Kitabı oku: «Ketzerhaus», sayfa 3

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Der Papst kann keine Schuld vergeben, es sei denn er erkläre und bestätige, sie sei von Gott vergeben, oder sofern er die ihm selbst vorbehaltenen Fälle vergibt, die zu missachten ein Verbleiben in Sündenschuld bedeuten würde.

Die Weihnachtszeit war insofern die schönste, da man jetzt besonders häufig in die warme Kirche kam. Elsa achtete darauf, bei der Eucharistiefeier zu Josts Linker zu stehen. So nahm sie den Kelch von seinen Lippen, und sie tat so, als berührten ihre die seinen.

Es wunderte sich die Katharina Mälzer über die plötzliche Frömmigkeit der ältesten Tochter. Sie stellte die biblia picta, Erbstück der Mutter und Großmutter, bereitwillig zur Verfügung. Das Kind sollte der Heilserlangung teilhaftig werden. Die aus ihrem Einband weitestgehend gelösten Blätter waren an den Rändern speckig, eingerissen sogar. Überaus kostbar war das Buch. Doch im Grunde nichts weiter als eine zerschlissene Blattsammlung mit vielen verblichenen Stellen und wenig Text.

So klang das Jahr im Herrn Fünfzehnhundertzehn aus. Die Schicksalsschläge, die in diesem Jahr über die Parochie hereingebrochen waren, wurden einem gnädiglichen Vergessen anheimgegeben oder zumindest versucht zu verdrängen und in eine weit entfernte Vergangenheit geschoben.

Elsa ging beständig in die Kirche. Sie beneidete die Jungen, die mit Hochwürden Horn nach dem Gottesdienst den Katechismus lernten. Mit Elsas Frömmigkeit zeigte sich Meister Mälzer gern und erzählte jedem, der es nur wissen wollte, wie eilig es die Zehnjährige hatte, am Kirchentag das Weihwasser zu nehmen und stets in Reue und Demut ganz hinten zu sitzen. Dass der kindliche Antrieb ein ganz und gar unfrommer war und Elsa hinten Platz nahm, um ab und an Jost einen Blick zuzuwerfen, das erkannte lediglich ihre Mutter.

Katharina Mälzer erbat sich beim Priester Simon Horn die Erlaubnis, dem Kind das Lesen der biblia picta beizubringen. Zunächst lachte der Priester über die Schnapsidee. Als er erkannte, dass Katharina Mälzer von bitterem Ernst beseelt war, erlaubte er ihr, dem Mädchen das Alphabet beizubringen. Außerdem dürfte dem gelegentlich in der Parochie predigenden Geistlichen bekannt sein, dass die Kräuterfrau zumindest die Damen der Schöpfung auf ihrer Seite hatte. Insgeheim glaubte er nicht daran, dass der Backfisch weiter als bis zum G kam. Dass Elsa es bis zum P schaffen würde, konnte er da noch nicht wissen. Für die priesterliche Absolution die Lektionen betreffend, forderte Horn für seine alte, gebrechliche Mutter ein stärkendes Tonikum, welches Katharina aus Kräutern fertigte.

So stand Elsas frommem Ansinnen nur noch der eigene Vater im Wege. Ein Weibsstück hatte nicht zu lesen! Johannes Mälzer gehörte zu denen, die dachten, wenn man etwas lange genug nicht tut, kann man es eines Tages auch nicht mehr. Bei seiner eigenen Eheschließung hatte er gehofft, niemandem würde auffallen, dass sein Weib lesen konnte, hatte gehofft, sie würde es verlernen. Vielleicht hatte er recht. Die Bilderbibel war ja eben bebildert, damit man nicht lesen können musste. Das war Mälzers Ansicht. Dem Wort des Priesters aber widersetzte er sich nicht. Er tat auf andere Weise seinen Unmut kund.

An einem stürmischen Januarnachmittag begann Katharina Mälzer also den Unterricht. Es war einer jener Tage, an denen man nichts anderes tun konnte, als bei geschlossenen Fensterläden um das Feuer herum zu sitzen und zu warten, dass der schreckliche Winter mit all seiner Kälte und Ungemütlichkeit vergehen möge. Elsas Mutter streute Asche auf ein Brett und zeichnete mit einem Stecken das A hinein.

