Kitabı oku: «Ketzerhaus», sayfa 4
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Die die Buße betreffenden Satzungen haben Geltung nur für den Lebenden und dürfen in keiner Weise auf den Sterbenden angewendet werden.
Um die Jahreswende machte bald die Runde, dass einer der Gerßdorffschen Jagdhunde versehentlich erlegt worden war. Elsa mochte die Hunde nicht unbedingt. Sie preschten bellend durch die Wälder und man konnte nie wissen, ob sie nicht einen Abstecher auf den Hof nahmen und dann um sich bissen. Ihr Gewissen jedoch war bleischwer, weil sie wusste, wer sich heimlich, wenn der Wildhüter nicht in seiner Hütte war, die Armbrust nahm und auf harmlose Tiere zielte. Gott würde sie und Jost Hinterthur hart bestrafen. Das wusste Elsa.
Jost war schlecht gelaunt, weil nach der Sache mit dem Jagdhund die Hütte verriegelt blieb. Allein der Wildhüter musste erahnt haben, dass hier jemand wochenlang sein Unwesen getrieben hatte. Elsa war froh und glücklich, dass Jost nicht mehr die Armbrust stibitzen konnte.
Mit dem Januar anno 1512 kam der Schnee. Sie bauten Schneehütten und sausten mit den vielen anderen Kindern den Weinberg hinunter. Der Winter hielt lange, der Schnee lag bis Ostern, aber dann schob sich die Sonne mit aller Macht vor die Wolken und schickte die Schmelzwassermassen aus dem Gebirge und vom Eigen mit aller Wucht herunter, dass der Schöps über seine Ufer trat. Viele Gehöfte standen unter Wasser. Das Vieh musste trotz der nächtlichen Kälte auf den höher gelegenen Hufen stehen. Manch einer verlor seine Lehmhütte an die Fluten. Sie nahmen die Häuser einfach mit. Die Menschen beteten für weniger Wasser.
Die Brauhöfe vom Mälzer und Hinterthur waren höher gelegen und so konnten die Wassermassen ihnen nichts anhaben. Katharina Mälzer sah es als ihre Pflicht zu helfen. So war ihr Haus voller Kinder, deren Hütten weggeschwemmt worden waren und wo die Eltern neue bauen mussten. Es war eine lustige Zeit für die Jüngeren, weil sie den ganzen Tag tun und lassen konnten, was sie wollten. Elsa war froh, sich um die Kinderschar kümmern zu können. So würde sie Buße tun für das, was sie im Herbst nicht verhindern hatte können.
„Du machst dir da viel zu viele Gedanken“, schüttelte Jost den Kopf, als sie sich wieder einmal an der Baumgruppe zwischen den Höfen trafen. „Es waren nur dumme Hunde.“ Er schickte seinen Blick hinunter zu den Kindern, die barfuß in den feuchten Wiesen wateten und Jungfrösche aufscheuchten. Mit seinen dreizehn Jahren war Jost schon recht stattlich, wie Elsa fand. Seine breiten Schultern ließen ihn älter erscheinen, aber auch sie war runder geworden, immerhin hatte sie das zwölfte Jahr abgeschlossen und sie war erweckt worden. Das Ereignis hatte sie unerwartet heimgesucht.
„Es sind Gottes Geschöpfe“, sagte sie und merkte, wie Jost sie musterte.
Er schüttelte knapp den Kopf. „Tiere und Weiber sind nichts in Gottes Augen.“ Er schaute zu den Kindern hinüber, die mit jedem Frosch, den sie aufscheuchten, herzhaft quiekten und lachten.
„Ich wäre lieber als Junge geboren.“
Jost drehte sich abrupt zu ihr um, stellte sich ganz dicht vor sie hin und griff ihr plötzlich so rüde in die bauschenden Röcke, dass sie vor ihm zurückwich. Er rückte auf, hatte sie immer noch fest im Griff. „Dazu fehlt dir aber einiges.“
Elsa wich nicht vor seiner Hand zurück. Schockstarr wie ein verängstigtes Reh. So stand sie noch da, als er schon längst wieder von ihr abließ. Sie schaute ihm nach wie er zu den anderen Kindern rannte, eine Rute von einer Weide abbrach. Die Jungfrösche quakten nur so lange, bis er sie auf den Stab spießte.
