Kitabı oku: «Ketzerhaus», sayfa 6
„Dein Vater, Gott sei ihm gnädig, der würde sich im Grab umdrehen, Bengel!“, raunte Weidner, scheute aber den Blick ins Gesicht des Jüngeren.
Christian, Zeit seines Lebens mit seinem Vater uneins, spuckte am Weidner vorbei an die Wand. Er wusste, dass sein Vater, der Schmied, seinerzeit mit dem Druckermeister gut bekannt war, aber sein Vater war tot und hatte gar nichts mehr zu melden.
Sollte der Druckermeister doch in seinem Gewölbe vermodern! Christian wandte sich ab und ging, zwei Stufen auf einmal nehmend, wieder hinauf.
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Die Sterbenden werden von alledem gelöst und sind für die Bußsatzungen bereits gestorben,
haben somit Kraft derselben Befreiung erlangt.
Druckermeister Ignatius Weidner lauschte dem Widerhall der Stiefelabsätze auf den buckligen Steinplatten in der obigen Wohnhalle, folgte ihnen durchs Haus, ins kleine Ladenlokal, das sein Vater seinerzeit zur Nikolaigasse hinaus eingerichtet hatte. Dann war es totenstill. Die Geräusche der Gasse hallten nicht bis hier herunter. Ignatius brauchte noch ein, zwei Momente, bis er von der Gewissheit beseelt war, die Stadtdiener seien verschwunden.
Er hastete hinüber in den angrenzenden Raum, ging vor der Hochdruckpresse in die Knie und schaute unter den Drucktisch. „Alles in Ordnung?“, fragte er unter die Tischplatte.
„Ja, aber das Seil schneidet allmählich ein“, kam die Antwort unter dem Tisch hervor.
Ignatius nickte, was sein Sohn nicht sehen konnte, weil er von unten an den Tisch geschnürt war. Der Alte schnitt Matthes vom Tisch ab. Der krabbelte unter der Presse hervor, blieb aber auf dem Boden sitzen. „Ich kann hier nicht bleiben, Vater. Das wird zu gefährlich.“
Ignatius nickte. Er hatte so viele Fragen an seinen Sohn. Er begriff nicht, wie es so weit hatte kommen können, dass man Matthes als Geächteten suchte. „Wieso?“, war das Einzige, was er herausbrachte. Wieso ward ihr so leichtsinnig? Was ist nur in euch gefahren?, wollte er fragen, schüttelte aber den Kopf. Sein Sohn war schon immer der Hitzkopf gewesen, dem die Druckerei zu klein, die Welt aber zu groß war.
Matthes zeigte ein unsicheres Lächeln. „Weil es sein musste, Vater … Ich muss Carolina finden.“
Carolina, das Mädchen, aus dem Anhaltischen. Ignatius hatte in einem von Matthes Briefen von ihr erfahren, wollte sie aber nicht wahrhaben, wollte nicht, dass Matthes mit einer Küchenmagd anbandelte, wo sein Weg für die Bürgerstöchter oder allemal für Gottes Werk geebnet war. Ignatius erwiderte nichts. Es war nicht an der Zeit, seinen Sohn wegen seiner Wahl zu ermahnen. Er nickte nur und rang Matthes das Versprechen ab, achtsam zu sein.
„Es ist vermutlich tagsüber ungefährlicher als nachts“, sagte er und war schon fast aus der Druckerei verschwunden. Und doch drehte sich Matthes noch einmal um. „Ich hoffe, Andres hat es überlebt. Sie haben ihn halb tot geprügelt. Um ihn müssen wir uns sorgen, nicht um mich. Bitte, finde heraus, wie es ihm geht.“
Ignatius nickte. Andres war ihm wie ein Mitglied der Familie, wie ein Sohn, seit er damals gemeinsam mit Matthes die Lateinschule besucht hatte. „Ich schließe ihn in meine Gebete ein, genau wie dich und …“, gib dir einen Ruck, alter Knochen! „… Carolina.“
Matthes zeigte ein Lächeln, kam die wenigen, sie voneinander trennenden Schritte zurück und umarmte seinen Vater fest. Mit flatternder Schaube und tief ins Gesicht gezogenem Barett lief er auf die Gasse. Ignatius blieb zurück und wusste nicht, wann er wieder von seinem Jungen hören würde. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Gefahr nicht vorüber war und dass irgendetwas Unheilvolles auf sie alle zurollte. Aber er hätte nicht in Worte fassen können, was es war.
