Kitabı oku: «Leoparden unter kaltem Mond», sayfa 4

Yazı tipi:

9

Carolin Arissa war ungewöhnlich still, während sie mit Nick Merill zum Landeskriminalamt fuhr. Merill saß am Steuer und rauchte keine einzige Zigarette, aber sie bemerkte seine Selbstaufopferung überhaupt nicht. Dabei war seine Qualmerei in ihrem gemeinsamen Dienstwagen sonst immer ihr bevorzugter Zankapfel. Nick versuchte Arissa in ein Gespräch zu ziehen, doch sie reagierte einsilbig. Wahrscheinlich dachte sie an diesen aufgebrezelten Idioten mit seinen seidenen Hemden, diesen widerlichen Rechtsmediziner. Das Entenhemd.

Doch Merill irrte sich. Carolin dachte an Haare. Menschliche Haare wurden in kaukasische, negride und mongolide Haare unterteilt. Europäer hatten Haare vom kaukasischen Typus. Haare enthielten winzige Mengen von Spurenelementen: Kupfer, Zink, Brom, Arsen, Kalzium, Eisen, Aluminium, Gold, Blei, Mangan und Natrium. Die Kombination der Spurenelemente im Haar war bei jedem Menschen anders, was vermutlich mit der Ernährung, dem geografischen Milieu und der Lebensweise des Betreffenden zusammenhing. Aber galt das auch für Tiere? Hunde wurden in Deutschland relativ einheitlich ernährt. Sie bekamen Leber, Lunge und Herz, wenn sie ein gutes Herrchen hatten, und im Übrigen mehr oder weniger edles Dosenfutter. Dazu Trockenfutter und gelegentlich einen Hundekuchen oder Hundekeks. Würde sich beispielsweise neben der Ernährung auch das geografische Milieu eines Hundes in den Haaren seines Fells spiegeln? Oder war das zu weit hergeholt? Arissa erwachte aus ihrer Versunkenheit und hob den Kopf. „Was weißt Du über Haare, Merill?“

Nick war dankbar, dass sie ihr ungewohntes Schweigen brach. „Es gibt ausgerissene, abgeschnittene, abgequetschte und ausgefallene Haare. An ausgerissenen Haaren haften meist noch Reste der Wurzel, sodass sich aus den Wurzelzellen genügend Kern-DNA zur Individualisierung der Haarspur gewinnen lässt.“

Carolin nickte abwesend. Zwei der drei Tierhaare, die auf dem toten Mulattenjungen gefunden worden waren, besaßen Wurzelreste und waren im Landeskriminalamt einer DNA-Analyse unterzogen worden. Die Bestimmung einer Tierart mit Hilfe der DNA-Analytik wurde nur in wenigen Speziallaboratorien vorgenommen, und die grobe mikroskopische Klassifizierung der Haare als Hund durch Sommerfelds Mitarbeiter war bis jetzt nicht mehr als eine Hypothese. Leider hatte der Tierhaarspezialist des Landeskriminalamts, Dr. Roland Breedveld, es nachdrücklich abgelehnt, ihnen telefonische Auskünfte zu geben. Er hatte verlangt, dass die Ermittler aus Köln ihn persönlich aufsuchten.

„Der Haarschaft, also der Teil, der aus der Kopfhaut ragt, besteht aus dem Gerüsteiweiß Keratin“, fügte Merill hilfreich hinzu.

„Und Tierhaare, wie sieht es damit aus?“

„Tierhaare haben eine ausgeprägte Markstruktur und andere Schuppen als Menschenhaare.“ Merill kratzte sich am Kopf und furchte die Stirn. „Tierhaare haben oft oben, in der Mitte und unten verschiedene Farben, und sie haben fast immer eine Spitze, weil sie nicht geschnitten werden.“

„Stimmt, aber manche Tiere werden auch getrimmt, Hunde wie Pudel zum Beispiel.“ Cedric Sommerfeld besaß eine champagnerfarbene Pudelhündin namens Missy, die er manchmal ins Rechtsmedizinische Institut mitbrachte, und deren lockiges Fell sich an den frisch geschorenen Stellen unvermutet rau anfühlte.

