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1.6 Portugal in den 1960er-Jahren: eine Bühne für Utopie
Ähnlich wie Spanien erlebte Portugal während vier Dekaden eine lange Nacht der Diktatur und Unterdrückung. Der sogenannte Estado Novo [Neuer Staat] – die offizielle Bezeichnung des diktatorischen Regimes – wurde 1933 unter der Führung von António de Oliveira Salazar gegründet und orientierte sich an einer faschistischen, autoritären und repressiven Ideologie. Er durchdrang die portugiesische Gesellschaft der 1930er- und 1940er-Jahre, überlebte sowohl den Sturz der totalitären Regime von Hitler und Mussolini als auch die Auflösung der Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg und hielt sich bis zur Nelkenrevolution am 25. April 1974. Während seiner langen Existenz gab es oft Opposition gegen die rückwärtsgewandte, unterdrückende und reaktionäre Politik des Regimes. Dabei waren es vor allem die PIDE (Geheimpolizei) und die Zensur, die unnachgiebig die Bevölkerung kontrollierten und die dunkle Seite des Salazarismus verewigten. Dennoch wurde die Diktatur niemals so sehr erschüttert durch Unruhen, Widerstand und den Willen zur Veränderung wie während der 1960er-Jahre: Dank einer Reihe nationaler und internationaler historischer Ereignisse erlebte Portugal in dieser Zeit wichtige soziokulturelle Erneuerungen.
Am Vorabend der 1960er-Jahre begannen verschiedene Maßnahmen Früchte zu tragen: die Eingliederung Portugals in die Europäische Freihandelszone (EFTA), die Wanderung vom Land in die Städte und die Industrialisierung. Darüber hinaus trugen ein bemerkenswerter wirtschaftlicher Entwicklungsschub, das Anwachsen der Mittelschicht und die Erhöhung des Wohlstandes zu einer zunehmenden Modernisierung der Lebensumstände der Portugiesen bei. Besonders bei den bürgerlichen Eliten in den Großstädten, die gebildeter und mit mehr Kaufkraft ausgestattet waren, zeigte sich diese Modernisierung sowohl in der Möglichkeit, touristische Reisen ins Ausland machen zu können, als auch in der Vergesellschaftung in Cafés und Restaurants. Beide zeigten das Verlangen der Portugiesen, sich dem entwickelteren Europa anzunähern, und die Verbürgerlichung der portugiesischen Gesellschaft, in der sich Nachahmungen von importierten Moden, der Wunsch nach als unsittlich betrachteten Lesetexten und Lust auf abweichende Konsumgüter fanden (vgl. Mónica, 1996: 221).1
Neben dieser allmählichen soziokulturellen Öffnung muss die wichtige Rolle der Medien für das Durchbrechen der Isolierung gegenüber der Wirklichkeit auf der anderen Seite der Pyrenäen hervorgehoben werden: Trotz der Einschränkungen durch die Zensur leisteten die britischen, amerikanischen und französischen Musiksendungen im Radio und die täglichen Sendungen der Rundfunkanstalt Portugals (RTP), die die modernen Tendenzen der Musik, der Mode, des Sports und sogar der Werbung übertrugen, einen entscheidenden Beitrag zu einer Liberalisierung der Verhaltensweisen.2
Die Avantgarde dieser Liberalisierung waren die jungen Menschen, die sich, indem sie eine alternative Sicht auf das Alltagsleben annahmen, der europäischen jungen Generation durch die Kultur des Rock, Twist und yéyé so weit wie möglich annäherten. Außerdem schlossen sie sich den Trends des langen Haarschnitts, der Jeans und der Miniröcke an.3 Bei den einkommensstärksten und intellektuelleren Familien war der Generationsbruch deutlicher, da viele junge Portugiesen die Einflüsse der Unterhaltungsindustrie überwiegend mit ihrer Universitätserziehung verbanden, um die Autorität der Eltern in Frage zu stellen. Dort begann auch das (in)direkte Bekämpfen des geschlossenen Regimes, das seinem offiziellen Motto »Deus, Pátria e Família« [Gott, Vaterland und Familie] und den entsprechenden Werten des Katholizismus, eines totalitären Staates und traditioneller, konservativer Erziehung treu blieb.