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Ein unvollkommenes Genesen von der Sünde oder eine vollkommene Liebe des Sterbenden erzeugt naturgemäß eine große Furcht, die umso größer ist,
je geringer jene waren.
Durch gewaltiges Donnern und Rütteln am Hallentor schreckten sie zusammen. Elsa war gerade mit dem Scheuern der Scherben vom Morgenmahl beschäftigt, als eine Handvoll Büttel in die Küche gerauscht kam wie eine verfrühte Schneewehe. Ihre Schwerter klapperten in den Gurten, während sie hastig und mit zackigen Fragen auf den Lippen jeden Korb, jede Kiste umdrehten, jede Luke, jede Türe aufrissen. Aus dem Spektakel, das sie veranstalten, erfuhr Elsa, dass sie nach drei Geächteten suchten. Es fielen keine Namen. Auch auf Nachfrage wurden nicht die Namen der Gesuchten genannt.
„Woher sollen wir dann wissen, dass es die Geächteten sind, wenn wir sie vor die Nase kriegen?“, fragte die Reinhildin und stellte sich dümmer als sie war. Sie bekam keine Antwort. Reinhilde beobachtete das Spektakel um sie herum mit interessierter, wachsamer Miene, so als wollte sie sich jede Regung der Büttel einprägen. Dem Alter versagte Reinhilde sein Recht. Ihre Haut zeigte sich nach wie vor blass und glatt wie Milch. Schuld an den Runzeln um den Mund und auf der Nase war jemand anderes: Verbitterung, tief gegrabene Verbitterung. Allein ihr Hals, quer aufgeworfen wie die Seide einer Hörnerhaube, erzählte von den Jahren der Frau. Elsa bemerkte, dass Reinhildes Finger zitterten und sich am Schlüsselbund festhielten. Das sonst so nervtötende Klimpern klang stumpf. Seit dem Tod ihres Orwid und der Heirat mit dem Tylike war Reinhilde Hüterin der Schlüssel.
Peternelles dummes Gekicher riss Elsa aus ihren Beobachtungen. Was Elsa längst begriffen hatte, dass das Auftauchen der Büttel mit den nächtlichen Umtrieben im Hause zu tun haben musste, begriff Peternelle nicht. Ein Hieb von Reinhildens Schlüsselbund auf ihren Allerwertesten brachte Peternelle zur Ruhe.
Auch Niklas Tylike und Gunnar verfolgten mit einer gehörigen Portion Argwohn die Hausdurchsuchung. Elsa hätte Niklas Tylike alle möglichen Laster zuschreiben können: Völlerei, Trunksucht, Aufschneiderei und Überheblichkeit, aber er war auch ehern. Reinhilde hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Orwids Zunftzeichen zu ehren. Dessen Braukunst fortzuführen, bedurfte es eines Braumeisters. Ganz gleich, was für einen. Reinhilde führte das Regiment, vertreten durch Niklas Tylike. Der würde dichthalten. Es hing viel zu viel von einer gut funktionierenden Brauerei ohne Skandale ab.
Eben, als die Büttel die Stiege zum Dachboden hinaufgingen, heftete sich der beleibte Brauer mit meisterlicher und nie vermuteter Wendigkeit an deren Sohlen. Er faselte von seinem letzten Brautag. Der war gestern gewesen. Und, da er den einen oder anderen Büttel gelegentlich in seinem Ausschank begrüßen durfte, fragte er nun nach deren ehrlicher Meinung, was den Biergeschmack anbelangte. Tatsächlich ließen sich die beiden Stadtdiener, die den Dachboden zu inspizieren trachteten, auf ein Gespräch, die Cervisiae betreffend, ein. Beide hatten vom Brauen so viel Ahnung, wie man es brauchte, um das Brunnenwasser abzukochen und ihm mit Gewürzen und Getreide Geschmack und Leben einzuhauchen, aber das eigentliche Handwerk steckte im Mälzen.