Nick zuckte die Achseln und lenkte den Wagen auf die linke Bahn. „Kaninchenhaare sollen aufgrund ihrer mikroskopischen Struktur besonders leicht zu identifizieren sein. Allerdings ist mein Wissen über Tierhaare damit erschöpft.“

„Na, dann sind unsere Haare bestimmt keine Kaninchenhaare, denn Sommerfelds Mitarbeiter war sich seiner Sache nicht besonders sicher.“

„Kein Haar gleicht dem anderen“, bemerkte Nick philosophisch. Seine Hand zuckte nervös zu seiner Brusttasche hoch, in der seine Gauloises steckten, doch er zog sie unverrichteter Dinge wieder zurück.

Carolin Arissa betrachtete ihn nachdenklich von der Seite. Nicks Bauch hing wie stets über seinen Gürtel, und der unmoderne graue Anzug war zerknittert. Das braune Haar stand ihm in Büscheln hoch, und auf der rechten Seite, wo das Feuer auf der Spinnerfarm seine Haare weggebrannt hatte, waren knapp zwei Zentimeter lange Stoppeln nachgewachsen. Auch die weggebrannte Augenbraue und die Wimpern seines rechten Auges hatten sich schon ein bisschen erholt. Sie seufzte unhörbar. Immerhin hatte Nick den Feuerzauber, den ein geistesgestörtes Mitglied der Bande entfacht hatte, überlebt. Nicht alle Kollegen hatten so viel Schwein gehabt.

„Hoffentlich ist es ein seltener Hund“, sagte sie. „Wenn es sich nämlich um einen Golden Retriever oder einen Rauhaardackel handelt, können wir einpacken.“ Merill nickte. Retriever und Drahthaardackel gab es in Deutschland wie Sand am Meer. Der Wagen legte sich in eine langgeschwungene sanfte Kurve, als Merill in die Ausfahrt nach Düsseldorf einbog.

„Wenn es aber ein Mops oder ein Basset wäre, sähe die Sache anders aus“, sagte Carolin. Bassets waren vor drei Jahrzehnten groß in Mode gewesen, wurden aber inzwischen nicht mehr besonders häufig gezüchtet, und auch Möpse waren in Deutschland nicht allzu verbreitet. Glücklicherweise war tierische DNA inzwischen als rechtskräftiges Beweismittel vor Gericht zugelassen. Allerdings waren die Anforderungen an die zugrundeliegenden DNA-Analysen sehr hoch, weshalb tierische DNA relativ selten als Beweismittel genutzt wurde. Immerhin konnte man dem betreffenden Tier eine Blutprobe entnehmen, die DNA analysieren und sie mit der DNA der strittigen Haare vergleichen. Wenn man Glück hatte, stimmten beide überein. Solange man allerdings das fragliche Tier nicht hatte, nützte einem auch die ausgefeilteste DNA-Analyse nichts.

Arissa wischte sich mit dem Handrücken über die Schläfen. Normalerweise wäre ein solcher DNA-Antrag abgeschmettert worden. Da sie aber im Fall des toten kleinen Mulatten nichts weiter hatten als die drei Tierhaare, waren sie damit durchgekommen.

10
Recife, 11. September 2000

Fuscão Pereira schob die Rollliege mit dem schlafenden Kind in Gallaghers großen Operationsraum. Das Mädchen war neun und hatte die Farbe von Milchkaffee. Er hatte das verdreckte kleine Ding mit der üblichen Masche vom Pflaster aufgelesen und in der Pension Luzia mit Bohnen, Big Macs und Coca Cola genudelt. Die Blutgruppe war die Richtige gewesen und die Gewebetests wenigstens halbwegs okay. Er hob das Kind, dessen Körper mit einem grünen Tuch verhüllt war, von der Liege auf den OP-Tisch. Todd Gallagher hatte dem OP-Tisch den Rücken gewandt und starrte zur Zimmerdecke empor. „Was haben wir heute?“, fragte er knapp.

„Weiblich, neun Jahre, Herz, Leber, Bauchspeicheldrüse und beide Nieren“, entgegnete Pereira ebenso knapp.

„Verdammt Pereira, müssen es denn immer so kleine sein?“, schimpfte Gallagher, und Fuscão warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Der Alte sah angespannt aus. Hatte wohl mal wieder einen Anfall von schlechtem Gewissen. Dieser Gringo und sein elendes Gewissen! Aber letztlich schnitt er doch jeden auf, den Fuscão ihm brachte.

