Kitabı oku: «Leoparden unter kaltem Mond», sayfa 2

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Recife, 8. September 2000

Der Marder griff nach einer dunkelblonden Lockenperücke und stellte sich vor seinen mannshohen Spiegel. Er stülpte sich die Perücke auf den Kopf und stopfte gewissenhaft jedes schwarze Haar darunter. Natürlich würde er sich anschließend noch die Augenbrauen bleichen müssen. Und die schwarzen Haare auf Händen und Unterarmen. Pereira schlurfte zu seiner Truhe aus Zedernholz, in der er sein Arbeitsmaterial bunkerte, und förderte nach einigem Wühlen ein dunkelblondes Menjoubärtchen zu Tage. Er schlüpfte in eins seiner farbenprächtigen Hawaiihemden und ließ es locker über den Bund seiner hellen Freizeithose hängen. Das Hemd war limettengrün und mit mattblauen und scharlachfarbenen Palmen bedruckt. In Recife hatte die Touristensaison begonnen, und in dieser Aufmachung würde er anstandslos als aufgeputzter Gringo durchgehen.

Fuscão Pereira griff nach der Klebstofftube und befestigte das Bärtchen. Der Madonna sei Dank war es kein Problem, an Straßenkinder heranzukommen. Er kannte ihre Eigenarten, ihre Steckenpferde und ihre Abneigungen. Er wusste haargenau, wie man die Kinder anpacken musste, denn er war selbst ein ehemaliges Straßenkind. Der Umgang mit den Pivetes war im Grunde ein Kinderspiel: Man durfte weder Furcht noch Widerwillen zeigen, sonst wurden die Kinder tobsüchtig. Alle anständigen Brasilianer begegneten ihnen Tag für Tag mit Angst und Verachtung. Ekel oder Abwehr aber machte die Kids zu bösartigen kleinen Monstern, die mit abgebrochenen Flaschenhälsen auf einen eindroschen. Nein, man musste gemütvoll und aufrichtig zu ihnen sprechen - wie ein liebevoller Tio eben. Darauf sprangen die Pivetes an, denn sie waren ja noch Kinder. Sie waren nicht wirklich abgebrüht und raubten nur, um zu überleben. Doch in der Hand eines warmherzigen Onkels waren die Straßenkinder Wachs, denn sie waren ausgehungert nach Liebe.

Der Marder schnaufte kurzatmig, während er das farbenfrohe Hemd wieder abstreifte. Natürlich musste er andauernd seine Aufmachung ändern, denn die Kinder unterhielten ein ausgefuchstes Nachrichtennetz, und er hatte wirklich keine Lust, von irgendeinem dreimalschlauen Moleque wiedererkannt zu werden. Damit wäre sein Geschäft im Eimer gewesen. Doch das war bisher nie passiert, denn er ging es clever an. Manchmal erkannte er sich nach erfolgter Verwandlung selbst kaum wieder.

Fuscão starrte in den Spiegel und erprobte sein gütiges Lächeln.

Es war ein milder, gutherziger und ein wenig verblödeter Gesichtsausdruck, der suggerierte, dass er keiner Fliege etwas zuleide tun könnte. Und dass er außerdem spielend leicht über den Tisch zu ziehen war. Er war noch nie von einem Pivete angefallen worden.

Dass er selbst mit heiler Haut der Hölle des Straßenkinderelends entronnen war, konnte der Marder manchmal selbst kaum fassen. Natürlich hatte er es nur mit Unterstützung der Drogenmafia geschafft. Fuscão hatte viele Jahre als Drogenkurier gearbeitet - ein lebensgefährlicher Job, bei dem man sich keinen noch so winzigen Fehler erlauben durfte. Doch selbst dem blutgierigen Arm der Drogenmafia war er wieder entronnen. Er hatte den Hexenkessel Rio verlassen, seinen Namen geändert und war in Recife untergetaucht. Fuscão grinste und gratulierte sich im Geist zu seiner Gerissenheit. Und inzwischen war er Organbeschaffer, eine Arbeit, von der man prächtig leben konnte. Es war kinderleicht, die ausgehungerten, verdreckten Pivetes mit einem warmen Bad und einer gemütlichen Fernsehnacht in einer billigen Absteige anzulocken. Dazu Hamburger und eine kräftige Feijoada, Coca Cola, Bonbons und Fruchtsäfte. Und natürlich Schusterleim - Ströme von Schusterleim. Für die Pivetes war das der Himmel auf Erden. Meist allerdings kamen die Kinder gar nicht mehr dazu, viel zu schnüffeln. Ein paar K.o.-Tropfen in ihren Ananassaft, und schon waren sie im Dämmerschlaf. Ihnen Blut und Urin abzunehmen, war dann kein Problem mehr. Für den Urin legte er den betäubten Kindern einen Katheter.