Niklas’ Zunge arbeitete effizient, wenn es ums Verkosten und Fachsimpeln ging. So gelang es ihm, die beiden Büttel in einen Diskurs über das Tylike’sche Produkt im Vergleich zu dem des Nachbarn, der der Reihe nach den nächsten Brautag und abendlichen Ausschank haben würde, zu verwickeln. Er brachte die Stadtdiener dazu, den Dachboden nur eines streifenden Blickes zu würdigen.
Elsa konnte hören, wie Reinhilde erleichtert aufatmete, als die Büttel überzeugt davon waren, hier keinen Geächteten, aber die beste Briu der Stadt vorzufinden.
„Wie kommen die auch darauf, dass hier einer der geächteten Ketzer untertaucht?“, stutzte Peternelle einfältig und betrachtete schließlich Elsas Werk im Überlegen, ob der Abwasch an der Luft trocknen könnte. Die Frage wurde durch Reinhilde beantwortet, die ein Tuch vom Haken zerrte und es der bedächtigen Magd vor das Leibchen warf. „Mach dich nützlich!“
Der Blick, den die Eheleute Tylike miteinander wechselten, entging Elsa nicht. Tylikes Miene: nichts als Wut. Seine fleischigen Wangen waren vor Anspannung gerötet wie bei einem fiebernden Kind. Auf seinen Schläfen glänzten Schweißperlen. Er packte Reinhilde am Ärmel, befahl seinem Sohn im barschen Ton, ihnen zu folgen. Zu dritt verließen sie die Küche nach nebenan in die große geräumige Wohnhalle, deren Fenster auf die Gasse hinaus gingen. Tylikes Stimme presste sich zwischen seiner Wut und dem Bemühen, leise zu reden, hervor, sodass Elsa kein Wort verstand. Peternelle machte nicht den Eindruck, an dem Wutausbruch ihres Dienstherrn interessiert zu sein. Sie war eine aufmerksame Beobachterin ihrer selbst. Beim Ansetzen der Getreidegrütze, beim Backen des Brotes und der Wecken, beim Füllen von Saublase und Kalbshirn mit Griespaste, beim Drehen des Ferkelspießes, beim Flicken der Kleider, beim Waschen der Wäsche, beim Wirken der Wolle … bei allem, was Peternelle tat, vergaß sie nicht, darauf hinzuweisen, dass sie eigentlich zu schade dafür und zu Höherem bestimmt sei. Sie nutzte jede Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen, während an Elsa ein Großteil der Arbeit im Brauhof hängen blieb. Tylike nutzte aus, dass Elsa einer Brauerei entstammte. Er trug ihr alle möglichen schweren Aufgaben auf, für die sich Peternelle dumm stellte. Elsa wusste, auf sie warteten heut Dutzende Sudpfannen. Zum Schrubben. Geerbte Pflicht der Reinhilde.
„Du musst mir helfen, Kind.“ Von der Tylikin so abrupt angesprochen, stolperte Elsa über ihre schweren Holzschuhe, weil sie sich nach Peternelle umsah. Die war über alle Berge. „Lehm, Stroh …“, zählte die Reinhildin an der Rechten ab, „… Wasser aus dem Brunnen, rasch!“ Der erhobene Daumen zeigte die Richtung an, in die Elsa mit dem Gewünschten zu kommen habe.
Es klingt wie Stein auf Stein, wenn die Hacke auf die gefrorene Erde trifft. Der Lehm ließ sich nur müßig bergen. Fast gar keine Scheiße förderte sie zutage. Elsa hatte Glück, dass die Reinhilde nicht im Hochsommer auf diese Idee gekommen war. Das Stroh hingegen lebte vor Flöhen.
„Hast du den Lehm in Kunnewalde geholt, oder wo?“, missbilligte Reinhilde, dass die Magd so lange gebraucht hatte. Elsas Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit des Dachbodens. „Komm schon!“ Ihre Stimme kam von dort, wo in der vergangenen Nacht der Halbtote abgeladen worden war.