Die provozierende Haltung vieler junger Menschen zu den etablierten Familienwerten und die Weltoffenheit der oberen Mittelschicht führten auch zu einer vorsichtigen, eher symbolischen Emanzipationsbewegung. Diese wurde besonders von gebildeten Frauen befürwortet, die sich in der patriarchalischen Gesellschaft des Estado Novo eingesperrt fühlten. Trotz des tief verwurzelten Konservativismus wuchs in den 1960er-Jahren die Zahl der Arbeitsmöglichkeiten für Frauen (vgl. Vieira, 2000: 26). Ebenso wuchs die Zahl der aus der Oberschicht stammenden jungen Frauen, die die Universität besuchten. Diese jungen Frauen hatten zum ersten Mal die Chance, sich intellektuell zu bilden, freie Berufe in der Anwaltschaft oder in der Medizin auszuüben und sich so von der traditionell einschränkenden Rolle der Ehefrau, Mutter und Hausfrau, die von den Vertretern des Regimes bevorzugt wurde, zu befreien (vgl. Mónica, 1978: 275f.). Neben diesen Aspekten muss auch die Verfügbarkeit der Anti-Baby-Pille ab 1962 als ein Meilenstein der Portugiesinnen auf dem Weg der Emanzipation erwähnt werden. Dadurch konnten sie ihr Verhalten in Richtung sexueller Revolution und größerer Unabhängigkeit vom Ehemann weiter profilieren.4
Parallel zu diesen Veränderungen im soziokulturellen Bereich konnten auch in der Politik Neuerungsversuche beobachtet werden. Angetrieben von der zunehmenden Modernisierung des Landes und dem Willen, Portugal aus der Diktatur zu befreien, war es einmal mehr die junge Generation von Intellektuellen, angeführt von den Studenten der Universitäten in Lissabon, Porto und Coimbra, die den Widerstand vorantrieb. Sie deckte während der 1960er-Jahre auf, dass das akademische System auf eine rückständige Weise funktionierte (vgl. Caiado, 1990: 74), und stand gegen die Repression des Estado Novo auf. 1962 führte das staatliche Verbot, den Tag der Studenten zu begehen, zu unerwarteten Reaktionen und entfesselte eine Reihe von Protesten wie u.a. Vorlesungsstreiks und Demonstrationen, die die erste sogenannte »akademische Krise« auslösten. Sie war ein Meilenstein für den Ausbruch dieser Generation, indem sie den Rahmen für die politische Bewusstwerdung dieser jungen Menschen bildete, die in den folgenden Jahren zu einem der kämpferischsten Teile des Widerstands wurden (vgl. Rosas, 1994: 539). Drei Jahre später, als innerhalb der Studentenorganisationen eine Phase der zunehmenden Politisierung der Jungen begann, wiederholten sich die Proteste mit starker Intensität. Marta Benamor Duarte charakterisiert die Studentenproteste ab 1965 und den Studentenkampf für eine Erneuerung der portugiesischen Hochschulinstitutionen folgendermaßen:
As possibilidades de agitação visível para fora da faculdade estavam seriamente limitadas pela violência policial; lá dentro vivia-se numa instituição caduca e incompatível com o processo desenvolvimentista do país. Assim, havia que continuar a contestar, mas a contestar a própria universidade e o que ela representava na realidade – a perpetuação do fabrico de ideólogos de um regime autoritário, insensível às necessidades da população em geral. E contestar a universidade era indagar da validade do que se ensinava nas salas de aula e da legitimidade de quem ensinava. Nascia a contestação pedagógica e robustecia-se a crítica de fundo ao regime. (Benamor Duarte, 1996: 644)
[Die Möglichkeiten eines in der Öffentlichkeit sichtbaren Protestes waren durch die Polizeigewalt stark eingeschränkt; innerhalb der Fakultät lebte man in einer überalterten und insofern mit dem Entwicklungsprozess des Landes nicht mehr übereinstimmenden Institution. So musste weiterhin protestiert werden, und zwar protestiert gegen die Universität selbst und gegen das, was sie repräsentierte: die ewige Produktion von Ideologen eines autoritären Systems, unsensibel gegenüber den allgemeinen Bedürfnissen der Bevölkerung. Der Protest gegen die Universität umfasste das Überprüfen des Wahrheitsgehalts der Dinge, die in den Seminarräumen gelehrt wurden, und auch die Legitimation derjenigen, die lehrten, stand auf dem Prüfstand. Es kam zu pädagogischem Widerstand und die Kritik am Regime wurde stärker.]
