerte, dass die Jugendproteste größere Ausmaße annahmen: Die Verwandlung von Paris in ein »Schlachtfeld« – ein Ereignis, das seinen Höhepunkt in der »langen Nacht der Barrikaden« fand8 – sowie die Solidarität zwischen Studenten und Arbeitern während der Generalstreiks, die das Land wochenlang lahmlegten, sind Ausdruck der Radikalisierung des Protestes gegen die Polizeigewalt und den Autoritarismus eines von de Gaulles dominierten Staats.9
Während der Maiaufstand die Abgrenzung der jungen Menschen von den konservativen Werten der Fünften Französischen Republik – mit ihrem schon 77-jährigen General de Gaulle an der Spitze – deutlich machte, trug er auch dazu bei, die Unzulänglichkeiten der nationalen und internationalen Politik der damaligen Regierung offenzulegen. Dafür war der Protest der Studenten gegen den Vietnamkrieg ein Beleg. Trotz seiner offiziellen Stellungnahme, in der de Gaulle den Krieg verurteilt, zeigte er sich unfähig, diese Position gegenüber den US-Amerikanern mit Nachdruck zu vertreten, und lehnte es sogar ab, das Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal auf französischem Boden stattfinden zu lassen (vgl. Fauré, 1998: 19). Da die junge Generation den Algerienkrieg um die Unabhängigkeit von Frankreich nicht vergessen hatte, entschied sie, ihre Empörung in Bezug auf den US-Imperialismus und auf die unterwürfige Haltung anderer Großmächte nicht zu verschweigen.10 Dem Schweigen des gaullistischen Frankreichs auf der internationalen Bühne entgegneten die jungen Protestler mit der Unterstützung der Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt. Darüber hinaus solidarisierten sie sich mit den Bürgern aus ehemaligen Kolonien oder diktatorischer Regime, die in beklagenswerten Umständen in den Vororten großer französischer Städte lebten.11
Noch bevor die Streitfälle in den Universitäten und die Tumulte in Paris zu Sinnbildern der Utopie des Wandels der jungen Franzosen wurden, hatten diese schon andere Barrikaden gegen die vorherrschenden Gebräuche der konservativen gaullistischen Gesellschaft errichtet. Beeinflusst von der Kultur des Rock’n’Rolls ahmten die jungen Menschen im Verlauf der 1960er-Jahre den Stil der Stars des yéyé wie Johnny Hallyday, Sylvie Vartan und Claude François nach – eine von den anglosächsischen Rhythmen inspirierte Musikrichtung, die das Bewusstsein der Teenager und Twens jener Zeit revolutionieren sollte (vgl. Joffrin, 2008: 39) – und ließen sich von den Drogen und der Hippiebewegung anstecken. Ende der 1960er-Jahre wurde auch in den großen Metropolen die Herausbildung unterschiedlicher Jugendkulturen, die sich der Massenkultur und -ideologie widersetzten, deutlich (vgl. Capdevielle/Rey, 2008: 140). Die Unangepasstheit der jungen Generation in Bezug auf die von der Konsumgesellschaft aufgezwungenen Moderichtungen fand auf unterschiedlichste Art und Weise Ausdruck, zum Beispiel durch die Zugehörigkeit zu künstlerisch-literarischen Gruppierungen wie den Beatniks, den Surrealisten oder den Existentialisten oder selbst durch die Zuschaustellung von Bärten und langen Haaren, den Stil Che Guevaras und Fidel Castros nachahmend.12
Zu diesem soziokulturellen Umsturz kamen auch andere Themen im Rahmen der sexuellen Revolution: Die Kämpfe für die Legalisierung von Verhütungsmitteln (durch das Neuwirth-Gesetz von 1967 umgesetzt) und für die Aufhebung der Geschlechtertrennung in Studentenheimen waren als eine offene Konfrontation dessen gedacht, was aus Sicht der jungen Menschen eine oberflächliche und obsolete Koketterie der Elterngeneration war.13
Mit dem Appell an die Phantasie, die Kreativität und Veränderung der Wirklichkeit versuchten die jungen Franzosen, sowohl das Schweigen, zu dem sie sich in politischer und medialer Hinsicht gezwungen fühlten, zu brechen als auch das Recht auf Andersartigkeit und Teilhabe an der Gesellschaft einzufordern.14 Die Ereignisse vom Mai 1968 waren im Laufe der Jahre Gegenstand verschiedenster soziologischer Interpretationen und noch heute ist man sich nicht ganz einig in Bezug auf die sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen des Geschehens dieser Zeit.15 Eins ist dabei jedoch unbestritten: Die »expérience utopique« (Morin et al., 2008: 41) [utopische Erfahrung] der jungen Menschen stellt sich sowohl als ein Meilenstein der soziopolitischen und kulturellen Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert als auch als eine Referenz im Rahmen der Studentenbewegung der 1960er-Jahre in Europa dar. So wie die Geschichtswissenschaftler Marcello Flores und Alberto De Bernardi behaupten: »È a maggio che il 1968 diventa il ‹Sessantotto›« (Flores/De Bernardi, 2003: 71) [Im Mai wurde 1968 zur 1968er-Jugendrevolte].