Wie wenn man Kuhscheiße in einen Suppersud rührte, roch es auf dem Dachboden. Zum Mäusedrecksgestank kam der beißende, süßliche Geruch von offenen Wunden, der metallische von Blut und das Muffige von feuchter Kleidung entgegen. Ein Schaudern fuhr in Elsa beim Anblick schmieriger Leinenfetzen. Den Verletzten selbst konnte sie lediglich als Schattengebirge vor dem Flackerlicht der Binse und dem einfallenden Licht durchs Loch im Giebel erkennen. Das Loch war Elsa vergangene Nacht nicht aufgefallen. „Wer ist das?“, fragte sie, und stellte die beiden Eimer ab. Zur Antwort nur ein „Pssst“. Dann wurde sie an beiden Schultern gepackt und der Blick auf den Verwundeten wurde ihr von Reinhilde versperrt. „Frag nicht“, taxierte die eine die andere. „Frag bloß nicht wieder!“
„Einer der Geäch…“
„Ich sagte, frag nicht!“ Wieder Reinhildens Zischeln, dieses Mal begleitet vom erhobenen Zeigefinger.
„Andres?“ Elsa bemühte sich, einen Blick auf den Mann zu werfen.
Reinhilde fuchtelte mit den Händen herum, als wolle sie eine störrische Fliege vom Apfelmus fernhalten. „Hilf, das Loch zu stopfen!“
Sie mussten die Pritsche mit dem nicht gerade federleichten Mann ein Stück Richtung Tür ziehen, damit Elsa an das Loch in der Wand herankam. Der Lehm war steif vor Kälte, das Stroh blieb nicht richtig haften. Es war unnötig, Reinhilde darauf hinzuweisen, dass es nicht die geeignete Jahreszeit dafür war, Fachwerk auszubessern. Reinhilde bemerkte es selbst und half der Jüngeren beim Anrühren der Masse.
„Raus mit dir und zu keinem ein Wort! Auch meine Töchter dürfen nichts davon wissen!“, sagte Reinhilde, als das Gefach geflickt war. „Johanna ist ein Klatschmaul und Maria verhuscht.“ Die Reinhildin hatte recht. Dies waren keine so günstigen Charaktereigenschaften, wenn es darum ging, ein Geheimnis zu wahren. „Wenn du einer Seele auch nur eine Silbe von ihm …“ Sie deutete auf den Verwundeten, … erzählst, dann …“
„Ich weiß.“ Elsa vervollständigte Reinhildens Drohung mit der Geste, ihres Zeigefingers, der über ihre Kehle strich.
Ein Stöhnen riss beider Aufmerksamkeit an sich. Reinhilde drehte sich zur Pritsche um, beugte sich über den Körper. Elsa erkannte im tänzelnden Licht der einsamen Binse kaum etwas, nur die Dämonen, die das zuckende Flackern auf der unebenen Fachwerkwand zum Leben erweckte, dass es sie ängstigte. Was der Mann murmelte, verstand Elsa nicht.
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Diese Furcht und dieser Schrecken ist an sich selbst – von anderen zu schweigen – groß genug, um die Qual des Fegefeuers zu schaffen, da sie dem Grauen der Verzweiflung am nächsten kommt.
Über den Tag beobachtete Elsa die Veränderungen im Hause, die die Geschehnisse mit sich gebracht hatten: Gespräche verstummten, wenn die Mägde hinzukamen, der Braumeister, sein Sohn Gunnar und die Hausherrin Reinhilde wechselten Blicke, die Elsa nicht deuten konnte. Sie gaben sich Zeichen, wenn es die Situation verbat zu sprechen. Auch mogelte Reinhilde die Wäsche des Fremden unter die Hauswäsche. Die Kleidung des Fremden mochte Peternelle für Gunnars halten, der schon manches Mal verdreckt von oben bis unten heimgekehrt war, weil er im Suff durch die Gassen stolperte.