Tage später lag die Wiese so, als habe es das Hochwasser nicht gegeben. So schnell war das Wasser verschwunden, wie es gekommen war. Elsa war einerseits froh, das Strohlager wieder für sich und ihre Schwestern zu haben, andererseits traurig über die Stille, die ins Haus zurückkehrte. Jost übte nach wie vor Anziehung auf sie aus, obschon da noch etwas war, wonach sie in den Tiefen ihres Herzens suchte wie eine gründelnde Ente, aber nichts zu fassen bekam. Das Düstere, das von ihm ausging, sah sie nicht.
Der liebe Herrgott verteilte Sonne und Regen gnädig über die Felder. Mensch und Tier waren fruchtbar und mehrten sich. Die Münzen, die im Umlauf waren, hatten guten Wert. Dass das nicht so bleiben würde, ahnte niemand. Nichts sollte Elsas Tage überschatten, und der Sommer sollte herrlich werden. Sie fühlte sich genauso wie jedes andere Mädchen geschmeichelt von Josts Übermut, den er freimütig zur Schau führte.
Die Warnungen der Mütter vor den Knaben waren allgegenwärtig und wurden mit der Reife der Mädchen immer eindringlicher. Wovor im Speziellen gewarnt wurde, blieb Elsa ein Rätsel. Insbesondere die lauten, umtriebigen Jungen seien zu meiden. Darin waren sich die Mütter einig. Dass die lauteren Jungen den stilleren vorzuziehen waren, mussten die Mütter doch wissen!
Im Spätsommer erst, als Jost und Elsa verborgen im hohen Gras der Baumgruppe nebeneinanderlagen und einen Apfel nach dem anderen verspeisten, sollte ihr klar werden, was genau die Mutter meinte.
„Ich habe mit den Jungs eine Wette laufen“, sagte Jost, schnippte den Apfelstrunk hinter sich und rollte sich zur Seite, sodass er Elsa ansehen konnte. „Sie sagen, du würdest dich nicht getrauen, mir zu zeigen, ob deine Haare überall rot sind.“
Elsas Augen weiteten sich. Jost aber betrachtete sie fachmännisch. „Zeigst du’s?“
„NEIN!“ Elsa war mit einem Satz auf den Beinen.
„Wenn du’s tust, kriege ich einen Heller vom Dicken.“ Benannter Dicke war ein stämmiger Bursche aus dem Dorf, dessen Eltern Großbauern waren.
„Nein! Das ist unanständig, Jost! Außerdem kann der Dicke nicht wissen, ob ich dir meins wirklich gezeigt hab. Wie will er es nachprüfen?“
„Das ist eine Sache des Vertrauens.“
„Das ist eine idiotische Sache, meinst du wohl.“
„Wir teilen den Heller“, sagte der Junge geschäftstüchtig. Das war natürlich etwas anderes. Elsa überlegte. „Dann zeigst du mir deins auch!“
Jost betrachtete die über ihm Stehende. Seine Augen verengt, wie es sonst eigentlich sein älterer Bruder tat, nickte er schließlich. „Einverstanden. Du zuerst.“
„Gleichzeitig.“
Jost willigte ein, stellte sich ihr gegenüber und begann seine Hose aufzubinden. Elsa wurde es ganz flau im Bauch, während sie den Rock raffte. „Ich kann’s nicht“, seufzte sie enttäuscht über sich selbst und strich den kaum gehobenen Rock glatt. Jost, der mit seiner Schnur schon fertig war, murrte ärgerlich.
„Sag ihm doch, dass ich’s dir gezeigt hab“, schlug das Mädchen vor.
Jost schüttelte den Kopf. „Der Dicke merkt, wenn man ihn anlügt.“ Sein Blick veränderte sich, wurde fest und eindringlich. Und dann passierte so vieles auf einmal, dass Elsa nicht begriff, wie ihr geschah. Die Bedrängnis, in der der Junge das Mädchen brachte, verstand sie zunächst nicht. Ein Spiel? Ein Kräftemessen, für den er den falschen Adressaten gewählt hatte? Erst als sie auf dem Boden unter ihm nicht mehr vorkam, er seine Hand unter ihren Rock schob, bekam sie es mit der Angst zu tun. Quieken schien er als Ansporn zu verstehen. Schreien störte ihn, denn er drückte seine Hand auf ihren Mund. Sie schmeckte sein Blut, hörte seinen Fluch, sah seinen blutigen Finger, doch ließ er nicht ab von ihr.