„Es wurden Organe eines Kindes unter zehn angefordert“, erwiderte er sachlich. „Dieses Mädchen ist neun.“

„Bis wann?“

„Das Herz wird um einundzwanzig Uhr dreißig abgeholt. Die übrigen Organe müssen spätestens um dreiundzwanzig Uhr dreißig im Siqueira sein.“

Todd Gallagher schlurfte durch den OP-Raum und hockte sich vor seine Hi-Fi-Anlage. Während der Explantationen hörte er meistens klassische Musik. Man konnte den Apparat mit bis zu sechs CDs bestücken, und CDs mit klassischer Musik waren selten kürzer als eine Stunde. Das reichte, um eine Multiorganentnahme durchzuziehen.

Pereira entfernte das grüne Laken vom Körper der mageren Neunjährigen. Er trug reguläre OP-Kleidung und Plastiküberschuhe. Sein krauses Haar steckte unter einer durchsichtigen Haube. Routiniert desinfizierte er den Brust- und Bauchbereich des Kindes. Die Kleine war mager wie eine streunende Katze, aber zäh und offensichtlich gesund. Pereira wusste, dass der Alte sich erst umdrehen würde, wenn sein Assistent mit den Operationsvorbereitungen fertig war. Gallagher weigerte sich nämlich, die Straßenkinder anzuschauen. Er kam grundsätzlich erst zum OP-Tisch, wenn sein Anästhesist das Kind steril abgedeckt und das kleine Gesicht mit einem Tuch verhüllt hatte.

Fuscão zuckte die Achseln. Gallagher hatte ihm erzählt, dass amerikanische Chirurgen die Organspender auf ihrem OP-Tisch unter keinen Umständen ansähen. Die einzelnen Interessenten kämen mit ihren Kühlboxen angerauscht und schnappten sich aus dem aufgeschnittenen Körper, was sie gerade so brauchten. Die Hornhäute wurden von einem Augenarzt entnommen, das Herz von einem herzchirurgischen Team und die Haut von einem Dermatologen. Niemals, so behauptete Gallagher, würde ein einzelner Chirurg sämtliche Organe entnehmen, da er bei einer solchen Belastung unweigerlich zusammengebrochen, zumindest aber in schlimme seelische Konflikte gekommen wäre. Er aber -Todd Gallagher - musste alle Organe allein entnehmen. Da war es nur recht und billig, wenn ihm der Anblick der Pivetes so weit wie möglich erspart blieb.

Pereira schnaufte verächtlich und bedeckte die Kleine mit sterilen weißen Laken, wobei er Brust und Bauch frei ließ. Und was war mit ihm? Er suchte die Kinder aus, bewirtete sie in einer einfachen Pension, nahm ihnen Blut und Urin ab und schaffte sie ein oder zwei Tage später in Gallaghers Praxis. Er kannte die Kinder. Und zum Schluss musste er ihre ausgeweideten Leichen verschwinden lassen. Was war mit seinen seelischen Konflikten? Nun, die gab es nicht. Schließlich war er ja bloß ein ungebildeter Mulatte, ein Stück Müll von der Straße. Und es war ja bekannt, dass bloß kultivierte Menschen in seelische Konflikte gerieten.

Fuscão warf einen säuerlichen Blick auf Gallaghers gebeugten Rücken. Der Alte kramte immer noch in seiner Musiksammlung. Außer dem kaum hörbaren Schaben, mit dem die Schutzhüllen übereinander glitten, war es geisterhaft still im Raum. Meist hörte Gallagher während der Organentnahmen geistliche Musik - Typen, die Palästina oder William Börd hießen. Das Zeug klang wie Mönchs- und Engelsgesänge in der Kirche. Manchmal hörte er auch einen Kerl namens Händel. Der war viel besser - nicht so ein saft- und kraftloses Zeug wie dieser Palästina.

Todd Gallagher presste den leise klickenden Startknopf, und der Raum füllte sich mit eindrucksvollen, volltönenden Klängen. „Was ist das?“, fragte Fuscão höflich. Er fragte immer nach, um Lerneifer zu zeigen und gutes Wetter zu machen. Schließlich war das hier ein wichtiger Teil seines Jobs. Für seine Arbeit als Anästhesist und für die anschließende Entsorgung der Leichen bekam er ein Drittel ihres gemeinsamen Lohns. Das eigentliche Aufstöbern, Testen und Heranschaffen der Pivetes wurde natürlich extra bezahlt. Weiß Gott, er konnte sich nicht beklagen.