Außerdem beobachtete Elsa ein reges Kommen und Gehen. Nicht nur die übliche Kundschaft in der Brauerei beobachtete sie: Piechkarren trafen ein, die im Neißegässel unter dem Hallengewölbe durch die große Hallendurchfahrt auf den Hof fuhren, um die leeren Fässer zu bringen, denn auch die Schultheißen, der umliegenden Dörfer kauften hier. Auch die Ratsleute stellten sich ein, mit dem Tylike zu reden. Elsa hörte obendrein, das stete Klimpern, das mit der Reinhildin hinauf zum Dachboden wanderte.
Das Klimpern eilte der Reinhilde voraus, es ging neben ihr her, es verfolgte sie, es kündigte sie an. Das Klimpern verriet allen im Haus, wann die Frau nahte, wie weit sie sich entfernte, ob sie sich entfernte. Mit dem Tod ihres ersten Mannes hatte sich Reinhildes Gemüt noch mehr verhärtet. Aus der Städterin, die versuchte eine Dörflerin zu werden, war eine Städterin geworden, die versuchte, die Jahre auf dem Lande zu vergessen.
War das Klimpern stakkatoartig, drohte ein Unwetter, denn dann marschierte Reinhilde auf der Suche nach dem Sünder durchs Haus und durch die Brauerei. Hörte man das Klimpern gleichmäßig, melodiös, dann konnte man beruhigt seiner Arbeit nachgehen, ohne Schimpf und Schelte zu befürchten. Wurde das Klimpern aber erstickt, und ebbte dieses blecherne Rasseln auch nach einer gewissen Zeit nicht ab, so wusste man, dass Reinhilde mit dem Schlüsselbund an ihrem Hüftgurt spielte. Dieser nervösen Angewohnheit lief sie immer dann auf, wenn sie verunsichert war. Verunsicherung stand der stolzen Brauersfrau nicht gut. Verunsicherung konnte sie nicht leiden. Und dann war jedem geraten, ihr aus dem Wege zu gehen. Jetzt also stießen die Schlüssel von Reinhilde entschlossen mit jedem Schritt, den sie hinauf auf den Boden tat, gegen ihre Oberschenkel und gaben ein rhythmisches Schellen von sich.
An diesem Tag setzte die Reinhildin ihre kostbaren Kleider, den prächtigen Atlas und die teure Seide mehrmals dem Staub und Mäusedreck – und der fetten Ratte – im Dachgeschoss aus. Und ein weiteres Mal hieß sie Elsa, ihr zu folgen. „Du machst da oben reine. Und mucksmäuschenstill! Und wo steckt eigentlich Peternelle?“
Peternelle war unauffindbar. Also machte sich Elsa allein an die Arbeit. Nie zuvor hatte irgendjemand daran Anstoß genommen, in welchem Gestank und Mist die Mägde hausten. Nie zuvor hatte man den Mädchen die nötige Zeit eingeräumt, das Unersetzliche zu tun. Sie unterdrückte ein Husten, als der Staub unterm Besen aufwirbelte. Sie gönnte sich und Peternelle einen Sack frischen Strohs. Die Mäusescheiße hatte sich über Jahre angehäuft, mit Staub und Fledermausdreck zu einer klebrigen Kruste über die hier gelagerten Werkzeuge und auf die Bodendielen gelegt und war mit dem Putzlumpen kaum abzukriegen. Elsa kratzte mit dem Fingernagel an der Würzepfanne herum, und erinnerte sich an das Reinheitsgebot, das Orwid Hinterthur stets ernster als die Bibel genommen hatte. Elsa zuckte jedes Mal zusammen, wenn Metall auf Metall kratzte, Holz auf Holz klackte. Mucksmäuschenstill ließen sich die abgestellten Gerätschaften nicht sauber machen. Orwid Hinterthur würde Blitze auf den Tylike entsenden, könnte er sehen, wie in der Stadt mit seinem Gerät umgegangen wurde. Was die Reinheit des Biers anging, so war dies ein steter Streit zwischen Reinhilde und Niklas Tylike.