1969 lernte jedoch das Regime, von Coimbra ausgehend, die größte »akademische Krise« kennen: Examensboykotte, Aussperrungen aus den Fakultäten und Massendemonstrationen richteten sich nicht nur gegen die elitären Strukturen der Hochschulen, sondern auch gegen die autoritäre Politik des Staats und den Kolonialkrieg (vgl. Caiado, 1990: 194).5
Der Kampf gegen den Kolonialkrieg spaltete die portugiesische Gesellschaft während der Diktatur und war immer ein drängendes Anliegen der Studentenbewegung und der »akademischen Krisen« der 1960er-Jahre (vgl. ebd.: 132). Viele Mitglieder der intellektuellen und gebildeten jungen Generation empörten sich über die militärischen Anstrengungen, die in ihren Augen typisch für die Imperialisten und Kolonialvertreter waren.6 Sie sollten sich für eine hoffnungslose Ideologie verpflichtend einsetzen. Aus diesem Grund setzten sich viele junge Menschen für ein Ende dieses Krieges ein, der tausende Opfer kostete, und kritisierten die Unnachgiebigkeit des Diktators, der das koloniale Imperium unbedingt beibehalten wollte (vgl. Vieira, 2000: 24). Trotz der Strafmaßnahmen des Regimes wie Gefängnis, Folter, Exil oder Zwangsverpflichtung bei den überseeischen Kampfeinheiten waren diese Jungen entschlossen, die Gesellschaft zu liberalisieren. So schufen sie einen unüberwindlichen Abgrund zwischen sich und dem Salazarismus.7
Obwohl das Regime gegenüber Veränderungen feindselig und hartnäckig war, konnte es die zunehmende Neigung zur Öffnung, Freiheit und Emanzipation keineswegs aufhalten.8 Ermutigt durch den ökonomischen Fortschritt, die demographische Mobilität, die signifikanten Änderungen der Familienverhältnisse und die politischen Aktionen der jungen Generation gewinnt Portugal neue Hoffnung auf einen ersehnten Wandel. Ende der 1960er-Jahre nahm sie noch zu durch besondere politische Ereignisse.
Im Jahre 1968 bekam Portugal die Nachricht, dass – aufgrund einer schweren Erkrankung des Diktators – Salazar durch Marcelo Caetano als Oberster Führer der Nation ersetzt wurde. Caetano war vom ultrakonservativen Flügel weiter entfernt und gab Anlass zur Hoffnung auf eine gewisse Entspannung des Estado Novo, auf weitere Öffnung und Liberalisierung (vgl. Reis, 1996: 546).9 Mit einem neuen Mann an der Macht glaubten viele an einen bevorstehenden Sturz der portugiesischen Diktatur. Sie erwarteten das Ende der Isolierung und der Rückständigkeit Portugals:
No início da década de 60, só se falava em desenvolvimento, desenvolvimento e desenvolvimento. Os economistas defendiam que o país tinha de se abrir à Europa. […] Portugal iria modificar-se profundamente [ao longo da década; IG]. Alimentado pelas notícias que os emigrantes traziam lá de fora, estimulado pelas séries que a RTP começara a importar, invadido por turistas com hábitos estranhos, o país saía, por fim, da letargia. Quando, em 1968, Salazar caiu da cadeira, os valores que tentara inculcar aos Portugueses estavam moribundos. (Mónica, 1996: 224)
[Am Anfang der 1960er-Jahre wurde nur von Entwicklung gesprochen, Entwicklung und nochmals Entwicklung. Die Wirtschaftler traten für eine europäische Öffnung des Landes ein. […] Portugal sollte sich [während der gesamten Dekade; IG] grundlegend verändern. Durch die Nachrichten, die die Emigranten vom Ausland mitbrachten, angeregt von den von der RTP importierten Serien, geflutet von Touristen mit fremden Sitten, befreite sich das Land endlich aus seiner Lethargie. Als Salazar 1968 stürzte, waren die Werte, die er den Portugiesen einschärfen wollte, dabei abzusterben.]