„Sergej Rachmaninow“, erwiderte Gallagher mit abgewandtem Gesicht. „Das große Abend- und Morgenlob.“

„Klingt toll!“ Pereira griff nach dem Laryngoskop, führte es am rechten Mundwinkel des Kindes ein und drängte die Zunge nach links, während er das Laryngoskop vorsichtig tiefer schob. Dieser Rachmanninoff war wieder so eine geistliche Musik. Er wandte den Blick von dem geöffneten Mund der Kleinen ab und lauschte einen Moment lang konzentriert. Wirklich nicht übel. Er griff zielsicher nach einem Magill-Tubus der richtigen Größe. Die endotracheale Intubation überließ Gallagher grundsätzlich ihm. Eigentlich komisch, dass der Alte darauf bestand, während der Organentnahmen Kirchenmusik zu hören. Wollte er dadurch seine Seele läutern? Oder einfach in eine andere Welt entfliehen? Irgendwer hatte ihm erzählt, dass die KZ-Ärzte bei ihren medizinischen Experimenten auch immer klassische Musik gehört hätten. Aber eigentlich war die Kirchenmusik während der OPs gar nicht so übel. Fegte einem irgendwie den Kopf frei.

Mit feinem Fingerspitzengefühl dirigierte er den biegsamen Tubus an der engen Stelle unterhalb der Stimmritze des Mädchens vorbei. Durch dieses Rohr bekam das Kind während der Organentnahme Sauerstoff und Narkosegas. Das war besser als die Maske, denn so strömte kein Gas in den OP-Raum, da es komplett abgesaugt wurde. Außerdem kam bei Baucheingriffen sowieso nur die endotracheale Intubation in Frage. Pereira kontrollierte die Position des Tubus und befestigte ihn mit Pflaster. Dann checkte er Herzfrequenz und Blutdruck der kleinen Mulattin. Die Intubationsphase war ein besonders kritischer Moment, und man musste höllisch aufpassen. Der Kreislauf musste stabil sein, bevor die eigentliche Explantation begann. Und auch während der OP musste er den Blutdruck ständig kontrollieren. Alle Inhalationsnarkotika ließen den Blutdruck absacken. Fuscão zog das weiße Tuch über Mund und Nase des Kindes zurecht und überprüfte die Narkosetiefe.

„Bist Du soweit?“, fragte Todd Gallagher und starrte immer noch die Wand an.

„Alles klar, Boss.“ Der Alte trottete zum OP-Wagen und desinfizierte sich Hände und Arme. Er streifte eine transparente Haube über, schlüpfte in sterile Handschuhe und trat zum OP-Tisch. Die Klänge des Abendlobs schwebten schwermütig und geheimnisvoll durch den Raum. Der durchdringende Geruch nach Desinfektionslösung wurde stärker. Gallagher zog sich Mundschutz und Spritzbrille an und schaute auf die Wanduhr in Form einer schnatternden Gans. Insgesamt fünf Stunden, das war okay. Explantationen waren bei weitem nicht so zeitaufwändig wie Transplantationen, weil die unfreiwilligen kleinen Spender ja ohnehin starben. Da konnte man schon ein bisschen zügiger arbeiten.

Gallagher setzte das Skalpell am Brustbein des Mädchens an und zog es in einem geraden Schnitt hinunter bis zum Schambein, wobei er um den Bauchnabel herum einen kleinen Bogen beschrieb. Blut schoss hervor und lief an Brust und Bauch des Kindes herab. Pereira stillte das hervorströmende Blut. Sein Blick wanderte zwischen dem Alten und seinen Apparaten hin und her. Er musste das Operationsgeschehen ständig im Blick haben, denn die Stärke der Narkose hing davon ab, was der Boss gerade tat. Besonders der allererste Hautschnitt war qualvoll, da brauchte es eine tüchtige Betäubung.

Der Alte griff nach dem elektrischen Messer und schnitt tiefer. Pereira stillte das Blut. Die Kleine hatte so gut wie kein Fett unter der Haut. Immer tiefer schnitt Gallagher, und immer mehr Blut quoll hervor. Fuscão setzte eine undurchdringliche Miene auf und drehte das Gesicht leicht zur Seite. Blut an sich machte ihm an sich nichts aus, aber er hasste seinen heißen kupfrigen Geruch. Wie in einem Schlachthaus, schoss es ihm durch den Kopf. Die Knochensäge, mit der der Alte den Brustkorb geöffnet hatte, rutschte vom Tisch und knallte auf den Boden. Fuscão hob sie auf und legte sie auf den Instrumententisch.