Es gab drei Dinge, über die sich Reinhilde beständig ärgern konnte: Erstens, dass ihr zweiter Mann kein so gutes Gebräu kochte, wie ihr erster, obwohl sie die Rezeptur mit in die Ehe gebracht hatte und es immer noch besser als die meisten anderen war. Zweitens, dass man immer weniger für ein Fass bekam. Das Geld rann ihr zwischen den Fingern hindurch, wie sie sagte. Elsa verstand nichts vom Geldwechsel, begriff aber so viel, dass die Görlitzer schlecht gemünzt hatten und auf dem Städtetag in Löbau, dem Landtag in Bautzen und den Zusammenkünften in Prag Botschaften nach Meißen, Dresden und in die Niederlausitz geschickt worden waren, um eine neue, vollgültige Görlitzer Münze anstelle der bösen Stücke, wie die weißen und schwarzen Schrötlinge genannt wurden, zu fordern.
Die Görlitzer aber galten seit jeher als hartköpfig und ließen sich auf eine neue Münze nicht ein. So wurden Drohungen laut, man wolle ihnen die Warenzufuhr sperren. Niemand wollte mit schlechter, minderwertiger Münze bezahlt werden. Die auswärtigen Händler gingen so weit, den Oberststadtschreiber Haß als Lügner zu schelten, weil der vorgab, die Görlitzer Münze sei sauber. War sie aber nicht. Es wurden weitere Drohungen laut, die besagten, die fünf Schwesternstädte des Sechsstädtebundes wollten die Görlitzer Münze ganz verbieten und aus dem Verkehr ziehen. Das würde Görlitz’ Rausschmiss aus dem Sechsstädtebund bedeuten.
Das dritte grundsätzliche Ärgernis, das Reinhildens Blut in Wallung brachte, war das Getreide selbst, das natürlich rar wurde, wenn niemand mehr seine Ware nach Görlitz brachte, woran wiederum die schlechte Münze schuld war. So etwas nannte man Teufelskreis, wusste Elsa. Sie wusste, dass ein Reinheitsgebot immer noch eine gewisse Güte an Getreide forderte, was Braumeistern wie einem Johannes Mälzer fern gewesen war. Reinhilde inspizierte jedes gelieferte Getreidekorn auf Heller und Pfennig und versuchte, Orwids Ansprüche ans Reinheitsgebot in Ehren zu halten.
Elsas verstorbener Vater, Johannes Mälzer, wurde immer als Beispiel zitiert, wenn sich Reinhildens und Niklas’ Meinungen überwarfen. Es mangelte nicht an abfälligen Bemerkungen diesbezüglich, doch Elsa war mit den Jahren taub für die Schmach geworden, die die Lebenden den Toten angedeihen ließen. Auch wenn die üble Nachrede berechtigt war, Johannes Mälzer war immerhin ihr Vater gewesen. Sie schloss sein Seelenheil in ihre Gebete ein.
Die Würzepfanne war groß, die Beschläge rostig und das Holz der Aufsteller längst vom Wurm zernagt, aber wenn die Reinhilde wünschte, dass Elsa ihn schrubben sollte, dann würde sie es tun: so lange, bis man ihr eine andere Aufgabe gab. Während sie also mit dem Lumpen am gusseisernen Deckel rieb, wurde sie vom hellen metallenen Klimpern, das sie sehr wohl kannte, aufgeschreckt. Elsa wirbelte herum. Reinhilde fuhr geradezu ertappt zusammen.
Sie schaute schuldbewusst auf die Wasserschüssel in den Händen und die Leinen, die über ihren Unterarmen baumelten. Einen Herzschlag lang erkannte Elsa in der Frau, die in den vergangenen wenigen Jahren um fünfzig Jahre gealtert sein musste, jenes Gottvertrauen und jene Klugheit, die sie als Kind an ihr bewundert hatte. Die beiden Frauen maßen sich mit Blicken, dann verhärteten sich Reinhildes Züge wieder und zeigten die Brauerin, die das Schicksal gestählt hatte.