Während einiger Monate im Jahr 1968 hofften viele in Portugal auf eine Transformation des Regimes.10 Jedoch dauerte es nicht lange, bis der Glaube der Portugiesen an Caetanos Reformwillen verblasste und sie einsahen, dass die Liberalisierungsversprechen sich in seinem Motto »evolução na continuidade« (zit. nach Rosas, 1994: 548) [Evolution in der Kontinuität] verflüchtigen würden. Von 1969 bis 1974 verhärtete sich das Regime gegenüber den Gegnern der Diktatur: Caetano antwortete mit mehr Gefängnis, Exilierungen und Zensur auf den Widerstand der Studenten und auf die Umsturzversuche der oppositionellen Gruppen oder der Militärs. Erst die Nelkenrevolution am 25. April 1974 ließ Portugal aus der langen Nacht der Diktatur aufwachen, in der es bis dahin gefangen war.
1.7 Schlussbemerkungen
Wie deutlich wird, ist die historische Wirklichkeit jedes hier untersuchten Landes ziemlich unterschiedlich. Sie wird durch die zahlreichen Ereignisse gekennzeichnet, die sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene die Art und Weise prägten, wie die junge Generation die Aufbruchsstimmung in Westeuropa im Laufe der 1960er-Jahre (und danach) erfuhr. Diese kaleidoskopische Wirklichkeit wird nicht nur durch die Vielfalt der Protestziele sichtbar (eher mit einem nationalen oder internationalen politischen Charakter oder eher auf die Sitten und Lebensweisen ausgerichtet), sondern auch durch die verschiedenen Protestformen, die von den jungen Deutschen, Franzosen, Italienern, Spaniern oder Portugiesen ausgewählt wurden, um ihren Widerstand auszudrücken.
Im Fall der Bundesrepublik und von Frankreich und Italien manifestiert sich die Neigung der jungen Menschen zur Veränderung der Gesellschaft sowohl auf der politischen als auch auf der soziokulturellen Ebene und es gibt eindeutige Gemeinsamkeiten. Die Jungen – vor allem die Studenten – fordern an den Universitäten zunächst mehr Reformen für eine Modernisierung (besonders der Lehrmethoden und der -inhalte) wie auch mehr Gelder für Bildung und mehr Demokratisierung, indem sie sich gegen die herrschende Atmosphäre von Hierarchie und Autoritarismus (verkörpert in der Figur des Professors) auflehnen. Aber ihr Wille nach Veränderung erstreckt sich auch auf die Politik, weshalb sie auf die Straße gehen und radikale Reformen innerhalb des ihrer Meinung nach zu lahmen, konservativen politischen Apparates verlangen, der es ihnen lange unmöglich machte, am Prozess der Willensbildung und Entscheidungsfindung teilzuhaben. Darüber hinaus – und trotz der Unterschiede zwischen den Ländern – zeigen die jungen Menschen auch einen gemeinsamen Willen, den etablierten Wertekodex herauszufordern, der durch die moralisierende Wertschätzung der sogenannten guten Sitten geprägt wird. Diese Ähnlichkeiten manifestieren sich in der sexuellen Befreiung (freie Liebe, Partnertausch, Beziehungen ohne Verpflichtungen), in der Kultur des Beat und Rock, in der Mode mit Jeans und langen Haaren oder im offenen Umgang mit Drogen und in dem Hippiemotto peace & love.