Die Gelegenheiten, in denen Tochter und Mutter ungestört üben konnten, waren spärlich gesät. Die Frucht nicht üppig. Dafür sorgte schon Johannes. Wenn Elsa nicht mit der Mutter übte, versuchte sie mithilfe der Buchstaben, die sie bereits kannte, neue Wörter zu entschlüsseln. Die Handschrift der Armenbibel jedoch war so unstet, dass sie auf jeder Seite unterschiedlich aussah und es Elsa schwerfiel, Buchstaben, geschweige denn Wörter zu finden. Entzifferte sie doch mal eines treffsicher, fehlte ihr noch die Übersetzung aus dem Lateinischen in die Volkssprache. Mit Latein war es bei Katharina Mälzer auch nicht weit her. Elsa nahm diesen Umstand als Grund, mit Jost ins Gespräch zu kommen.

Sie waren über die oberen Grenzen des Dorfes hinaus, da hatte sich Elsa längst in haltloses Geplapper verstrickt. Sie wurde von Jost ausgelacht, von Andres missmutig in ihrem kindlichen Verständnis von heiligen Zusammenhängen korrigiert. Einige Tage auf dieses dumme Gespräch klopfte es, leise aber dringend. Katharina Mälzer wusch mit den Jüngeren am Schwarzbach die Wäsche, der Vater hatte in der Sudküche zu tun. Elsa öffnete die Tür. Die Überraschung, einen der Hinterthur-Burschen zu erblicken, wog die Enttäuschung, dass es der falsche war, nicht auf. Andres übersprang die Grußformel und streckte Elsa ein Leinenpäckchen entgegen. „Die kannst du haben.“

„Was ist das?“

„Eine Bibel.“

„Eine Bibel?“

„Ja. Ich denke, wenn es dich wirklich interessiert, kommst du mit den Bilderzetteln nicht weit.“

„Bilderzettel!“ Bezüglich der Degradierung des größten Familienschatzes stemmte Elsa die dünnen Fäuste in die Hüften und bot trotzdem keine Angst einflößende Erscheinung. Andres reckte wachsam das Kinn. Er beäugte das gereizte Mädchen von oben herab und nahm das Päckchen, das er dem Mädchen die ganze Zeit hingehalten hatte, zurück vor seine Brust, als könne es ihn vor dem kindlichen Zorn schützen.

„Blasphemie ist das und ich werde es dem Hochwürden Horn sagen!“, schimpfte Elsa aus Wut, weil nicht Jost, sondern der andere zu ihr gekommen war.

„Es wird ihn brennend interessieren“, spöttelte Andres, meinte aber nicht, was er sagte. Das erkannte Elsa sehr wohl. Und ihr entging nicht das kleine Lächeln, das ihm nur flüchtig in den Mundwinkel gerutscht war. Das machte sie nur noch wütender. Im Grunde war ihr die Sache mit der Heiligen Schrift ganz egal, aber es hätte der andere sein müssen, der auf sie aufmerksam wurde. Dem Jungen, der es bestimmt nur gut gemeint hatte, aber eben der falsche war, knallte sie die Tür vor der Nase zu.

Und dabei hatte Andres nichts Verkehrtes gesagt: Die Blattsammlung der Armenbibel war nicht mehr als ein paar Zettel, unterteilt in drei Bereiche: Spruchband mit Miniatur zuoberst, im Mittelstück zumeist Brustbilder von irgendwelchen namenlosen Propheten oder Heiligen und darunter zwei sich reimende Zeilen, die nichts weiter darstellten als die Namen der beiden unteren Propheten mit vielen Symbolen, die selbst Elsas Mutter nicht deuten konnte.

Vor Katharina Mälzer konnte Elsa schlecht verheimlichen, von wem sie Besuch bekommen hatte. Katharina Mälzers Stirn lag in Sorgenfalten. Nicht, weil ein Halbwüchsiger das Mädchen überrascht hatte, was einem Skandal gleichkam und um nichts in der Welt ins Dorf getragen werden durfte, sondern die Tatsache, dass Elsa mit dem Bibellesen hausieren ging. Eine altkluge, des Lesens kundige Jungfrau war schwer an den Heiratswilligen zu bringen. Das erklärte sie dem Mädchen und stellte die Lesestunden ein. Die Lithurgien in der Kirche mussten genügen. Das beschied Katharina Mälzer und Johannes konnte diesen Entschluss nur gutheißen.