1.4 Die italienische 1968er-Bewegung: ein langer und heftiger Frühling
Am Ende der 1960er-Jahre war Italien ein weiteres demokratisches Land in Europa, in dem die junge Generation gegen die herrschenden Sitten rebellierte und heftig bis kämpferisch versuchte, das Signal zu einem politischen, sozialen und kulturellen Aufbruch zu geben. Die Studentenunruhen begannen 1967 in den Universitäten, verlagerten sich aber schon 1968 schnell auf die Straßen der Städte landesweit (vgl. Casilio, 2013: 130f.), wo sie bis Ende 1969 andauerten. Die italienische Protestbewegung fand in der Allianz von Studenten und Arbeitern die höchste Ausdrucksform eines gemeinsamen Willens, die autoritäre, stark hierarchische, wenig offene und konservative Realität zu reformieren – eine Realität, die nicht dem Partisanentraum von Freiheit, Fortschritt und Demokratie entsprach, der die junge Republik Südeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg bei ihrer Gründung angetrieben hatte.
Auf seinem langen Weg zur Demokratie kannte Italien große Fortschritte: Dank dem sogenannten »Wirtschaftswunder« am Ende der 1950er-Jahre und in der ersten Hälfte der 1960er und dem Wiedererstarken der Industrie beobachtete man eine Erhöhung der Kaufkraft und eine allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen sowie die Herausbildung einer modernen und urbanen Mittelschicht, die hauptsächlich freie Berufe ausübte und nicht so einem traditionellen Lebensstil folgte.1 Diese wirtschaftliche und industrielle Entwicklung führte jedoch keineswegs zu einer allgemeinen Liberalisierung der Gesellschaft (vgl. Azzellini, 2008: 173), die die Kritiker der traditionellen parlamentarischen Politik und die jungen Menschen für dringend erforderlich hielten, besonders wegen des Widerstrebens der politischen und akademischen Institutionen gegen jegliche Veränderung.
Neben den gewöhnlichen Krisen in den Regierungen war die Politik gekennzeichnet durch das Fehlen einer starken parlamentarischen Opposition im Parlament und durch Stagnation, Mangel an neuen Ideen und Vorschlägen.2 Als 1964 Aldo Moro an die Macht kam, wurde Italien von einer großen Koalition aus vier Mittelinksparteien regiert. Sie waren dennoch unfähig, sich über die Umsetzung struktureller Reformen zu einigen.3
Der Unmut der Studenten über die akademische Lage wuchs parallel mit der politischen Ziellosigkeit, dem Ansteigen der Arbeitslosenzahlen, den Streiks. In den Universitäten von Mailand, Rom, Pisa und Trient gab es erste Anzeichen einer Studentenbewegung, die sich ab 1965 verstärkten. Das war das Jahr, in dem im Parlament eine Reform des Hochschulsystems beraten wurde, deren Ziel es war, die Anzahl der Studienjahre zu reduzieren und die Bildung auf den Bedarf der Wirtschaft auszurichten (vgl. Frei, 2008: 166). Diesem Ansinnen widersetzten sich die Studenten und ergänzten die Liste der Kritikpunkte um die Starrheit des Curriculums und die zu geringe Anzahl an Dozenten, den Mangel an Kommunikation zwischen Professoren und Studierenden (vgl. ebd.) und das Fehlen einer demokratischen Entwicklung der akademischen Strukturen, die von der unhinterfragten Autorität der Professoren geprägt wurde. Über die akademische Realität in Italien am Ende der 1960er-Jahre schreibt Fred Halliday:
The Italian universities have a most authoritarian pedagogical tradition: professors teach courses from manuals they have themselves written, and both set and mark examinations themselves on these courses; this is clearly not a situation in which a critical approach to what the student is offered is advisable if he wishes to get good marks. (Halliday, 1969: 304)
