Kitabı oku: «Traum-Zeit», sayfa 2

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Kapitel 2:

Manchmal, wenn man etwas Schlimmes erlebt und endlich einschläft, ist man beim Aufwachen unsicher, ob man alles bloß geträumt hat. Beim Tod meines Vaters war es so gewesen. Ein Polizist stand eines Abends vor unserer Haustür und überbrachte die Nachricht, dass dieser mit dem Auto tödlich verunglückt sei. Man stünde vor einem Rätsel, denn die Straße verliefe an dieser Stelle schnurgerade und es wäre kein anderes Auto im Spiel gewesen.

Als Achtjährige kapiert man manches nur bruchstückhaft. Aber ich wusste, dass meine Eltern häufig stritten, mein Papa seit über einem Jahr wo anders lebte und den Kontakt zu uns fast vollständig abgebrochen hatte. Es gab auch Probleme mit Alkohol. Vielleicht reagiere ich darum bei Florian so empfindlich darauf.

Am Morgen nach dieser Schreckensbotschaft wachte ich auf und glaubte, es wäre ein Albtraum gewesen. Doch als ich Mutter mit rotverweinten Augen durch die Wohnung laufen sah, realisierte ich Stück für Stück, dass auch im Alltag grausame Dinge passieren können. Den praktischen Teil dieser Erkenntnis erhielt ich drei Tage später auf der Beerdigung.

An diesem Montagmorgen ging es mir ähnlich, nur genau umgekehrt. Mein Traum war derart realistisch gewesen, dass ich kaum glauben konnte, alles habe sich lediglich in meinem Kopf abgespielt. Während ich Fertigmüsli in mich hineinlöffelte, meinte ich noch diese tiefe, warme Stimme im Ohr zu haben.

Ernsthaft, sowas schaffe nur ich! Da verliebe ich mich zum ersten Mal Hals über Kopf und dann ist es gleich von vornherein komplett hoffnungslos, weil es erstens diesen Traummann gar nicht gibt, ich zweitens keine Möglichkeit habe, ihn wiederzusehen – wann träumt man schon Fortsetzungen? - und drittens und das ist der Gipfel alles Schlimmen, er eine gewisse Marie und nicht mich liebt und geheiratet hat. Das letzte, was ich gebrauchen kann, ist eine traumatische Dreiecksbeziehung.

Auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz fühlte ich mich immer noch wie weggetreten. Trotzdem checkte ich heroisch meine aufgelaufenen Mails und sonstigen Nachrichten. Ich sollte besser rasch in meine Gegenwart zurückfinden und dazu gehört, dass man in meiner Generation über soziale Medien kommuniziert.

Dummerweise bin ich keine typische Handynutzerin, was man mir in meinem Freundeskreis oft genug vorwirft. Weder bin ich dauerhaft online, noch trage ich es in Körpernähe. Meine Erreichbarkeit stellt sich von daher recht mäßig dar. Dies rächt sich, weil ich spontane Termine verpasse oder mich, wenn ich mein Handy einschalte, Unmengen von alten Nachrichten gegenübersehe.

So wie jetzt. 24 WhatsApp-Botschaften, 11 E-Mails und 3 SMS überfluteten mich geradezu und ließen mein Handy brummen, pfeifen und klingeln, als wolle es samt Handtasche abheben.

Die Busfahrt war zu kurz, um alle Defizite aufzuarbeiten, aber nachdem ich die unvermeidlichen Werbungen gelöscht hatte, sah ich, dass allein fünf Nachrichten von Florian stammten, inklusive zweier verpasster Anrufe. Drei gingen auf Monas Rechnung und ansonsten sollte ich mich dringend bei den Leuten von meinem Gesprächskreis melden. In der Gruppe wurde nach jemandem gesucht, der am Abend die Themeneinheit übernehmen konnte und bisher wussten alle nur, wer keine Zeit dazu besaß.

Ich stellte im Nachhinein fest, dass es eine glückliche Fügung gewesen war, mein Handy gestern auf dem Küchentisch vergessen zu haben, als ich Oma im Altenheim besuchte.