Gallagher klappte zwei scharfwinklige Bauchfelllappen auf und machte sie auf beiden Seiten mit Klemmen fest. Jetzt war der Leib des Kindes offen wie ein Futtertrog, und der Boss konnte die Organe rausschneiden: Herz, Leber, Bauchspeicheldrüse, Nieren, Dickdarm, Harnleiter. Er brauchte nur noch zuzugreifen. Pereira pflückte ein steriles Tuch vom Stapel und warf einen prüfenden Blick auf EKG-Schirm und Beatmungsapparat. Alles prima. Die Kunst einer gelungenen Betäubung lag darin, die Narkose flach zu halten, gerade so flach, dass die Pivetes keine Schmerzsignale aussandten. Keine Hautrötung, keinen Blutdruckanstieg. Natürlich schonte das Verfahren auch die kleinen Spender, aber entscheidend war, dass dadurch Narkosegas und damit Geld eingespart wurde.

Fuscão kontrollierte noch einmal die Position des Tubus. Er war stolz auf seine Fähigkeiten als Anästhesist. Es war keine Kleinigkeit für einen Mann, der nur drei Jahre lang zur Schule gegangen war, den ganzen Anästhesiekram zu lernen. Im Prinzip war es natürlich wurscht, ob er Fehler machte oder nicht, denn die Pivetes starben ja ohnehin. Trotzdem gab er sich Mühe, keine Fehler zu machen. Die Kinder mussten zwar sterben, sollten aber nicht zusätzlich noch leiden. Mit dem sterilen Tuch streifte er sich dicke Schweißtropfen ab. Er hatte sich daran gewöhnt, dass Gallagher während der Explantationen kaum sprach. Nur in Notfällen, wenn das Timing aus dem Ruder zu laufen drohte, schnarrte er hastige Kommandos. Ansonsten schwieg er und ließ sich von der Musik davontragen, während er wie in Trance die angeforderten Organe herausschnitt.

Fuscão versuchte, nicht auf das Gesicht des Mädchens zu blicken, das aus seiner Perspektive am Kopfende teilweise sichtbar war. Für den Alten war es leicht - der sah bloß ein großes Laken mit einem riesigen Loch in der Mitte. Er aber musste auf das Gesicht des betäubten Kindes starren, das von dem Tuch nur unzureichend verhüllt wurde.

11
Recife, 11. September 2000

Sally Ryan war übermütiger Stimmung. Sie überquerte die Brücke über den Capibaribe und tauchte aufatmend in die Altstadt ein. Aus dem klaren blauen Himmel strahlte eine unerbittliche Sonne herab, doch die Gluthitze machte Sally nichts aus. Sie hatte lange für ihre erste große Auslandsreise gespart. Sechs Wochen Brasilien - ein Kulturtrip durch Recife, Bahia und Rio mit anschließendem Badeurlaub am warmen Meer. Als Filialleiterin einer Fast Food-Kette in Denver verdiente sie zwar ganz ordentlich, doch eine solche Reise war auch bei ihrem Einkommen kein Pappenstiel.

An einer Saftbar am Straßenrand bestellte sie einen frisch ausgepressten Maracujasaft und trank ihn mit genießerisch geschlossenen Augendeckeln. Mit einem Kleenex wischte sie sich kleine Schweißperlchen von Nase und Oberlippe und betrachtete mit glänzenden Augen die Kirche, die vor ihren Augen aufragte. Es war eine große, schwarzweiße Kirche mit wuchtigen Türmen. War sie nicht einfach märchenhaft? Sally holte ihren Reiseführer hervor und blätterte darin, bis sie die Kirche gefunden hatte. Igreja do São Pedro, buchstabierte sie ungelenk. Sie justierte die Digitalkamera, die an einer Kette um ihren Hals baumelte, und schoss ein Foto. Solche kolonialen Kulturgüter gab es in Denver nicht zu sehen.