1967 wurde zum ersten Jahr einer langen Periode von studentischer Mobilisierung (vgl. Flores/De Bernardi, 2003: 194). Die Studentenbewegung erlangte größere Ausdruckskraft, verstärkt durch die Protestinitiativen unterschiedlicher Spontangruppen, die an den Universitäten eine Vielzahl von Aktionen organisierten, welche lokalen wie internationalen Strömungen entsprachen.4 Nur um zwei Beispiele zu nennen: An der Universität von Trient war es die Debatte über den Vietnamkrieg, welche die Gemüter der Menschen befeuerte und die Revolte auslöste (vgl. Horn, 2007: 81). Dies führte zu den ersten Fakultätsbesetzungen und Streiks und verhinderte auch die fristgerechte und reguläre Eröffnung des akademischen Jahres 1967/1968.5 Und in Mailand fand das erste Sit-in im November 1967 in der Katholischen Universität statt. Dabei handelte es sich um eine Protestaktion, die gegen die Erhöhung der Studentengebühren organisiert wurde. Als die Anführer des Protestes exmatrikuliert wurden – unter ihnen der charismatische Führer der Studentenorganisation Movimento Studentesco (MS) [Studentenbewegung], Mario Capanna – brachte dies eine Welle der Solidarität unter den Studenten hervor.6 Ende 1967 und Anfang 1968 verbreiteten sich die Unruhen aus Trient und Mailand auf andere italienische Universitäten, wo unzählige Universitätsgebäude besetzt und Flugblätter verteilt wurden wie auch große Diskussionsveranstaltungen und Vorlesungs- und Prüfungsstreiks stattfanden.7
Am 1. März 1968 erfolgte jedoch eine Wendung der Studentenrevolte (vgl. Kurz/Tolomelli, 2008: 89): Die gewalttätigen Zusammenstöße von Studenten und Polizei vor den Toren der Architekturfakultät in Valle Giulia, in Rom, bedeuteten den Übergang zu den Straßenunruhen.8 Von diesem Tag an wurden Massendemonstrationen alltäglich und gewalttätig, die Städte wurden im Verlauf von 1968 zu großen Auditorien, in denen die Rufe nach einer radikalen Reform des Staates, nach Beendigung der Polizeirepression und gegen die konservative Presse lauter wurden.9 Die Annäherung von Studenten und Arbeitern wuchs ebenfalls ständig. Die Studenten solidarisierten sich mit der Arbeiterbewegung und verstärkten die Kampfesreihen des Proletariats bis 1970. Zum einen, dank der politischen und sozialen Bewusstwerdung, entschieden sich viele, »studenti-proletari« [Werkstudenten] zu werden, d.h. Studenten, die ihre Studien vor allem durch Fabrikarbeit finanzierten (vgl. Azzellini, 2008: 179). Zum anderen nahmen die jungen Menschen aktiv an den politischen Aktionen verschiedener Gruppen teil, die am Rande des Parlaments entstanden, und auch an den Streiks, die die Produktion in Unternehmen wie Pirelli oder Fiat während des Frühlings und des »autunno caldo« [heißen Herbsts] 1969 lahmlegten. So wird in Italien die Phase bezeichnet, in der die Arbeiterbewegung und der Kampf gegen den Autoritarismus auf allen Ebenen der Gesellschaft ihren Höhepunkt erreichten (vgl. Giachetti, 2012: 867).10
Schon vor der Phase des antiautoritären politischen Aktivismus des Jahres 1968 hatten die jungen Italiener in kultureller Hinsicht ihre Ablehnung gezeigt. Durch Rock’n’Roll und Anderssein – lange Haare, nachlässige Kleidung und Auszug von Zuhause (vgl. Casilio, 2013: 104f.) – markierte man in Italien die Entstehung einer Beatgeneration, mit Gruppen wie den »provos« [Provokateuren] und den »capelloni« [Langmähnigen], die die soziokulturelle Avantgarde am Ende der 1960er-Jahre bildete. Mithilfe eines Ausschnittes eines Flugblattes der Gruppe Provos stellen Marcello Flores und Alberto De Bernardi das neue Ethos der jungen Menschen in der Zeit der Gegenkultur dar:
Non siamo figli, né padri di nessuno […] siamo uomini che non vogliono credere in niente e a nessuno: senza dio, senza famiglia, senza patria, senza religione, senza legge, senza governo, senza stato, senza polizia […]. Ecco siamo dei bastardi. (zit. nach Flores/De Bernardi, 2003: 167)
[Wir sind weder die Kinder noch die Eltern von irgendjemandem […] wir sind Menschen, die an nichts und niemanden glauben wollen: ohne Gott, ohne Familie, ohne Heimat, ohne Religion, ohne Gesetz, ohne Regierung, ohne Staat, ohne Polizei […]. Das ist es, wir sind Bastarde.]