Fuscão wandte sich vom Spiegel ab und kramte in der mittleren Schublade in seiner Truhe. Bestimmt zum fünfzigsten Mal überlegte er, ob er die betäubten Kinder nicht vorher noch an einen Pädophilen verkaufen sollte. Schließlich gab es genügend perverse Säue, denen es Spaß machte, ein ohnmächtiges Kind zu ficken. Es wäre ein nettes Zubrot gewesen, und die Pivetes hätten gar nichts davon mitgekriegt. Aber er brachte es einfach nicht fertig. Pereira schalt sich deswegen einen sentimentalen Ziegenbock, aber es half nichts. Er konnte es nicht. Außerdem brachte ihm seine Arbeit genug Kohle ein, auch ohne dass er Pädophile bediente. Die nötigen Blut- und Gewebetests gab er als Eilaufträge an ein nahegelegenes Labor, während er den Kindern ein kleines Frühstück spendierte und sie dann in der Nähe ihres Lagerplatzes wieder absetzte. Das Labor brauchte für die HLA-Typisierung bloß zehn Milliliter EDTA-Blut pro Kind.

HLA hieß Human Leucocyte Antigen, wie sich Pereira, stolz auf sein Englisch, ins Gedächtnis rief. Aus den Leukozyten, den weißen Blutzellen, isolierte das Labor dann irgendwie die DNA des Spenders, doch wie das genau ablief, hatte er nie richtig kapiert. Alles, was er wusste, war, dass die HLA-A, -B- und -DR-Antigene zwischen Spender und Empfänger möglichst verträglich sein sollten. Das war wichtig für den dauerhaften Erfolg einer Transplantation. Mit der HLA-Typisierung eines Spenders nach der molekulargenetischen Methode war das Labor in ungefähr drei Stunden fertig, das allein zählte. Wenn die Blutgruppe in Ordnung war, und die Gewebetests einigermaßen okay, schaute der gute Tio Fuscão nach einigen Tagen erneut bei den Straßenkindern vorbei. Diesmal aber schaffte er die Kids nicht in eine verlotterte Pension, sondern in Gallaghers geschmackvolle Altbauwohnung.

Pereira verzog den Mund und trottete ins Bad. Aus seinem Spiegelschrank nahm er eine Packung Bleichcreme und eine Tube dunkelblonder Haarfarbe. Er legte seine klotzige goldene Armbanduhr ab und zog die Perücke aus. Dann betupfte er Augenbrauen, Unterarme, Hände und Brusthaar mit Wasser und trug mit dem Spatel eine großzügige Dosis Bleichcreme auf. Klar, ein paar ehemalige Straßenkinder, die wie er überlebt hatten, waren Gutmenschen und wurden Straßenerzieher. Sie pirschten nachts durch die verlassenen Gassen, um hungrige und verlauste Pivetes mit Essen und tröstenden Worten zu versorgen. Na, jeder nach seinem Geschmack. Er für seinen Teil zog es vor, als Organbeschaffer sein anständiges Auskommen zu haben. Fuscão strich die Creme auf seiner behaarten Brust glatt und warf einen Blick auf seine Uhr. Dann setzte er sich auf seinen azurblau angestrichenen Holzstuhl und wartete darauf, dass das Bleichmittel wirkte.

Als er an die Entsorgung der kleinen Spender dachte, verdüsterte sich seine Stirn. Das war der einzige Teil seiner Arbeit, den er wirklich hasste. Der Alte nähte die Kinder nach der Organentnahme immer nur notdürftig zu, und er musste die Leichen mit ihren frischen Wunden in seinem Bulli zu einer der großen Müllkippen schaffen und vergraben. Meist fehlten den Kindern die Augen, und fast immer rissen die schlampig zusammengeflickten Wunden wieder auf und nässten, während die Münder der Pivetes aufklafften und ihre leeren Augenhöhlen ihn vorwurfsvoll anstarrten.