Von einem entspannten Treffen hatte dennoch keine Rede sein können. Meine Großmutter hatte mich nicht mal ansatzweise erkannt, obwohl ich sie möglichst häufig zu sehen versuche. Sie befindet sich seit etwas über einem Jahr auf einer Pflegestation für Demenzkranke und lebt phasenweise in einer abstrus eigenen Welt. Sämtliche Besucher werden in die aus ihrer Sicht passenden Rollen gepresst. Dieses Mal sprach sie mich zum Beispiel konsequent mit Marie an, wer auch immer das sein mochte. Optische Kriterien und zwingende Logik gibt es für Demenzkranke nun mal nicht.

Wahrscheinlich hieß meine Braut heute Nacht deswegen so. Doch eigentlich kam ich damit noch ganz gut weg. Ein halber Tag auf einer Demenzstation hätte auch genug Stoff für einen Horrortrip geboten: Während ich meiner Oma die Abendmahlzeit in mundgerechte Happen schnitt, war neben mir ein distinguiert aussehender, grauhaariger Herr singend hin- und hergeschwankt. Ein paar Leute hatten sich um eine zerfledderte Babypuppe gestritten. Der verhältnismäßig junge, korpulente Mann vom Tisch gegenüber probierte unser Essen zu klauen, was hieß, dass ich Omas Brot hart verteidigen musste. Und im Hintergrund hatte eine verschrumpelte Greisin bei jedem lauten Geräusch verschreckt aufgeschrien und gegen unsichtbare Mächte zu kämpfen versucht. Die harmlosesten unter den Patienten sind eindeutig diejenigen, die still in ihren Rollstühlen vor sich hinvegetieren.

Während ich im Großraumbüro einlief, das mir seit knapp zwei Jahren ein sympathisch stabiles Einkommen und einen geregelten Tagesablauf beschert, versuchte ich meine jüngsten Erinnerungen abzuschütteln. Es misslang. Meine Gedanken schweiften kontinuierlich ab, wie eine Herde störrischer Schafe.

Ich merkte es jedoch erst, als Mona mir auf die Schulter tippte und meinte: „Na, hast du dich endlich mit Florian versöhnt?“ Sie musste sich heimtückisch von hinten an mich herangeschlichen haben.

Vorsichtshalber fragte ich: „Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Du grinst ständig vor dich hin. Hach, es wurde auch Zeit. Der arme Kerl hat ja so gelitten.“ Meine Freundin seufzte theatralisch und zauberte ein schwülstig-wissendes Lächeln auf ihre roten Lippen.

Ich konnte Mona schwerlich erklären, dass ich gerade eine spritzige Diskussion mit meinem Schein-Ehemann geführt hatte, bei der ich endlich mein sprachliches Potential hatte entfalten können und nicht gezwungen war, die ganze Zeit vor mich hinzustarren und zu schweigen.

Peinlicher Weise wechselte der Monitor just in diesem Moment in den Bildschirmschoner, ein farbenfrohes Logo unserer Bausparkasse. Er ist auf fünf Minuten eingestellt. Hektisch klickte ich die vernachlässigte Eingabemaske für Kundendaten zurück, tat professionell beschäftigt und murmelte: „Du irrst dich. Die Beziehung liegt weiterhin auf Eis.“

Meine Freundin zog als Konsequenz vieldeutig eine Augenbraue hoch. Durch diese akrobatische Muskelleistung bekommt ihre Mimik immer so eine hellseherische Komponente. Unbedarfte Gesprächspartner verunsichert sie damit regelmäßig.

Mir vermochte Mona an diesem Morgen aber kein Geständnis zu entlocken. Ich bemühte mich stattdessen, dermaßen bedeutungsleicht dreinzuschauen, dass meine Pupillen bereits zu schielen anfingen.

Ganz überzeugen konnte ich sie freilich nicht.

„Schade, ich hätte gewettet, dass eine rauschende Versöhnungsorgie hinter euch liegt.“ Sichtlich widerwillig begab sie sich an ihren Schreibtisch zurück.