Es war diese junge Generation, die es in den Studentenversammlungen wagte, Themen wie Scheidung, voreheliche sexuelle Beziehungen, Pille und Abtreibung anzusprechen. Dies waren Themen, die die Gesellschaft provozierten und herausforderten – eine Gesellschaft, die zwischen Katholizismus und einem unumkehrbaren Modernisierungsprozess in einer stetig stärker industrialisierten und globaleren Welt stand.11
Der »Frühling« der italienischen Jugendrevolte war zweifelsohne einer der längsten und intensivsten im Rahmen der westeuropäischen Aufbruchsbewegungen. Der Kampf der jungen Generation gegen die Repression fing mit der antiautoritären Bewegung in den Universitäten an und setzte sich allmählich für den Wandel eines politischen Systems ein, das viele als ineffizient und wenig transparent betrachteten (vgl. Borgna, 2012: 113). Die Revolte war gleichzeitig durch die Solidarität mit der Arbeiterbewegung, durch ein Bewusstsein für die Probleme der sogenannten Dritten Welt und durch die öffentliche Debatte über die Gültigkeit der katholischen Werte gekennzeichnet, die die italienische Gesellschaft prägten. Zu diesem Widerspruch eines Italiens im wirtschaftlichen Aufschwung und dennoch im Stillstand, was die Demokratisierung ihrer Strukturen betrifft, schrieben Marcello Flores und Alberto De Bernardi: Die 1968er-Bewegung war »un esito imprevisto e traumatico di una frattura sempre più profonda tra giovani e società […]« (Flores/De Bernardi, 2003: 191) [ein unvorhergesehenes und traumatisches Ereignis eines ständig zunehmenden Bruches zwischen den jungen Menschen und der Gesellschaft […]].
1.5 Öffnung vs. Beharren: die Dissidenz der jungen Spanier in den 1960er-Jahren
Wie bisher ausgeführt setzten sich Ende der 1960er-Jahre die deutschen, französischen und italienischen jungen Frauen und Männer im Kampf gegen die Repression ein, um die akademischen und politischen Institutionen transparenter und demokratischer zu machen. Die junge spanische Generation ihrerseits befand sich schon seit Langem in einem dauerhaften Kampf gegen ein autoritäres und unterdrückerisches System. Geboren nach dem Ende eines blutigen Bürgerkriegs (1936–1939), der Republikaner traditionalistischen Nationalisten gegenüberstellte, kannten diese jungen Spanier der 1960er-Jahre nichts anderes als eine militaristische, despotische und repressive Diktatur, die gewaltsam gegen alle vorging, die sich zu widersetzen wagten. Das antiparlamentarische, antiliberale und antikommunistische Regime des General Franco stützte sich seit 1939 einerseits auf eine Allianz mit der katholischen Kirche und andererseits auf ein Einparteiensystem, um das Leben der Menschen zu kontrollieren.1 Selbst nach dem Zusammenbruch des Faschismus in Deutschland und Italien am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Demokratisierungsprozess in vielen Ländern Westeuropas gab das repressive System nicht nach und blieb bis 1975, dem Todesjahr Francos, an der Macht.