Fuscão Pereira drehte am Wasserhahn und hielt sein linkes Handgelenk probeweise unter den Wasserstrahl. Die Haare auf seinem Gelenk waren hellblond. In drei Teufels Namen, irgendein Haar in der Suppe gab es doch immer. Man musste eben die Zähne zusammenbeißen. Die Pivetes hatten es jedenfalls hinter sich, und spätestens mit siebzehn waren die meisten von ihnen doch ohnehin tot. Er ersparte ihnen einfach ein paar Jahre Hunger und Prostitution - von der Folter durch die Militärpolizei gar nicht zu reden.

Pereira machte sich stöhnend ans Abspülen der Bleichcreme. Er tupfte sich die Augenbrauen ab und seufzte schwer. Trotzdem musste er sich für diesen Teil seiner Arbeit jedes Mal einen ansaufen.

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Dominik Merill blickte Arissa ohne das leiseste Lächeln entgegen. Er lehnte in Bikerpose an einem Laternenpfahl gegenüber der Rechtsmedizin. Neben ihm halb auf dem Bürgersteig stand ihr gemeinsamer Dienst-BMW. Nick bemerkte, dass Arissas Haut eine paar Nuancen dunkler war als sonst. Sie trug einen Hosenanzug aus einem fließenden seegrünen Stoff, und ihr voller Mund leuchtete rot. Die Flut ihrer kakaofarbenen Haare umloderte ihr Gesicht. Arissa sah viel jünger aus als siebenunddreißig, und er wusste, dass das manche Leute dazu verführte, sie nicht ernst zu nehmen. Doch Arissa machte das nichts aus; sie benutzte es vielmehr schamlos für ihre Ermittlungsarbeit.

Nick Merill fand seine Vorgesetzte hinreißend, ließ sich aber nichts anmerken. Anfangs, als er noch neu in Köln war, hatten zwei Kollegen von der Computerkriminalität ihn gewarnt, Arissa sei ein unverschämtes Luder. Sie sei dominant und eingebildet, und ihre Karriere verdanke sie hauptsächlich ihrer Bereitschaft, den allmächtigen Julius Brüggemann ranzulassen. Sie hatten ihm feixend geraten, ihr von Anfang an die Zähne zu zeigen, wenn er nicht hoffnungslos untergebuttert werden wollte. Natürlich hatte er diesen Blödsinn nicht unbesehen geglaubt, aber tatsächlich war er Arissa zu Anfang mit gehörigem Misstrauen begegnet. Doch inzwischen hatte sich das Blatt grundlegend gewendet, denn er war in Arissa verliebt. Und das, obwohl er wusste, dass er bei ihr nicht landen konnte, denn sie hatte es ihm in einer heftigen Auseinandersetzung gesagt. Ob das an seinem dicken Bauch lag, an seinen ruppigen Manieren oder an der Tatsache, dass er seit seiner Scheidung an der Flasche hing, hatte sie nicht gesagt. Auf jeden Fall zog sie ihm diesen eingebildeten Rechtsmediziner vor, der immer wie frisch aus dem Ei gepellt aussah - ein Trottel, der mit Vorliebe seidene Hemden trug, die mit Enten, Waschbären und ähnlichen kleinen Viechern bedruckt waren. Das Entenhemd, nannte Nick den Kerl bei sich.

Carolin Arissa schlängelte sich mit gemischten Gefühlen zwischen den Autos des dicht befahrenen Melatengürtels hindurch. Eine Formation von Dohlen zischte heiser krächzend über Merills Kopf hinweg, doch sein Gesicht blieb unbewegt. Aber ein alter Mann mit Baskenmütze hob drohend seinen Krückstock und beschimpfte die Vögel.

Vor rund fünf Monaten war Nick Merill von Stuttgart nach Köln strafversetzt und ihrem Mitarbeiterstab zugeteilt worden. Die Behörde hatte Merill vom Hauptkommissar zum einfachen Kommissar zurückgestuft, weil er sich als Kameradenschwein erwiesen und zudem den Polizeipräsidenten von Stuttgart geohrfeigt hatte. Erst später hatte Carolin erfahren, dass Merill als einziger Beamter aktiv gegen die auf der Stuttgarter Zentralwache übliche Misshandlung von Arretierten vorgegangen war.