In Spanien und in Portugal, wo das politische Leben durch das diktatorische Regime bestimmt wurde, war die Wirklichkeit anders, da die Freiheit der jungen Spanier und Portugiesen zum Protestieren und zum Demonstrieren eingeschränkt und dadurch die Aufbruchsstimmung nicht so ausgeprägt war. Trotz allem fehlen auch hier nicht die Zeichen jenes Willens, die Gesellschaft zu verändern, sichtbar nicht nur in den Universitäten (in Form von Demonstrationen gegen das Hochschulsystem und gegen das Regime Francos und Salazars), sondern auch in der Art und Weise, wie die junge spanische und portugiesische Generation sich gegen den Status quo auflehnte und dabei versuchte, die Vorteile einer zunehmend globalisierten Welt zu nutzen, um die alternativen Tendenzen der Gegenkultur jenseits der nationalen Grenzen zu verfolgen und zu erfahren.
Trotz der landesspezifischen soziopolitischen Besonderheiten teilt die junge Generation in der Bundesrepublik und in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal den gemeinsamen Willen, ihren Dissens gegen das Establishment durch Provokation, Irreverenz und Aufsässigkeit auszudrücken. Das tut sie sowohl mit der Teilnahme an Protestaktionen und Demonstrationen, die die Widerstandshaltung der jungen Generation in den Vordergrund rücken, als auch mit dem Versuch, die jüngsten nationalen und internationalen Ereignisse zu begleiten und dazu ihre Meinung zu äußern. Viele von diesen soziopolitischen und kulturellen Ereignissen werden in den verschiedenen literarischen Werken, die zum Textkorpus der vorliegenden Arbeit gehören, bearbeitet. Sie sind entscheidend für die Räume und Milieus (u.a. Plätze, Straßen, Familie, Studenten-, Arbeiter- und Protestmilieu), die in den Texten geschaffen bzw. dargestellt werden, wie auch für den Aufbau der Diegese und sie haben einen direkten oder indirekten Einfluss auf den Weg der unterschiedlichen Protagonisten der jungen wie auch der älteren Generation von Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso, Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas.
2 Darstellung der Prosawerke
Als Nachwirkung der intensiven Jahre des akademischen Aufruhrs und der Unzufriedenheit der jungen Generation mit dem soziopolitischen Status quo am Ende der 1960er-Jahre kam die historische, politische und soziokulturelle Bewegung der roaring sixties in der literarischen Szene wieder zum Leben. Sie fand in verschiedenen Prosawerken in der Bundesrepublik, in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal Ausdruck. Thematiken wie die Studentenrevolte, der Generationenkonflikt und der transnationale und transkulturelle Prozess der Kampferfahrungen gegen das Establishment hallen in jedem dieser Werke in vielfältigen individuellen und kollektiven Erlebnissen der jungen und nicht mehr jungen Figuren wider, die die historische Epoche der Protestkultur in den 1960er-Jahren erleben.
In diesem Kapitel werden die untersuchten Prosawerke einzeln analysiert. Dabei werden die Aspekte hervorgehoben, an denen sich die Ideologie- und Generationsspaltungen beobachten lassen. Nach einer kurzen Einordnung der Texte in das Werk des jeweiligen Autors und ihren literarischen Kontext werden die Erzählstrategien und der ästhetisch-literarische Ansatz der jeweiligen Prosawerke kommentiert. Danach wird in erster Linie fokussiert, in welcher Beziehung die Protagonisten und die Figuren der beiden im Streit befindlichen Generationen zur jeweils erzählten allgemeinen Geschichte jener Epoche stehen. Dabei wird ihre Rolle, sei es als Akteure oder Mitläufer, im Kontext der von ihnen erlebten Veränderungen reflektiert. Obwohl sie keine historischen Dokumente sind, stellt jedes der Werke ein fiktionales Bild jenes zeitgeschichtlichen Kontextes dar und rückt verschiedene Ereignisse in den Vordergrund, die die Diegese durchziehen und die mit der individuellen Wirklichkeit der Hauptfiguren verbunden sind. Hier werden die in den Texten erzählten Ereignisse behandelt, die mit dem antiautoritären Kampf verbunden sind, wie die akademischen Unruhen, der Generationenkonflikt und das nationale und internationale politische Tagesgeschehen. Diese Gegenstände der Erzählung zeigen die Verbindung zwischen der historischen Zeit und der individuellen Realität der Hauptfiguren jedes Textes. Anschließend, und wie in der historischen Zeit die Widerstandshaltung der jungen Generation sich nicht nur auf politischen Aktivismus beschränkte, werden andere öffentliche sowie private Momente in Augenschein genommen, die den Bruch der jungen Menschen mit den vorherrschenden Lebensentwürfen bedeuten: Das Ausleben der freien Liebe und der sexuellen Emanzipation ebenso wie das Auftauchen einer subversiven Gegenkultur sind einige der Zeichen der Aufsässigkeit der jungen Figuren, deren Darstellung in den Werken der Analyse bedarf.