Neben der politischen und ideologischen Kontrolle machte sich die autoritäre Führung des Franquismus auch im sozioökonomischen Bereich bemerkbar. Francos Beharrung auf einer Politik wirtschaftlicher Autarkie (vgl. Tosstorff, 2008: 189) brachte die spanischen Familien in den 1940er- und 1950er-Jahren in große Existenznöte. Nach der Periode von Armut, Rationierung und wirtschaftlicher Depression in der Zeit des Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs dauerten die Entbehrungen fort, verschärft durch eine Situation internationaler Isolierung.2 Während der 1950er-Jahre gab es punktuelle Anzeichen von Fortschritt dank der Kredite, die die USA dem Franco-Regime gewährten (vgl. Tusell, 2005: 156), und dank der beschränkten Grenzöffnung für Industrielle und die Bourgeoisie.3 Nutznießer dieser Fortschrittsanzeichen blieben dennoch lediglich die Geldeliten der großen Städte wie Madrid und Barcelona, die entwickelter waren als der Rest des Landes.
Der Wendepunkt von der Stagnation zum wirtschaftlichen Boom erfolgte am Ende dieser Dekade. Er wurde in erster Linie ausgelöst vom wachsenden Einfluss der mit dem Opus Dei verbundenen Technokraten in der Regierung, die Vertreter einer größeren Liberalisierung der Wirtschaft waren (vgl. Gracia/Ruiz Carnicer, 2004: 237), und nach 1959 dank des in Kraft gesetzten Stabilisierungsplanes. Dieser Plan, der Neuerungen brachte, war den (unproduktiven) Maßnahmen der Selbstversorgung entgegengesetzt, die das Regime vertreten hatte. Er begünstigte die Privatwirtschaft, belebte die Industrie und zog ausländisches Kapital an. Auf diese Weise bekam die nachfolgende Generation mehr Kaufkraft und Zugang zu den Neuerungen der Massenkultur. Außerdem gab es andere wichtige Faktoren, die den Weg für eine Veränderung der rückständigen und isolierten Agrargesellschaft in den 1960er-Jahren öffneten: das Aufkommen des Massentourismus (besonders in den Küstenregionen), die Migrationsbewegungen aus den ländlichen Gebieten in die großen Städte und die Emigration vieler Erwerbstätiger nach Frankreich, Belgien und in die Bundesrepublik. Letztere war entscheidend sowohl für Geldüberweisungen nach Spanien als auch für die Verbreitung internationaler Nachrichten aus demokratischen Ländern, die das Franco-Regime nicht mitteilte.
Es war die Erkenntnis des Widerspruchs zwischen dem Modernisierungsszenario und dem Beharren einer repressiven Politik, die den Aufruhr der jungen Generation jener Zeit ganz besonders im akademischen Milieu auslöste.4 Am Beginn der Dekade begann der Protest für die Autonomie der akademischen Strukturen hinsichtlich der Staatsorientierungen in Barcelona und sprang auf Madrid und andere Universitäten über (vgl. Gómez Oliver, 2008: 97).5 Für diese Generation war der wirtschaftliche und soziale Boom mehr als ein Vorwand, das Bildungssystem der Zeit nach dem Bürgerkrieg zu verändern. Dieses System war dem Nationalkatholizismus unterworfen und insistierte auf autoritären Konzepten wie der strikten Auswahl der Dozenten nach dem ideologischen Programm Francos (unabhängig von ihrem wissenschaftlichen Verdienst) und auf der Zwangsmitgliedschaft der Studenten in dem Sindicato Español Universitario (SEU), der einzigen vom Regime zugelassenen Studentengewerkschaft. Zwischen 1962 und 1966 gründeten die Studenten illegale Organisationen wie Federación Universitaria Democrática Española (FUDE) [Spanischer Demokratischer Studentenverband] und streikten, um so die Zulassung einer neuen Gewerkschaft zu erreichen. Diese sollte sie auf eine freie und demokratische Weise vertreten.6
Neben den Protesten im Rahmen der Arbeiterbewegung war es die Studentenbewegung, die wichtige Öffnungen in der Regierung erzwang. Diese wurden vom Informations- und Tourismusminister Manuel Fraga Iribarne vorangebracht, der im Laufe der 1960er-Jahre eine Reihe antiautoritärer Maßnahmen und die Überarbeitung des Pressegesetzes in Gang setzte (vgl. Kornetis, 2008: 256).7 Ab 1967 radikalisierten sich die Studentenproteste an den Universitäten und bis zu Francos Tod nahm die Repression gegen die jungen Oppositionellen durch Verhaftungen, Polizeieinsätze an den Hochschulen und Exmatrikulationen zu.