Als einfacher Kommissar jedoch war er Arissa automatisch unterstellt, was anfangs endlose Schwierigkeiten verursacht hatte. Riedhammer von der Pressestelle hatte sie gewarnt, dass Nick Merill ein unverbesserlicher Macho sei, der sofort an ihrer Autorität kratzen und die Macht an sich reißen würde. Allerdings war Riedhammer ein berüchtigtes Klatschmaul, doch sie hatte zu viele Kerle gekannt, die exakt dieses Verhaltensmuster an den Tag legten. Daher war sie vor Nick Merill auf der Hut gewesen. Und tatsächlich hatte der degradierte und gedemütigte Merill wochenlang Feuer gespuckt, sich mit jedem Kollegen angelegt und sie mit seinem Zynismus fast verrückt gemacht. Doch im Verlauf ihres ersten gemeinsamen Falls – einer Mordserie durch eine mafiaähnliche Bande - hatten sich beide achten gelernt. Carolin hatte begriffen, dass Merill zwar schlechte Manieren hatte, aber über Sachverstand und einen ausgezeichneten kriminalistischen Instinkt verfügte, und Merill hatte grollend akzeptiert, dass Arissa nicht drauf aus war, ihn wie einen grünen Bengel durch die Gegend zu scheuchen.

Carolin betrachtete Nick unter gesenkten Wimpern, während sie sich zwischen den letzten fahrenden Autos durchwand. Merill war ein schwergewichtiger Hüne und nahezu eins neunzig groß. Er hatte ein aufsässiges, leicht teigiges Gesicht mit einer gebogenen fleischigen Nase. Nick war erst neununddreißig, wirkte aber viel älter. Seine rauchgrauen Augen sahen wässrig und verschwollen aus, und seine Züge waren gedunsen. Klar, Nick trank ganz schön.

„Hey, du siehst ja glänzend aus!“, krächzte Merill und verzog seine teigigen Züge zu einem Grinsen. „War’s nett in Madeira?“

Carolin lächelte, obwohl sie insgeheim verstimmt war. Warum zum Teufel hatte sie sich von Merill übertölpeln lassen? Viel lieber hätte sie mit Cedric noch einen Kaffee getrunken. Sie beschloss, gegen künftige Kontrollversuche Nicks wachsam zu sein. „Sehr nett“, erwiderte sie einsilbig, während sie hinter das Lenkrad des BMWs glitt.

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Recife 8. September 2000

Sancho hockte auf einer dreifachen Lage Pappkartons und sog gierig an seiner Kleisterflasche. Es war eine dunkle, eiskalte Nacht. Routiniert unterdrückte er den Reizhusten, der sich zu Beginn des Schnüffelns unweigerlich einstellte und die Luftröhre wie Feuer reizte, aber schon lösten sich seine verkrampften Muskeln in Wohlbehagen auf. Er beobachtete gleichmütig, wie Tupi den Arm um die kleine Moa legte und die dünne, verfilzte Decke, die den Kleinen zum Wärmen diente, über den Schultern des Mädchens zurechtzupfte. Moa war das Küken der Bande. Tupi hatte sie verwahrlost, halb verhungert und durchgedreht auf dem Pflaster der Altstadt gefunden und das zu Tode erschöpfte Kind zu den Leoparden geschleppt. Nicht alle hatten sich über den Zuwachs gefreut. Besonders Luna beäugte die hübsche Sechsjährige argwöhnisch und hackte häufig auf ihr herum. Sancho verstand das durchaus, denn bevor Moa gekommen war, war Luna die einzige Frau der Bande gewesen. Außerdem war Luna seit einigen Monaten schwanger, und schwangere Frauen waren launischer als das Meer. Andrerseits war Moa ein Geschenk Gottes, denn sie half durch Betteln, die Gruppe zu ernähren. Schließlich war das Kind winzig und entzückend und erweckte noch einen Funken Rührung in Leuten, die das Elend, das an jeder Straßenecke lauerte, bereits sterbenssatt hatten. Außerdem war Moa fleißig: Sie sammelte Gemüsestrünke vom Boden der Markthalle und klaute manchmal sogar ein paar Erbsen oder ein Ei. Nichts Besonderes, aber ohne Moa hätten sie doch an manchen Abenden hungern müssen. Sancho betrachtete sie abschätzend. Die Kleine war eine Schönheit, aber ihre kinnlangen Löckchen waren eine Katastrophe.