Das war, als Elsa noch nicht einmal das P wie Papa – Papst – sicher beherrschte. Und das Gefühl blieb, als fehle ihr noch eine ganze Reihe von Buchstaben.

Trotz alledem suchte Elsa Josts Gesellschaft. Sie wurde eine Meisterin der Effizienz. So schaffte sie die meisten Arbeiten in immer kürzerer Zeit, sodass sich ab und an Gelegenheiten boten, über den Kamm des Weinbergs zu laufen und auf Jost zu warten. Ihre Treffen wurden bald regelmäßig.

Elsa hatte längst begriffen, dass Jost seinen großen Bruder nicht leiden konnte, weil der in den freien Stunden entweder las oder mit seinen Glasmurmeln spielte. Elsa willigte ohne zu zögern ein, Andres eins auszuwischen. Sie willigte ein, weil sie Jost gefallen wollte. Außerdem war sie von einer inneren Wut auf Andres beseelt, die im Grunde nur darin begründet lag, dass sie sich einfach nicht dazu durchringen konnte, sich bei Andres für ihr freches Benehmen von neulich zu entschuldigen.

So gab Jost ihr eines Tages den Auftrag, beim Wurzelheinrich einen Viertelscheffel Baumharz zu holen. Jost hatte ihr die Münze dafür zugesteckt. Was genau Jost mit dem klebrigen Zeug vorhatte, war Elsa schleierhaft. Für sie war es eine unheimliche Herausforderung, ohne Begleitung in den Wald zum Pechklauber zu gehen. Sie fürchtete sich schon allein vor dem Ruf, der dem von der Menschheit vergessenen Alten vorausging.

Mit dem Viertelscheffel gelangte sie mit Einbruch der Dunkelheit am Brauhof Hinterthur an. Im Osten war der Himmel schon ganz finster, aus dem Schöpstal schallte Hundegebell und an ihren Füßen kroch die Lenzeskälte herauf. Elsa beobachtete, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Sie versuchte in der Gestalt, die den Hof überquerte, Jost zu erkennen. Das Schlagen von Schuppentüren kreuzte das Keckern einer aus ihrem Winterschlaf geweckten Fledermaus. Dann ein kräftiges Anschlagen einer Axt. Wer auch immer im Schuppen Holz gemacht hatte, war wieder ins Haus zurückgekehrt.

Elsa wartete, bis es ganz still war und betrat den Hof. Wie abgemacht, klopfte sie an die Tür der Sudküche. Jost, der sie schon erwartet hatte, öffnete ihr. Das breite Grinsen in seinem Gesicht hätte das Mädchen eingeschmolzen, wenn es nicht vor Furcht und Kälte schon fast erstarrt wäre. Jost weihte Elsa in den Plan ein, der ihr ganz und gar nicht gut gefiel.

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Niemanden vergibt Gott die Schuld,

den er nicht gedemütigt dem Priester als

seinen Stellvertreter unterwirft.

Das Klacken der Glasmurmeln, die aufeinanderstießen, weil Andres in der Bubenstube damit spielte, hatte sie noch in den Ohren, als sie aus dem Hause Hinterthur rannte. Das Klacken der Glasmurmeln, das Poltern und Andres Schmerzensschreie, die in gottlose Flüche mündeten.

Das nächste Mal, als sie Andres sah – von der Distanz aus dem Kirchengestühl her – lag sein geschienter Arm in einer Schlinge. Elsa musste zugeben, dass es sich schwierig gestaltet, das Gleichgewicht am Kopf der Treppe zu halten, wenn der Körper zwar voran will, die Füße aber in einer Lache aus Harz festkleben. Und war es nicht Gottes Gnade gewesen, dass Andres sich nur den Arm und nicht das Genick gebrochen hatte?