Erschöpft und resigniert schloss sie die Augen und biss die Zähne zusammen. Jost, eben schwer und unhandlich wie ein Grasbatzen, wurde mit einem Male federleicht. Elsa fühlte sich umspielt von einer Woge, duftend nach heißer Wolle und feuchter Erde.
Sie öffnete die Augen und erkannte, wie Jost am Arm seines Bruders zappelte. Und Jost erkannte, wie sie Daumen, Zeige- und Mittelfinger abspreizte und so auf ihn deutete. Nur einen Herzschlag lang, aber er erkannte es deutlich. Elsa drückte sich ins hohe Gras. Andres schüttelte seinen Bruder am Schlafittchen. „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“
„Ich war’s nicht!“, jaulte Jost an Andres’ Arm. „Ich kann nichts dafür! Ehrlich! Sie hat angefangen. … Sie hat mich verhext!“
„Spar dir das für Vater!“ Andres schleifte seinen jüngeren Bruder mit sich, als sei er ein Sack Pusteblumen.
„HEXE!“
Das Wort hallte nach. Es traf tief, tat weh und blieb da. Es war das erste Mal, dass einer dies Wort zu ihr sagte.
Lange kauerte Elsa dort. Sie sah zu, wie die Jungen unten auf dem Hof verschwanden. Erst, als sie sicher war, dass niemand sie sehen würde, eilte sie nach Hause. Der Schreck saß tief.
Nach dem nächsten Gottesdienst trat Jost zu ihr, um sich bei ihr zu entschuldigen. Elsa erkannte genau, wie er von seinen Eltern von Ferne beaufsichtigt wurde und sie schämte sich. Mit einem Kopfnicken tat sie es. Dass Jost sich nicht bloßstellen ließ, nicht von seinem Bruder, nicht von seinen Eltern, hätte ihr klar sein müssen.
So kam es, dass Jost bald darauf, der Herbst kündigte sich mit Stürmen und Regenfällen an, um das ohnehin feuchte Jahr zu besiegeln, sich an ihr und seinem Bruder rächte.
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Daher tut der Heilige Geist im Papste wohl daran, dass er in seinen Verfügungen immer den Sterbensfall und die äußerste Not ausnimmt.
Elsa wimmerte. Ihr Hintern tat weh. Der Vater war noch nicht fertig mit ihr. Sie versuchte sich an der Wandung der Feuerstelle hochzuziehen. Er trat mit einem wütenden Aufschrei ihre Hand weg, sodass Elsa abermals in der Asche davor landete.
„Eine ganze Pfanne!“, röhrte er. „Du hast dem Hinterthur eine ganze Pfanne verdorben!“ Mit dem letzten Wort landete sein Riemen abermals auf ihrem Leib. Elsa schrie auf. Sie hörte, wie die Mutter kleinlaut flehte, er möge von dem Kind ablassen, aber Johannes Mälzer war außer sich. Wieder knallte der Lederriemen auf Elsa nieder, dann wirbelte er herum und gab Katharina eine Ohrfeige. Das Klatschen und ihr Keuchen hörte Elsa, den Schmerz im ganzen Körper und die Tränen auf ihrem Gesicht spürte sie.
„Ich hab das nicht gewollt“, weinte sie, was sie schon Dutzende Male gesagt hatte, seit der Hinterthur mit Zeter und Mordio bei den Mälzers auf dem Hof aufgetaucht war. „Ich hab es doch nicht gewollt!“ Sie schrie auf, weil ihr Vater sie am Schlafittchen packte und sie am Kragen so hochhob, dass seine Faust ihren Kehlkopf abdrückte.
„Du hast es nicht gewollt?“ Er hob Elsas Gesicht vor das sei ne.
„Lass sie runter, du bringst sie ja zu Tode“, hörte Elsa ihre Mutter. Sie hielt dem wässrigen Blick ihres Vaters stand.