2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm
2.1.1 Peter Schneider und Uwe Timm: die literarisierte Revolte in der Bundesrepublik
Nach dem Klima der Agitation, das an den Universitäten und auf den Straßen der Bundesrepublik 1967 und 1968 herrschte, erhielten die liberale Haltung der jungen Generation und ihre Erfahrung bei den Ereignissen des akademischen, politischen und soziokulturellen Aufruhrs Platz in der literarischen Szene. Sie zeigten sich in der literarisierten Revolte, d.h. in einer Reihe von Texten, die sich der fiktiven Darstellung der Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre widmeten.1 Herausgefordert durch die allmähliche Auflösung der Außerparlamentarischen Opposition (APO), durch das Auftauchen tiefer ideologischer Unterschiede, die zur Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) führten (vgl. Scott Brown, 2013: 106), sowie durch das Abflauen der Mobilisierung der jungen Generation für die Erneuerung der politischen und soziokulturellen Strukturen Westdeutschlands, wurde die antiautoritäre Protestkultur als literarisierte Revolte fortan in den Bereich der Literatur verlagert.2 Die literarische Produktion, die im Kontext der literarisierten Revolte erschien, entstand vor allem in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre durch eine neue Autorengeneration. Diese literarische Produktion fand in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre ihren inhaltlichen Schwerpunkt und sie konzentrierte sich sowohl auf die politischen als auch auf die soziokulturellen Erfahrungen, die die junge Generation während und nach der Revolte machte:
Es ist eine Zeit-Literatur im genauen Sinn des Wortes: Reflex persönlicher Geschichten und gesellschaftlicher Entwicklung, Verarbeitung von Erlebnissen und Wandlungsprozessen, auch Kritik und Distanzierung festgefügter Standorte und Positionsbestimmungen. (Schnell, 2003: 388)
Im literarischen Milieu debütierend und vereint durch die Erfahrungen im Rahmen der intensiven Jahre der Studentenbewegung von 1968 (vgl. Talarczyk, 1988: 143), bemühte sich die neue Autorengeneration darum, Zeugnis des Erlebten abzulegen. Gleichzeitig reflektierte jeder Autor individuell über die ersehnten Utopien vom Wandel, über die sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich erreichten Veränderungen und auch über die persönliche und kollektive Erfolglosigkeit im Rahmen der Studentenbewegung.3 Weit über eine bloße Dokumentation der Jugendrevolte hinaus nahm sich diese junge Autorengeneration vor, der westdeutschen Literatur eine neue Richtung zu geben. Sie zielte auf eine politische Ausrichtung, die der linken Ideologie nahestand, und auf eine ausgeprägte soziale Verantwortung. Dieser Vorschlag der jungen Autoren der 1970er-Jahre distanzierte sich gleichermaßen von der »bourgeoisen« Sichtweise der »etablierten« Literatur – die sie lediglich als Unterhaltungsliteratur ohne eine politisch oder sozial engagierte Dimension ansahen (vgl. Bullivant, 1989: 37) –, wie von der Richtung einer politisierten Literatur der Gruppe 47.4 Sie schrieben der literarischen Produktion der neuen Dekade eine aktivere und zeitgemäßere Funktion von gesellschaftlicher Intervention zu, in der sie gleichermaßen zur Reflexion über die Fragen der Studentenbewegung anregen wie sich als Motor politischer und soziokultureller Veränderung präsentieren sollte.5