Aber wo sich Gottes Gnade fand, war auch unweigerlich Gottes Zorn. Elsas Blick wanderte hinüber zu Jost, der aus einem von Veilchen geränderten Auge zum Altar hin und seiner Bußfertigkeit entgegenblickte. In Elsas Brust zitterte die anerzogene Angst vor Gottes Zorn. Ihre Gottesfurcht wurde so erstickend, dass sie es nicht wagte, ihre Sünde zu beichten, aber freiwillig drei Ave Maria aufsagte, die zu sprechen der Priester ihr zur Buße verordnet hätte. Drei Ave würden das Vergehen aus ihrem Sündenregister bestimmt streichen.

Noch Wochen später, als Andres’ Schiene längst abgenommen und der Arm wieder zusammengewachsen war, fühlte Elsa sich unwohl, sobald sie ihn sah. Doch auch dieser flaue Anflug schlechten Gewissens wurde bald von der Sommerhitze erstickt.

Am Schöps, wo sich die Kinder für eine Abkühlung trafen, verbündeten sich Elsa und Jost aufs Neue. Andres saß im Schatten, ein Buch auf den Beinen, und beobachtete, wie die Jungen an einem tief hängenden Ast über den Schöps schwangen. Nur die mutigsten getrauten sich, bis zu den Knien in den Schöps zu waten. Wer sich das getraute, musste das Gebenedeit seist du Maria aufsagen, weil sonst die Querxen auf dem Grund des Flusses wach würden oder die verlorene Seele von Margarete Rieger aus dem Wasser emporsteigen würde. Solches Gerede machte Elsa Albträume.

Sie zog es sicherheitshalber vor, nicht in den Fluss zu steigen. Sie fürchtete sich vor den unergründlichen Wesen, die hier lauerten. Außerdem konnte sie nicht schwimmen. Wer konnte schon schwimmen! Elsa gab vor, mit einem der Mädchen Hahn oder Henne zu spielen. Ein Spiel, bei dem die Wedel der Gräser zwischen Daumen und Zeigefinger noch oben geschoben werden mussten, um zu sehen, welche Form sie annahmen. In Wahrheit aber beobachtete sie aus dem Augenwinkel die Hinterthur-Jungs. Wieso es immer dann, wenn sie Jost ansah, in ihrem Bauch kribbelte, verstand sie nicht, dass es ihr von Tag zu Tag schwerer fiel, sich ungezwungen in seiner Nähe zu geben, war ihr lästig. Und vielleicht war es an der Zeit, sich bei Andres für den dummen Streich mit dem Baumharz zu entschuldigen, vielleicht bei Jost für seine Verschwiegenheit zu bedanken? Aber nichts davon tat sie, sondern betete wieder drei Ave Maria für die Vergebung ihrer Sünde. Und alles sollte noch schlimmer werden.

Josts Freundschaft bedeutete ihr so viel, dass sie nicht merkte, dass er sie abermals für einen seiner Streiche gebrauchte. „Er hat mich vor Vater einen Dummkopf genannt. Ich hab ihm seine blöden Glasmurmeln in die Suppe getan, damit er daran erstickt“, erzählte Jost mit beleidigter Miene. „Ist er aber nicht. Und Vater hat mit mir geschimpft und dann hat Andres mich bei Mutter angeschwärzt, weil ich Maria den Hof hab’ fegen lassen“, beschwerte sich Jost.

„Aber du solltest den Hof fegen, richtig? Und nicht deine Schwester.“

„Das spielt doch keine Rolle. Andres ist ein Halunke! Also … hilfst du mir?“

Elsa überlegte. Sie wollte eigentlich nicht noch einmal Gottes Zorn auf sich laden.

„Ich seh schon, ich muss mir eine andere Freundin suchen. Vom Wagner die Elisabeth hat mehr Schneid als du.“

Das konnte sie nicht auf sich sitzen lassen. „Die Wagner-Elisabeth schielt!“

Jost grinste, stellte sich dicht vor sie und nahm ihre beiden Hände in die seinen. „Hilfst du mir?“