„Das wäre noch das Beste, was ihr widerfahren könnte!“
„Es war ein dummer Kinderstreich, Herr Vater, verzeiht mir“, ächzte Elsa. Abrupt ließ ihr Vater sie fallen. Als sie auf dem Boden aufschlug, knackste ihr rechter Knöchel. Ein stechender Schmerz fuhr hinauf bis in ihr Knie.
Breitbeinig stand Johannes vor ihr und Elsa war seltsam gespannt darauf, was er ihr als Nächstes antun würde. Sie wollte vom Erdboden verschluckt werden oder doch besser gleich sterben. Ihr Vater stemmte die Hände in die Seiten und brüllte, wobei er jedes einzelne Wort betonte: „Kuhscheiße in eine Sudpfanne kippen und dann behaupten, es sei Andres gewesen, ist kein dummer Kinderstreich!“
„Ich dachte, es sei der Reinigungssud. Der Hinterthur kocht die Pfannen immer zum Saubermachen aus. Ich wusste nicht, dass es der richtige Würzesud war!“ Jost hatte behauptet, dass es die Lauge war, die da vor sich hin blubberte. Andres war an diesem Tag für die Pfanne zuständig. Jost hatte Elsa in dem Glauben gelassen, es sei nur das Waschwasser gewesen, das Andres einen Moment unbeaufsichtigt gelassen hatte. Jost war weggerannt, nachdem er die Kuhfladen in die Pfanne gekippt hatte. Und Elsa war so dumm, fasziniert zuzusehen, wie sich die Scheiße im kochenden Wasser auflöste. Den bestialischen Gestank würde sie wohl nie wieder los werden. Wieso Meister Hinterthur plötzlich im Brauhaus auftauchte, obwohl Jost gesagt hatte, sein Vater sei auf dem Feld, begriff sie immer noch nicht. Es war auch einerlei. Sie schämte sich und wollte sich in Luft auflösen.
Elsa konnte tagelang nicht sitzen, humpelte und nachts schlief sie schlecht. Alles tat ihr weh. Die verdorbene Würze hatte der Vater dem Hinterthur bezahlen und sich dafür beim Schultheiß einen Vorschuss geben lassen. Elsa wusste, den Vorschuss würde ihr Vater so lange vor sich hertragen und nicht zurückbezahlen können, bis sie verheiratet werden würde.
Sie sollte sich beim Hinterthur für die verdorbene Pfanne entschuldigen. Das tat sie auch. Sie fing den Meister am Morgen ab, während der die Schweine fütterte, um allein mit ihm zu sprechen. Und weil sie nichts zu verlieren hatte, sagte sie, es sei Josts Idee gewesen. Sie verriet alles, was Jost jemals ausgefressen hatte. Der Braumeister hörte ihr schweigend zu und entließ sie dann.
Sie spielte nie wieder mit Jost. Elsa blieb die meiste Zeit auf dem Mälzer-Hof und lernte, dass ihre Mutter recht gehabt hatte. Die dunkle Jahreszeit brachte mit sich, dass Elsa lange und versonnen in der zerfledderten Bilderbibel blätterte und feststellen musste, dass sie die meisten Buchstaben, die sie einst gelernt hatte, um Jost zu beeindrucken, längst wieder vergessen hatte. Wie töricht sie gewesen war! Das Haus verließ sie nur, um auf die jüngeren Schwestern beim Rodeln ein Auge zu haben. Sie verwünschte Jost. Sie hasste ihn von ganzem Herzen und das tat sehr weh.
Der Winter mit klirrender Kälte kam früh in diesem Schreckensjahr und die Kinder staunten über den zugefrorenen Schöps. Und als habe Elsa das Unglück durch ihren Hass heraufbeschworen, war das Eis ausgerechnet an der Stelle zu schwach, auf der Jost schlitterte.
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Unklug und übel handeln die Priester,
welche Sterbenden kirchliche Buße
fürs Fegefeuer vorhalten.
Elsa, durchgefroren und zitternd, weinte den ganzen Nachmittag. Katharina legte dem Mädchen zuweilen die Hand auf den Schopf, Johannes Mälzer predigte, als habe er nie etwas anderes getan. Aber all das machte Jost auch nicht wieder lebendig.