Einige zerlumpte schwarze Kinder, die schon seit einigen Minuten immer wieder am Rand ihres Blickfelds aufgetaucht und verschwunden waren, begannen, engere Kreise um sie zu ziehen. Sally bemerkte sie nicht. Mit glühenden Wangen nahm sie das spannende Panorama Recifes in sich auf, die eindrucksvollen kolonialen Bauten und davor die mageren Straßenhändler in ihren Shorts, die brüllend ihre Waren anpriesen. Übrigens waren die Auslagen der Händler reichlich armselig - einfache Lippenstifte, Gummisandalen, Wäscheklammern und bunte Plastiktassen -, aber dennoch wirkte das Ganze pittoresk. Das hier war das pralle Leben des Südens. Sally Ryan schlenderte an den Auslagen vorbei, die Augen geweitet vor Vergnügen.

Urplötzlich war sie von vier schwarzen Kindern umzingelt. Die Halbwüchsigen machten böse Gesichter und rückten ihr drohend auf den Pelz, und Sally erwachte schlagartig aus ihrem Glückstaumel. Ein pechschwarzer Junge mit wild rollenden Augen presste eine abgebrochene Weinflasche gegen ihren Hals und zischte etwas auf Portugiesisch, das sie nicht verstand.

Sally war wie gelähmt vor Entsetzen.

Sie spürte die scharfen Zacken der Flasche an ihrer Halsschlagader und wagte kaum zu atmen. Ihre Schultertasche aus feinstem Kalb sank wie von Geisterhand gezogen zu Boden, und ein Mulattenmädchen mit karmesinroten Lippen schnappte sich die durchgeschnittenen Riemen und riss die Tasche an sich. Die Zacken der Flasche entfernten sich für zwei Sekunden von ihrem Hals, und ein kleiner dunkelbrauner Junge riss ihr die Perlenkette und die Kamera vom Hals. Sofort darauf waren die spitzen Glaszacken erneut an ihrer Kehle. „Vou te ferrar!“, brüllte der Junge mit der scharfkantigen Flasche und schoss ihr mörderische Blicke zu.

Sally rührte keinen Muskel. Sie spürte, wie die kleinen Räuber ihr die Ringe und das goldene Armband abstreiften. Die aufreizende junge Mulattin mit den roten Lippen durchsuchte in rasendem Tempo Sallys Handtasche und pfefferte ihren Pass auf den Asphalt. Dann stoben die kleinen Räuber in sämtliche Himmelsrichtungen davon.

Sally Ryan stand wie zu Stein erstarrt und ließ die Schultern hängen.

Ihr schon leicht gebräuntes Gesicht war fahl geworden. Das Ganze hatte keine halbe Minute gedauert. Verzweifelt riss sie den Kopf herum. Zwei der kleinen schwarzen Diebe waren bereits außer Sicht; die beiden anderen rannten in einem Höllentempo in entgegengesetzten Richtungen davon. Der Kleinere brüllte dem Größeren etwas zu. Aber was? Sally konnte auf Portugiesisch nur Guten Tag, Auf Wiedersehen und Bitte einen Maracujasaft sagen. Wie rief man um Hilfe? Was hieß Polizei?

„Police!“, schrie sie schwächlich und schwang die Arme. „Police!“ Vielleicht verstand jemand Englisch. Mit schwindender Hoffnung sah sie den letzten Halbwüchsigen auf die rückwärtige Stoßstange eines klapprigen Lastwagens springen. Der Laster hatte Röhren geladen, und der Junge klammerte sich an die Röhren wie ein Affenjunges an das Fell der Mutter. Das Auto ratterte durch ein ausgedehntes Schlagloch, und der kleine Dieb schwankte hilflos auf der Stoßstange, blieb aber oben. Dann bog der schäbige Laster ächzend um die Ecke und war außer Sicht.

Alle kleinen Gangster waren verschwunden.

Sally Ryan schaute verstört an sich herab. Ihr Schmuck war weg. Ihr Geld war weg. Ihre schöne Digitalkamera und ihre Handtasche waren weg. Sie ließ sich teilnahmslos auf die Knie sinken und klaubte vom Asphalt auf, was die Räuber ihr gelassen hatten - ihren Pass. Das einzige, was sie von dem portugiesischen Gebrüll verstanden hatte, war ein Name, der wie Sancho klang. Aber vielleicht bedeutete Sancho auf Portugiesisch ja auch etwas ganz anderes. Und außerdem half ihr das kein bisschen weiter.