Elsa willigte ein, wieder nur, weil sie Jost gefallen wollte. Sie trafen sich am darauffolgenden Tag bei Einbruch der Dunkelheit im Pfannenhaus der Hinterthurs. Es war ein lauer Frühsommerabend. Jost brachte eine Schale Kirschen mit, Elsa einen Mörser, mehr brauchte es nicht. Bevor sie ans Werk gingen, ließ Jost Elsa beim Kirschkernweitspucken gewinnen. Sie spuckten das Fruchtfleisch in den Mörser. Elsa wandte einiges Geschick dafür auf, das Rot so unter Josts Nase und in seinen Mundwinkeln zu verteilen, dass es echt aussah. Auch am Ellbogen verteilte sie ein bisschen was von dem Matsch. Sie warteten jenen Moment ab, da Orwid Hinterthur die Schweine fütterte und Reinhilde den Hühnerstall verschloss. Johanna und Maria waren ebenfalls draußen beschäftigt und sammelten die tagsüber gelegten Eier ein.

Jost stieg zu den Schlafstuben hinauf. Er wusste, dass Andres in der Kammer hockte, las oder betete oder beides. Als Jost vor der Tür Aufstellung bezogen hatte, gab er Elsa ein Zeichen. Daraufhin schlug sie so kräftig die Haustüre, dass es oben gut zu hören war, imitierte die Stimme einer der Hinterthur-Mädchen und rief Andres’ Namen. Folgsam, wie der Langweiler nun einmal war, riss er die Kammertür auf. Jost warf sich zu Boden, ließ seinen Bruder im Glauben, vom Türblatt hart gegen den Kopf getroffen worden zu sein. Er brüllte und zappelte wie einer, der einen Anfall bekam. Dann blieb er steif liegen, die Augen starr gen Dachstuhl gerichtet. Elsa, immer noch in der unteren Haustür, hatte einen vortrefflichen Blick nach oben und unterdrückte ihr Gelächter. Andres, schockiert und erschrocken von seiner Gewalttat, beugte sich über ihn, stammelte seine Entschuldigungen, sandte Stoßgebete zum lieben Herrgott und rüttelte Jost an den Schultern, um ihn zurück zu den Lebenden zu holen.

Bald mimte Jost, zu sich zu kommen, spuckte den blutroten Kirschsaft um sich – auch gegen Andres’ Gesicht – und obendrein eine Salve Kirschkerne. Danach hielt es ihn nicht länger und er prustete los.

„Witzig!“, stieß Andres den Lachenden, der sich aufrichten wollte, zurück auf die Dielen und verschwand in der Kammer. Jost lachte noch, als er sich am Schwarzbach den Kirschmatsch aus dem Gesicht wusch, und beschrieb immer wieder Andres’ Miene. Er begleitete Elsa noch ein Stück heimwärts.

„Das nächste Mal …“ Und Jost kreierte weitere Gemeinheiten gegen seinen Bruder, die kaum zu übertreffen waren. „Zu keinem ein Wort, kleine Els, ja?“

Elsa nickte. Jost lächelte. „Wir haben ein Geheimnis miteinander, Elsa“. Er zeigte das Lächeln, das den Hinterthurs eigen war. Ein Lächeln, das Reinhildens harte Züge weicher aussehen ließ, weiblicher und beinahe besorgt, ein Lächeln, das auf Orwids Stoppelgesicht schelmisch, in Johannas Gesicht kokett und auf Marias kleiner schmaler Miene irgendwie mitleiderregend wirkte, ein Lächeln, das bei Jost und Andres eine verheißungsvolle Note hatte. Aber anders als Andres’ offenes Lächeln hatte Elsa bei Jost das Gefühl, dass er mit seinem Lächeln Versprechen brach und ihm dennoch immer verziehen würde.

Jener Sommer anno 1511 erbarmte sich der Felder. Sie sonnten sich nach kurzen, ergiebigen Schauern und gediehen. Der Schöps war randvoll, erhob sich aber nicht aus dem Flussbett. Die Kinder tollten nach dem Kirchgang oder in den Abendstunden an seinen Ufern, wenn alle Arbeit verrichtet war.

Elsa hatte das Gefühl, in diesem Sommer ein beträchtliches Stück erwachsener geworden zu sein. Nicht nur, dass es inzwischen genügend Kinder gab, die jünger waren als sie selbst, sondern auch die Tatsache, dass sie bald zwölf war, machte sie selbstsicherer.