Trotz der starken dokumentarischen Komponente, die mit den historischen Ereignissen der 1960er-Jahre verbunden ist, beschränkt sich das literarische Ethos der literarisierten Revolte nicht auf ein realistisches Abbild der akademischen Unruhen und auch nicht auf einen mobilisierten Appell, um die Massen zum politischen Aktivismus und zur Umgestaltung der Gesellschaft zu bewegen. Es wird deutlich, dass dieses »minor genre« (Preece, 1992: 301)6 der 1970er-Jahre weder einem politischen noch einem vereinheitlichten literarischen Programm folgte, sondern sich durch individuelle Tendenzen und Stile leiten hieß (vgl. Hubert, 1992: 17): Dabei wurde die persönliche, subjektive Sichtweise eines jeden Autors auf die Unruhen am Ende der 1960er-Jahre bevorzugt. Diese persönliche Ansicht der politischen und soziokulturellen Ereignisse jener Zeit, die von einem starken autobiographischen Register bestimmt wurde, entspricht der individuellen und introspektiven Fokussierung der »Neuen Subjektivität« oder »Neuen Innerlichkeit«, einer literarischen Strömung der 1970er-Jahre, die als Reaktion auf die politisierte Literatur der Studentenbewegung entstand.7 In ihr befanden sich viele der Autoren der 1968er-Generation, die über ihre Erfahrungen mit der Studentenbewegung und über ihre jeweilige Suche nach Identität in dieser zugleich öffentlich wie privat bewegten Zeit schrieben:
»Neue Subjektivität« […] weist auf eine Distanzierung hin: Man will sich dezidiert absetzen von der Literatur der vorausgegangenen Phase, und zwar durch prononcierte Ichhaftigkeit und Emotionalität. Akzentuiert wird der Gegensatz zur »Literatur der Politisierung«, die im Kontext oder Gefolge der studentischen Revolte der sechziger Jahre entstanden war. Mit der neuen Schreibweise soll nun der Erwartungshorizont des Lesers, der auf politische Literatur fixiert war, überschritten werden, und zwar in Richtung auf ein bisher tabuiertes Thema, nämlich das der persönlichen Empfindungen, das in den Jahren der Revolte als besonders obsolet gegolten hatte. (Gerlach, 1994: 9f.)
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die literarisierte Revolte eine in Form und Inhalt vielfältige Produktion hervorbringt, die offen für verschiedene Weltanschauungen jener Epoche ist:
Denn diese Autoren schreiben Romane, Erzählungen, Prosatexte, Autobiographien, die Entwicklungsprozesse vorführen, nicht selten ihre eigenen: Politisierungen, Einstellungsveränderungen, den Zusammenhang und Widerspruch von Privatheit und Öffentlichkeit, von theoretischer Reflexion und politischem Handeln. Es findet sich in dieser Literatur auch ein Moment der Selbstkritik, der Abrechnung mit eigenen Fehlern und Versäumnissen. (Schnell, 2003: 389)
Es gibt in der Tat zahlreiche Gemeinsamkeiten in der narrativen Fiktion der Autoren der 1968er-Generation. Die während der literarisierten Revolte geschriebenen und veröffentlichten Werke haben als diegetisches Zentrum die aufrührerische Zeit der Revolte an den Universitäten und die Zeitspanne der individuellen und intellektuellen Introspektion nach 1968. Darüber hinaus beschäftigen sie sich mit den Themen dieser Epoche, wie zum Beispiel dem Konflikt zwischen Eltern und Kindern, oder zwischen Professoren und Studenten, dem Versuch eines Bruches mit dem Establishment, der Infragestellung des Engagements für den politischen Aktivismus, dem Erlebnis der sexuellen Befreiung und nicht zuletzt der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Mal direkter, mal indirekter zeigen sich diese zentralen Fragen in der Erzählung Lenz (1973) von Peter Schneider und im Roman Heißer Sommer (1974) von Uwe Timm, beide von der Kritik als Schlüsseltexte der literarisierten Revolte bezeichnet (vgl. Cornils, 2000: 116). Betrachtet als Kultbücher jener Zeit – nicht nur wegen der Verkaufszahlen, sondern auch im Urteil der Leserschaft und der Kritik (vgl. Götze, 1981: 369) –, markieren Lenz und Heißer Sommer den Aufstieg der jungen Autoren Schneider und Timm in der literarischen Szene der Bundesrepublik der 1970er-Jahre.8 Sie verschafften ihnen einen hervorstechenden Platz unter der Autorenschaft der Zeit, die versuchte, das soziopolitische Umfeld von Krise und Agitation innerhalb der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre literarisch zu verarbeiten (vgl. Rinner, 2013: 35).9