„Es war Gottes Wille“, hörte Elsa ihre Mutter in ausgesucht ruhigem Ton sagen. Das Mädchen aber schüttelte schluchzend den Kopf. Sie fühlte sich schuldig, weil sie Jost alles Schlechte an den Hals wünschte, nachdem sie seinetwegen so viel Prügel bezogen hatte. Sie hörte der Mutter kaum zu: „Gott straft seinen Übermut, den Leichtsinn, die Herausforderung.“ Kopfschütteln seitens des Mädchens. „Gott will nicht herausgefordert werden. Er richtet gerecht, Elsa.“ Das Mädchen schüttelte nur immer wieder den Kopf, zog den Rotz hoch und schluchzte abermals auf.
„Hauptsache, der Schreck sitzt tief“, wusste Johannes Mälzer dazu zu sagen, und: „Hauptsache, es hat den Richtigen getroffen. Es hätte auch der andere sein können. Das wäre ein Verlust gewesen, wo der Andres so still und fromm ist!“
Elsas Gedanken schweiften zurück zum Schöps. Sie erinnerte sich nicht, wie sie nach Hause gelangt war. Mutter hatte sie aus der Schockstarre rütteln müssen. Vater hatte auf sie eingebrüllt. „Was ist denn los, was ist denn bloß los?!“
Sie hatte das Geschrei der Kinder noch im Ohr und den Geruch von ihrem eigenen Angstschweiß. Sie riefen, Andres solle sich beeilen, solle schneller machen. Und dann, als Jost unter das Eis trieb, war es mit einem Male ganz still am Flussufer geworden. Alle starrten fassungslos auf den Spalt unter dem Eis, unter dem Jost verschwunden war. Die Strömung hatte ihn mitgerissen. Andres blieb regungslos stehen, wo das Eis unter ihm nachgegeben hatte und schaute ins Nichts. Er hatte seinen Bruder nicht packen können.
„Mit dem Fluss ist nicht zu spaßen“, erklärte Elsas Vater, als sei das etwas Neues.
„Auf dem Grund des Flusses gibt es keine Querxen und die Seele von Margarete Rieger werdet ihr da auch nicht finden“, zischelte die Mutter und reichte dem durchgefrorenen Mädchen einen heißen Kräuteraufguss.
Von diesem Tag an wusste Elsa, dass der Fluss böse war und Böses tat. Vielleicht, so überlegte das Mädchen, war Jost vom Geist der Margarete Rieger in die Tiefen gezogen worden, vielleicht war es auch nur ein Unfall. Er hätte nicht zur Mitte gehen sollen, alle haben ihn gewarnt. Elsas Gemüt war bleischwer. Sie zog sich mit all ihrem Unglück hinter die Feuerstelle zurück.
Die Beileidsbekundungen mussten den Hinterthurs entgegengebracht werden. Also machte sich die ganze Familie auf den Weg entlang des Schwarzbaches und stattete der trauernden Familie einen Besuch ab. Elsa scheute den Blick in die Augen der Hinterthurs. Auf sonderbare Weise schämte sie sich für den Tod des zweitältesten Sohnes. Sie überlegte, dass es wohl nichts Schlimmeres gab, als einen Leichenschmaus ohne Leiche.
Die Hinterthurs hatten ihr Kind im wahrsten Sinne verloren. Der Schöps würde ihn erst mit der Schmelze im Frühjahr freigeben.
Abends vor dem Einschlafen wurde Elsa von den Bildern gequält: Josts aufgedunsener, zerschundener, von Tieren angefressener Körper, angeschwemmt zwischen Löwenzahn und Vergissmeinnicht im Garten einer Bäuerin, die einen Schreck fürs Leben davontragen würde. Das machte es nicht einfacher. Die Bilder hatten sich in ihrem Kopf verhakt und ließen sie nicht los. Elsa wusste nicht, wie weit die Spree floss, in die irgendwo der Schöps mündete. Der Mensch, der irgendwo im Norden den Leichnam finden würde, würde nicht wissen, dass es Jost Hinterthur aus der Parochie Hurke, am Weinberg gelegen, war. Und wen sollten die Hinterthurs beerdigen? Selbst Priester Horn wusste nicht, wie man eine Totenfeier ohne Toten abhielt. Also ließen Orwid und Reinhilde einen Stein meißeln und an die Stelle legen, wo Jost von den Fluten mitgenommen worden war. Der Dorfklatsch übertraf sich in Spekulationen, was die Erlaubnis dafür bei Priester Horn gekostet haben mochte.