„Moas Haare sind total verfilzt“, sagte er träge zu Luna, die sich neben ihm auf dem zerdrückten Pappkarton räkelte.

„Macht nichts“, schrie Luna aufgekratzt. „Dann machen wir ihr eben Zöpfchen.“ Sie sprang hoch und tänzelte auf Moa zu. „Who let se dog out? Wuff wuff wuff wuff!“, grölte sie und schwenkte provozierend ihren Hintern.

Sancho beobachtete sie mit finster zusammengezogenen Brauen. Er war hin- und hergerissen zwischen Entzücken und Wut. Entzücken, weil Luna sexy war und selbst mit ihrem Babybauch den Teufel im Blut hatte. Und Wut, weil sie schon wieder bis zu den Haarwurzeln zu gedröhnt war. Offenbar hatte sie sich, während er zum Pinkeln im Gebüsch war, ausgiebig an seiner Kleisterflasche bedient. Wie oft hatte er ihr schon verboten zu schnüffeln, weil sie dem Baby schadete!

„Du siehst aus wie eine Ratte!“, fuhr Luna die Kleine an. „Du musst besser auf dich aufpassen, verdammt nochmal! Wir haben hier keine Mama, die sich um uns kümmert. Straßenkinder sind stark und schlau. Los, kämm Dir die Haare!“

„Womit denn?“, jammerte Moa und gab sich Mühe, nicht zu weinen. „Ich hab doch keinen Kamm.“

Tupi baute sich mit dem Mut der Verzweiflung vor Luna auf und hob tapfer das Kinn. Er sah aus wie ein winziger Kater, der sich aufplustert, um einen aggressiven Dobermann zu beeindrucken. „Lass Moa in Ruh!“, quiekte er. „Ich kümmer mich schon um sie.“

„Tja, und super machst du das “, erwiderte Luna spöttisch. „Moa sieht aus wie ein verlaustes Schwein.“

„Ich geh mit ihr zum Springbrunnen und wasch sie“, bot Tupi an.

Luna lächelte träge und zog dem Jungen blitzschnell die kleine Kleisterflasche aus der schmuddeligen Faust. Mit dem Rücken zu Sancho gewandt nahm sie gehetzt zwei tiefe Züge. Der Klebstoff war noch flüssig und stark, und Lunas Augen verdrehten sich unter den betäubenden Dämpfen.

„Oh-kay“, sagte sie mit schleppender Stimme und stieß Tupi die Kleisterflasche wieder vor die Brust. „Und wasch Dich auch gleich selbst. Du bist dreckig wie eine Kanalratte.“ Sie musterte Tupi und Moa mit Widerwillen im Blick. Die Kleinen trugen zerfetzte Hemdchen und waren so schmutzig, als hätten sie sich im Rinnstein gewälzt. Aber wenn man seine Klamotten im Springbrunnen waschen musste, sahen sie eben nach kurzer Zeit wie Drecklappen aus. Außerdem stellte der alte Kerl, der den Springbrunnen bewachte, immer das Wasser ab, sobald er die Kinder zum Brunnen rennen sah. Anschließend schüttelte er die geballten Fäuste und drohte ihnen mit den Bullen, und den Kleinen blieb nichts übrig, als abzuhauen.

Luna zog die Stirn in Falten, während sie angestrengt nachdachte. Leider konnten Tupi und Moa auch nicht einfach ihre Mama in der Favela besuchen, um sich zu waschen und ihre Kleider zu säubern, so wie sie selbst es tat. Moas Mutter lebte als zugedröhntes Wrack unter irgendeiner Brücke in Recife, und Tupis Mutter war tot. Luna seufzte erschöpft und stakste zu ihrem Allerheiligsten, einer mit Herzchen geschmückten Kinderhandtasche aus glänzendem Plastik. Sie kniete sich auf den Pappkarton, wühlte in dem Handtäschchen und zog einen kleinen grünen Seifenrest hervor, den sie Tupi zuwarf. „Aber dass ihr mir ja nicht alles verbraucht!“, drohte sie. „Und wascht euch ordentlich. Wir heißen Leoparden und nicht Schweine. Und deshalb sehen wir auch nicht wie Schweine aus, kapiert?“ Sie drehte sich mit provozierendem Hüftschwung zu Sancho um. „Oder stimmt‘s vielleicht nicht, Schatzi?“