„Zu niemandem ein Wort, bei deinem Leben!“, mahnte sie wie schon am Morgen und erwiderte Elsas Kopfnicken. Dann deutete sie auf die Pfanne, an der Elsa geschrubbt hatte und das Klimpern entfernte sich nach hinten zur rückwärtigen Kammer. Jetzt bemerkte Elsa, dass Reinhildens feines Kleid nach den wiederholten Ausflügen hier herauf eine lichte Spur in den Staub geschrieben hatte wie einen Weg. Die junge Magd machte sich daran, die Bodendielen zu schrubben, damit niemandem der Pfad zur hinteren Kammer auffiel. Während sie das tat, waren ihre Sinne hellwach. Elsa gehörte nicht zu den neugierigen Menschen, aber wenn ihr so oft mit Strafen gedroht wurde, war ihr Interesse geweckt. Ihre ohnehin im kalten Wasser steif gefrorenen Hände erstarrten, als ein Schluchzen aus der Kammer drang.
Elsa hatte in den Jahren, seit sie bei Reinhilde im Dienst stand, die Frau nie anders als verbittert und streng, kühl zu jedermann, erlebt. Stets hatte Reinhilde mit den Fügungen von oben gehadert. Jetzt aber schien sie ganz weich und schutzlos zu sein. Reinhildes Weinen wurde ab und an unterbrochen von geflüsterten Worten, die Elsa aus der Entfernung nicht verstehen konnte, und es wurde ergänzt vom Ächzen desjenigen, der in der Kammer wie ein Toter aufgebahrt lag.
Über den Tag beobachtete Elsa, dass Reinhilde die Mahlzeiten in aller Heimlichkeit auf den Dachboden brachte und mit kaum angerührten Speisen wieder herunterkam. Stets war die Hausherrin bedacht darauf, sich vor Peternelle nicht blicken zu lassen. Den Mut zu fragen, ob es sich tatsächlich um Andres Hinterthur in der Dachkammer handelte, brachte Elsa nicht auf, obschon jede Logik sich allein für diese Tatsache aussprach.
In den nächsten Tagen belagerten nicht nur die Stadtdiener, sondern auch Reinhildens Töchter die Nerven ihrer Mutter. Genau wie es die Herrin gesagt hatte, strahlte Johanna eine Neugier aus, die ihren seidenen Schleier zwischen den Buckeln der Hörnerhaube nervös erzittern ließ, wenn sie den Kopf ruckartig in Richtung der Neuigkeit reckte. Johanna, Gemahlin eines hiesigen Tuchhändlers, teilte sich gern jedem mit, der nur lange genug zuhörte.
Was Johannas Talent, war Marias Laster – oder umgekehrt, je nachdem von welchem moralischen Standpunkt aus man die Hinterthur-Töchter betrachtete. Maria kam nicht leicht mit anderen Menschen ins Gespräch, schaute ihrem Gegenüber nie in die Augen, sondern eher auf die Nasenspitze und wich stets einen halben Schritt vor einem zurück, wenn man sie ansprach. Ihre abgekauten Fingernägel zeugten von überbordender Vorsicht, welche sich mittels Querfalten in ihre Stirn gegraben hatte. Ein Jahr jünger als die andere, strahlte sie, die sonst so Hübsche, heut den Liebreiz und die Eleganz einer alten Jungfer aus, die es aufgegeben hatte, sich nach einem passenden Ehemann umzusehen. Und das, obwohl Maria mit dem ansehnlicheren der beiden Schwiegersöhne vermählt worden war; einem Umgeher, was ein beachtlicher Rang in der Weberzunft am Ort war. Die Mitgiften waren durch den Verkauf der Hinterthur’schen Brauerei beglichen worden. Elsas Verhältnis zu den Hinterthur-Töchtern war genau genommen oberflächlich. Auch der Dienst bei der Reinhildin hatte sie den Mädchen kaum näher gebracht. Im Gegenteil. Doch Elsa war es nicht schade darum.
Während also Johanna mit ihrem Geschnatter und Maria mit ihren verhuschten Blicken auf Reinhildens Nerven herumtrampelten, taten es die Stadtbüttel noch weitere Male in Form von Haussuchungen auf Geheiß der Stadträte. Elsa bekam von der Befragung nur so viel mit, dass Reinhilde und Niklas Tylike sich für einen lauthalsen Streit ins eheliche Gemach zurückzogen, kaum dass die Büttel und die Töchter wie die Raben auf die Gasse hinausgestoben waren.