Die Franco-Diktatur unternahm alle Anstrengungen, um die Hochschulen unter Kontrolle zu halten – schwieriger war es aber, die Gegenkultur zu kontrollieren. Die Ablehnung der ultra-konservativen soziokulturellen Normen begann am Ende der 1950er-Jahre. Durch die jungen Menschen der oberen Mittelschicht verbreitete sich der Pop zunächst durch das Radio und den Musikimport aus Italien und den USA, danach durch Fernsehprogramme wie Escala en Hi-Fi. Einerseits führte die Begeisterung für Gruppen wie El Dúo Dinámico, Los Brincos und Los Bravos zu einem Wechsel in der Musikszene: Anstelle von früher geliebten traditionellen Stilen wie Copla, Bolero und Ranchera hörten die jungen Männer und Frauen Rock und Beat (vgl. Tusell, 2005: 188f.). Andererseits trug die Popmusik zur Aufsässigkeit der jungen Menschen bei, zur allmählichen Frauenemanzipation, zum Austesten von Drogen, zur sexuellen Befreiung und zur Hippiebewegung, die aus dem Ausland kam.8
Die Unterschiede zum Werterahmen der Elterngeneration wurden überdeutlich: Die jungen Spanier trennten sich sowohl vom traditionellen Nationalkatholizismus als auch von der durch die schnelle Industrialisierung geschaffenen Scheinwelt und schmiedeten aus Musik, Mode und freien und unverbindlichen Liebesbeziehungen ihre Protestwaffen gegen die alte Gesellschaft. Es ist damit eher den kulturellen als den politischen Veränderungen zu verdanken, dass diese junge Generation am Geist der Liberalisierung von jenseits der Pyrenäen teilhaben konnte:
Las experiencias que les aportaba el vivir su época, o si se quiere, el pertenecer a la generación de los Beatles emblemáticamente, los distanciaba por fuerza de sus mayores, a quienes les extrañaban sus actitudes y su talante en cambio, sus costumbres y maneras más libres y espontáneas […], sus gustos musicales, sus lecturas, sus aficiones y afecciones… Las inquietudes, expectativas y actitudes ante la vida se manifestaron en una especie clara de ruptura generacional. (Hernández Sandoica et al., 2007: 180; Hervorhebung im Original)
[Die Erfahrungen, die sie auf der Höhe ihrer Zeit machten, oder anders gesagt, die symbolische Zugehörigkeit zur Beatles-Generation, entfernten sie zwangsläufig von den Älteren. Diese wiederum empfanden die Verhaltensweisen und den Willen zum Wandel, die freien Sitten und spontanen Aktionen […], den Musikgeschmack, die Lesetexte, die Vorlieben und Tendenzen der jungen Menschen als fremd. Die Unruhe, die Erwartungen und Lebenseinstellungen zeigten sich in einem deutlichen Generationenbruch.]
Trotz der Einschränkungen bei äußeren Protesten versuchten die jungen Spanier der Mittel- und Oberschicht, ihren Veränderungswillen kundzutun. Dabei wandten sie sich gegen die Komplizenschaft ihrer Eltern mit einem Regime, mit dem sie nicht übereinstimmten. Außerdem hielten sich diese jungen Menschen an ihre politischen und kulturellen Idole, um es derem revolutionären Impetus gleich zu tun und sich auf diese Weise von einer ihrer Meinung nach vielfach in Isolation und sterilem Traditionalismus verharrenden Gesellschaft abzugrenzen. So wurde die junge Generation in den 1960er-Jahren zu einer bedeutsamen Antriebskraft für eine Vision von einem veränderten Spanien.