Die Dörfler zerrissen sich die Mäuler über den tragischen Unfall des zweiten Hinterthurjungen und rätselten, wer die Brauerei übernehmen sollte. Der Älteste, Andres, taugte wohl kaum dafür und die Mädchen … die waren Mädchen und konnten froh sein, wenn der Orwid sie noch gewinnbringend verheiraten konnte. Man wusste von Arrangements zu berichten, die Orwid mit Reinhildens Verwandtschaft in Görlitz traf. Maria und Johanna waren ihren Vettern versprochen, beides Kaufherren dort. Der Orwid aber, der wurde seltsam. In die Kirche kam er nicht mehr. Die Reinhilde und die Mädchen dafür umso häufiger. Orwid blieb für sich, soff aber auch nicht unbedingt, was nur erklärbar gewesen wäre, schwor im Gegenteil dem Gesöff ab, redete wirr, wenn er sich mit seinem Produkt in den Schänken blicken ließ und wurde sogar vom Priester Horn vorgeladen, weil Orwid geschimpft haben soll, Gott sei tot und solch Lästerhaftes. All so etwas schob man auf Josts Tod.
Zu spät erfuhr Elsa, dass man Andres nach Görlitz geschickt hatte. Vielleicht hätte sie sich von ihm verabschieden wollen, vielleicht hätte sie ihr Gewissen erleichtern wollen. Vielleicht aber war es besser so, dass er klammheimlich weggegeben worden war.
Angeblich wohnte er bei seinem Ohm und der Muhme mütterlicherseits in der Stadt. Nicht einmal an den höchsten Kirchentagen kam er ins Dorf und bald vergaß man ihn.
Viel später erst erfuhr Elsa, dass Andres die Lateinschule besuchte. Der Hinterthur-Hof wurde von einer Hecke aus Mysterien und Rätseln überwuchert. Sehr still wurde es um die Leute dort. Die Briu war das Einzige, was von dort nach außen drang. Mit jedem weiteren Monat, der ins Land ging, verschwanden die Hinterthurs aus Elsas Bewusstsein.
Einmal noch, das war, als Elsa schon beinah erwachsen und die zunehmende Erkrankung ihrer Mutter wie Gottes Zorn und Strafe auf alles Böse, das die Mälzers je getan hatten, voranschritt, machte der Hinterthur-Hof von sich reden. Das war, als Meister Orwid verstarb. Niemand hatte mitbekommen, dass er krank gewesen war. Einige behaupteten, der Blitz habe ihn plötzlich getroffen. Und Elsa erinnerte sich an den Fluch, den sie ihm vor Jahren an den Hals gewünscht hatte. Jedenfalls war er weg, tot und bestenfalls begraben. Reinhilde verkaufte den Hof an das Rittergut Gerßdorff und ging zu den Töchtern Johanna und Maria nach Görlitz.
Elsas Vater sollte Orwid ein Jahr später folgen. Es war ein Husten in einem viel zu langen, nassen Herbst gewesen, den Johannes nicht überlebte. Katharina hatte in der Parochie keine Hilfe zu erwarten. Sie verlor den verschuldeten Hof. Das Briuwerrecht behielt sie. Damit konnte sie ohne Hof und Ehemann jedoch nichts anfangen.
Es war eine Fügung, als in jener Zeit, welche Katharina und die Mädchen an den Bettelstab gebracht hatte, Reinhilde Hinterthur auftauchte, um den Stein vom Schöpsufer entfernen zu lassen. Wovon auch immer sich Reinhilde Hinterthur, die wieder geheiratet hatte und jetzt Tylike hieß, reinwaschen wollte, Elsa würde den Tag verfluchen, an dem ihre Mutter Reinhildes Angebot angenommen hatte und ein gesichertes Auskommen in Görlitz der Parochie vorzog.
Und weiter:
wird im zwoten Teyl erzeleth, wie es sich zugethragen vom Nebelung anno 1517 bis Sommer anno 1518
sowohl in der Schwesterstatt Görlitz,
Handelspunkt und Teyl des Sechsstettebundes,
als auch in dem Stettchen Wittenberg