„Stimmt genau, Mäuschen.“ Sancho kratzte sich träge den wolligen Kopf über den Segelohren. Für seine fünfzehn Jahre war reichlich mickrig, kaum größer als ein Zwölfjähriger. Er war der Dunkelste der Bande und lebte schon seit sieben Jahren auf dem Pflaster. Mit acht war er von Zuhause fortgelaufen und hatte drei Brüder und vier Schwestern zurückgelassen. Sancho war der jüngste, und sein Vater hatte ihn nicht nur regelmäßig grün und blau geprügelt, sondern auch seine Kippen auf seiner Brust ausgedrückt.

Sancho setzte sein draufgängerischstes Grinsen auf und packte seine Freundin um die Hüfte. „Komm, wir gehen ein bisschen abseits“, raunte er mit tiefhängenden Lidern und nahm noch schnell zwei Züge aus der Klebstoffflasche. „Cielito, Du rührst den Topf um. Lass bloß nichts anbrennen, Kumpel.“ Wenn er so zugedröhnt war wie jetzt, wollte er einfach nur noch Lunas hübsche Brüste streicheln und sie ficken und ficken, bis sie sich ineinander verloren, und Hunger, Dreck und die Brutalität der Straße für einen köstlichen Augenblick von ihm abfiel.

Im Traum verzog die kleine Moa ihre Lippen zu einem seligen Lächeln. Sie wohnte wieder in ihrer alten Hütte, und Papa war so lebendig wie eh und je. Es war ein wundervolles Heim aus Sperrholz und Plastik mit einem festgetrampelten Lehmboden, den Mama jeden Tag ordentlich abschrubbte. Die Hütte war ein richtiges Zuhause mit zwei kleinen Zimmern, in denen sie alle schliefen und aßen - Papa, Mama und Moa mit ihren drei Geschwistern. Mama war wieder jung und hübsch. Sie trug das Baby Diego auf dem Arm und sang für den Kleinen ein schwermütiges Lied. Moa rannte überglücklich zu ihr hin und klammerte sich an ihre Wade, und Mama lachte und gab ihr ein Stück Mango. Der berauschende Saft der Mango tropfte Moa auf die Brust. Goldgelbes Sonnenlicht strömte durch die winzigen Fenster und lag in hellen Flecken auf dem glatten Lehmboden.

Plötzlich kreischte Tio Rodrigos Stimme in höchster Panik von draußen: „Marília, komm schnell, Rinaldo ist in die Zuckerrohrpresse geraten! Marília, um Christi willen, rasch, rasch!“ Immer wieder schrie Tio Rodrigo diese Worte, und jedes Mal war seine Stimme lauter. Das Licht in der Hütte war plötzlich ganz schwach, und Mama wurde vor Moas entsetzten Augen faltig und alt, während Tio Rodrigos schrille Stimme unablässig weiterkreischte. Dann war es schon fast finster in dem winzigen Raum, und Tio Rodrigo rüttelte wütend an der Tür, aber Mama trank aus der Cachaçaflasche und lachte ihr schreckliches heiseres Lachen. Sie ließ Diego achtlos auf den Lehmboden fallen, ohne sich weiter um das schreiende Kind zu kümmern. Moa schüttelte Mama und krächzte: „ Hast Du nicht gehört? Papa ist in die Zuckerrohrpresse gefallen!“ Doch Mama bekam ihr böses Gesicht und blähte sich vor Moas Augen zu einem grauroten Monster auf, das aus aufgequollenem Mund Unflätigkeiten grölte. Das Mamamonster hatte ganz tote Augen und riss den Mund weit auf, um Moa zu fressen...

Moa erwachte mit einem schrillen Schrei. Sie lag neben Tupi auf dem Pflaster, die zerrissene alte Decke notdürftig über den Beinen. Die Hütte und das Sonnenlicht waren weg. Es war Nacht, und es war kalt. Papa und Diego waren tot. Und Mama hauste unter irgendeiner Brücke und soff sich das Hirn aus dem Schädel.

Moa stöhnte trostlos und klammerte sich an Tupis Schulter fest.

Sie war ganz verlassen.