So erlebte Andres’ Heilige Schrift Höhenflügel, als sie eines schönen Sonntages in den Wipfeln der Weiden am Schöps verschwand, weil er nicht bemerkt hatte, wie Jost eine Schnur um sie gelegt, während Elsa ihn abgelenkt hatte. Andres verzog keine Miene, wartete bis sein jüngerer Bruder den Spaß an der fliegenden Bibel verlor und sie schließlich wieder herunterließ. An einem anderen Tag legten sie mit seinen Murmeln eine Spur, der Andres unweigerlich folgen musste, wenn er seine Perlen einsammeln wollte. Die schönste aller Murmeln thronte leider in einem riesigen, stinkenden Kuhfladen. Elsa und Jost bogen sich in ihrem Versteck vor Lachen, als sie beobachteten, wie Andres ein Stöckchen suchte, um die Murmel aus dem Scheißhaufen zu klauben. Auch hierbei verzog Andres keine Miene. Er wusch die Murmeln und seine Hände im Schwarzbach.

Ein Streich allerdings ging nach hinten los. Es war Erntedank. Jost und Elsa hatten in kleinlicher Mühe in den inneren Kragen von Andres’ Kirchenhemd Hagebuttenbrei geschmiert und freuten sich schon darauf, wenn er beim Hochamt halb wahnsinnig würde, um dem Juckreiz zu widerstehen. Pleban Horn würde versucht sein, an ihm einen Exorzismus zu vollführen.

Umso erstaunlicher war es für Elsa, zur Heiligen Messe Jost zu beobachten, der mit hochrotem Kopf und verbissener Miene im Gebälk saß, von Reinhilde gerügt wurde, weil er sich unanständig im Nacken kratzte und die daneben Sitzenden schon abrückten aus Angst vor Flöhen. Jost war der Erste, der nach der Messe das Weite suchte. Elsa entging das genügsame Lächeln auf Andres’ Miene nicht.

Elsa durfte einen Abstecher zum Fluss machen, wo sie Jost schon von Weitem sah: Knietief und kopfüber gebeugt stand er im Fluss und schrubbte seinen Nacken und sein Haar. Das Hemd tänzelte in der Strömung. Jost zog es immer wieder zu sich zurück. „Er hat es umgetauscht, der Bastard“, schimpfte er, kaum dass er Elsas gewahr wurde. „Wir haben die gleichen Kirchenhemden und er hat das mit den Hagebutten einfach auf meinen Stapel gelegt.“

Elsa verkniff sich ein Grinsen. Als sie schon auf dem Rückweg war, rief er ihr noch hinterher, dass er sie am Nachmittag an der Weggabelung treffen wolle, dann würden sie überlegen, wie sie sich rächen könnten. Elsa, die sich bei Andres für gar nichts rächen musste, würde zur Weggabelung kommen. Dagegen war sie machtlos. Sie trat auf die Dorfstraße und kreuzte geradewegs den Weg der Familie Hinterthur. Geordnet, die Eltern voran, die Kinder hinterdrein, gingen sie hinauf Richtung Weinberg. Unter den gesenkten Lidern ließ sie Andres, neben dem sie herging, nicht aus den Augen. Ihr war bislang nicht aufgefallen, dass sie ihm bereits bis zu den Schultern reichte. Selten fiel ihr auf, wie schnell sie wuchs. Reinhilde fragte sich, wo Jost bloß steckte.

Andres wischte seine struppigen, leicht gelockten Haarsträhnen hinter die Ohren. „Ich könnte mir vorstellen, dass Jost ein Bad nötig hat – aber wen juckt das schon?“

Elsa spürte, wie ihr Gesicht von innen glühte. „Es war nicht meine Idee“, murmelte sie kleinlaut.

„Ich weiß.“ Insgeheim war sie ihm dankbar, dass er ihr keine Vorwürfe machte, oder schlecht von ihr dachte. Sie merkte, dass er sie musterte. „Nimm dich vor ihm in Acht.“

Elsas Blick kreuzte den seinen. Aus seinen dunklen Mandelaugen sprach nichts als Aufrichtigkeit. „Ich kann auf mich selbst aufpassen!“, raunte sie, raffte den Rock und sprang die Böschung hinauf, um eine Abkürzung zum Mälzerhof zu nehmen.

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