1940 geboren, hatten Schneider und Timm einen Start ins Leben, der dem vieler Angehöriger der 1968er-Generation ähnelte. Während ihrer Kindheit erlitten viele tagtäglich nicht nur die Entbehrungen und Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg, sondern teilten auch die Abwesenheit des Vaters im Haushalt, der im Dienst der Wehrmacht stand. Als Angehöriger der Generation der Trümmerkinder erlebten Schneider und Timm die Vertreibung aus ihren Geburtsorten, um vor den Bombardierungen während des Zweiten Weltkrieges zu fliehen: Die Familie Schneider sah sich gezwungen, nach Grainau umzuziehen (vgl. Riordan, 1995: 13); die Familie Timm, nachdem sie ihr Haus in den Hamburger Bombenangriffen 1943 verloren hatte, musste nach Coburg übersiedeln (vgl. Hielscher, 2007: 10). Außer diesen traumatischen Erfahrungen gab es in beiden Familien ein weiteres Kriegsmerkmal: Die Väter beider Autoren waren beide Soldaten – Timms Vater ging freiwillig zur Luftwaffe (vgl. Hielscher, 2007: 14) und Schneiders war Signalgeber (vgl. Riordan, 1995: 13) – und beide waren nach der Kapitulation Deutschlands Kriegsgefangene.10 Nach dem Ende des Nationalsozialismus und während der ersten Schritte einer demokratischen Regierung erlebten sie in den 1950er- und 1960er- Jahren das ökonomische Wachstum sowie soziokulturelle Veränderungen durch das Wirtschaftswunder und die Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik. Noch größere Ähnlichkeiten bestehen jedoch in den biographischen Laufbahnen dieser zwei damals jungen Autoren in der Zeit ihres Studiums und der 1968er-Studentenrevolte.11
Nach kurzen Aufenthalten in Freiburg und in München schrieb sich Peter Schneider 1962 an der Freien Universität Berlin für Germanistik, Geschichte und Philosophie ein. Während dieses Jahrzehntes kombinierte er das Studium mit Tätigkeiten beim Rundfunk und nachher bei Zeitungen und Zeitschriften, wo er Essays und Literaturkritiken veröffentlichte, was ihn in den Intellektuellenkreisen Westberlins zunehmend bekannt machte.12 Später, im Jahre 1967, entwickelten sich Beziehungen zu Rudi Dutschke und dem Schriftsteller und Vordenker der Studentenbewegung Hans Magnus Enzensberger.13 Im weiteren Verlauf nahm Schneider eine immer herausragendere Stellung innerhalb des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) sowie als Redner und Koordinator des »Springer Tribunals« ein. Das »Springer-Tribunal« war eine studentische Protestaktion, um die Voreingenommenheit und die Manipulation von Information durch den Springerkonzern in der medialen Öffentlichkeit anzuprangern (vgl. Scott Brown, 2013: 193). Schneider war auch Autor unterschiedlicher Reden, Flugblätter und Essays, die die Ideen der jungen Protestler inner- und außerhalb der Universitäten verbreiteten.14 Trotz seiner Zweifel bezüglich der Leitprinzipien und der antiautoritären Kampfformen der Studenten, die er Anfang 1968 zu spüren begann (vgl. Riordan, 1995: 16), blieb Peter Schneider der Studentenbewegung bis zum Ende der 1960er-Jahre verbunden. Aufgrund seines herausragendes Rufes in der deutschen Szene wurde er aufgefordert, auch an der italienischen Studentenrevolte in Trient teilzunehmen (vgl. Schneider, 2008: 309), und, nachdem er 1969 nach Berlin zurückgekehrt war, beteiligte er sich an Arbeitsgruppen, die die Arbeiterklasse mithilfe der Veränderungsideale der Studentenbewegung zu mobilisieren versuchten.15