Elsa ahnte, dass der Streit der Brauersleute den heimlichen Gast im Dachgeschoss zum Gegenstand hatte. Zu den Schlafgemächern der Herrschaften und ihrer Söhne mit Fenstern Richtung Hof, führte ein schmaler Gang in der abgeknickten Haushälfte. In diesen dunklen Korridor gelangte man über jenen Galeriegang, welcher die Hallendurchfahrt halb bekränzte. Tylike warf von hier oben gern einen Blick ins Kassenfensterchen, um zu prüfen, wie voll der Schankraum war. Faulenzende Mägde waren für ihn inakzeptabel. Auch von der Küche ging es mittels eines schmalen Durchstoßes auf den Galeriegang, doch wer welchen Flur und welche Treppe betreten durfte, war klar geregelt. So war es nicht gern gesehen, wenn die Mägde den Zugang zur Wohnhalle über die Empore nutzten, da es eine Tür zwischen Küche und Wohnhalle gab. Die Reinhildin wünschte nicht, dass es zwischen hohen Besuchern und dem Gesinde zu Zusammenstößen auf dem schmalen Galeriegang kam.
Wie ihr Reinhilde geheißen hatte, ließ Elsa die Essensreste im geschrubbten Sautopf verschwinden. Aber nicht die Schweine, sondern der Bewohner am anderen Ende des Dachbodens würde die Bratenstücke und den Kohl bekommen.
„Du glaubst nicht, was in der Stadt los ist“, flüsterte Peternelle, als es hinten in den Schlafstuben ruhiger geworden war. Elsa verbat sich nachzuhaken und in Peternelles Klatsch einzustimmen, weil sie die andere nicht auf gewisse Umtriebe im Haus aufmerksam machen durfte. Peternelle erzählte trotzdem alles, was sie über Matthes Weidner, Andres Hinterthur und besagter Carolina Müllerin zu wissen glaubte. Wie sich die Menschen die Mäuler über andere zerrissen, widerte Elsa an.
Eigentlich konnte Peternelle einem Leid tun, überlegte Elsa. Bildete sie sich tatsächlich ein, das Rätsel um die drei Geächteten lösen zu können? Sie beobachtete die erste Magd, die all ihr Halbwissen gestenreich zum Besten gab. Elsa entschied, der Reinhilde beim Hüten des Dachboden-Geheimnisses beizustehen. Ganz gleich, wie gemein und herrisch sie auch war. Weder Reinhilde noch sonst jemand hatten es verdient, von einer Klatschtante wie Peternelle zerfetzt zu werden!
„Andres ist an der Universität“, sagte Elsa in der Hoffnung, Peternelle würde es dabei bewenden lassen. Sie hatte alle Hände mit der quellenden Hirse zu tun, die am Morgen aufgetischt werden würde.
Peternelles Blicke brannten in ihrem Nacken. „So denkt man, ja.“ Dünnlippige Besserwisserstimme.
„Wo soll er sonst sein? Er ist Student. Allemal studieren und pilgern tun die.“ Sie hatte bereits den Gutenachtgruß entboten, umrundet schon den Treppenpfosten zur Bodenstiege, da kam es schneidender als vorhin von Peternelle: „Wohl kaum! Sonst wäre er nicht in der Acht.“
Elsa hielt dem Blick der anderen stand.
Peternelle zeigte ein schiefes Lächeln, bevor sie schulmeisterte: „Klugheit und Schlauheit sind nicht dasselbe. Und nur weil einer klug genug ist, an der Uniservität angenommen zu werden, heißt es nicht, dass er auch schlau genug ist, unbescholten durchs Leben zu gehen. Also, was auch immer die feinen Herren Studenten getan haben. Es ist der Obrigkeit zwei Dukaten wert, sie zu fassen und büßen zu lassen.“
Elsa hätte Andres Hinterthur und seine Mutter mannigfach verteidigen können, tat es aber nicht, weil es Verdacht geschürt hätte. So nickte sie und wiederholte den Gutenachtgruß.