Den restlichen Vormittag wurde ich von lauernden Blicken bombardiert. Meine Konzentration ging dadurch vollends vor die Hunde. Doch ich versuchte mich wenigstens rein äußerlich zusammenzureißen, um dem Bildschirmschoner keine Chance mehr zu geben.

Sämtliche schauspielerischen Bemühungen scheiterten allerdings, als Florian das Büro betrat und wie zufällig vor meinem Arbeitsplatz stehenblieb.

Er sah heute nicht besonders frisch aus und sein aschblondes Haar ließ das übliche Styling vermissen. „Warum reagierst du eigentlich nicht auf meine Nachrichten?“, erkundigte er sich und hielt mir, um Eindeutigkeit bemüht, sein nagelneues Smartphone unter die Nase.

Mich umgab sogleich ein edler Hauch von Hugo Boss, kleidungs- wie parfümtechnisch. Mein Freund bedient ungern das Image des kernigen Naturburschen und wirkt in der Regel wie aus dem Ei gepellt, auch in seiner Freizeit. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt eine Jogginghose besitzt.

Heute bot er jedoch ein Bild des Jammers, was mich sofort in die Defensive drängte. „Sorry. Ich habe gestern mein Handy zuhause liegen lassen“, entschuldigte ich mich fast automatisch. Eigentlich sollte er dieses Argument kennen, denn es führt meine Hitliste an. Gefolgt von „Mein Akku war leer.“

„Und wo warst du den ganzen Tag?“

Prinzipiell ging ihn das zwar nichts an, aber da ich ein wohlerzogenes Mädchen bin und anderen Menschen ungern Kummer bereite, antworte ich auf mir gestellte Fragen. „Bei meiner Oma.“

Zu Beginn unserer Freundschaft war Florian einmal mit ins Pflegeheim gegangen. Doch der Besuch hatte in einem Fiasko geendet, weil meine Großmutter Angst vor ihm bekam. Und das, obwohl er sie mit ausgesuchter Freundlichkeit behandelt hatte und sich sogar breitschlagen ließ, am Klavier alte Kirchenlieder zum Besten zu geben. Anschließend war eine ganze Traube andächtiger Damen und Herren um ihn herumgestanden und die Pflegerinnen hatten gefragt, ob er in Zukunft öfter kommen wolle. Dennoch war Oma die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen, mich von ihm abzudrängen. Wie eine Vogelmutter, die den Feind vom Nest ihres Nachwuchses wegzulenken versucht.

„Machen wir nachher zusammen Mittagspause? Ich muss mit dir reden.“

Das klang nur begrenzt nach einer offenen Frage, der man mit einem klaren „Nein“ begegnen konnte. Außerdem tue ich mich mit Absagen grundsätzlich schwer. Dies kombiniert mit einem unterschwelligen Helferkomplex hat mir bereits ehrenamtliche Aufgaben in der Kirchengemeinde, bei der Flüchtlingsarbeit und am Arbeitsplatz verschafft. Wahrscheinlich beruht sogar meine lausige Beziehung zu Florian auf diesem Problem.

Mit einem „Es wird nichts ändern“, versuchte ich wenigstens etwas Standfestigkeit zu beweisen, die bei seinem nächsten Satz aber sogleich ins Wanken geriet. „Ich kann seit Wochen nicht mehr richtig schlafen.“

„Na gut, um zwölf.“

Seine Gesichtszüge belebten sich sichtlich und verloren ihren trauerummantelten Flor. Dass er nicht pfeifend den Raum verließ, war alles.

„Und wieder einmal hast du einen Menschen glücklich gemacht“, kommentierte Mona, die uns von ihrer Fernwarte, zwei Arbeitsplätze weiter, beobachtet hatte.

Es fehlte nicht viel und ich hätte meine kümmerliche Grünlilie, die auf meinem Schreibtisch für Wohlfühlatmosphäre sorgen soll, nach ihr geworfen.

Eine Stunde später saß ich an einem elitären Tisch in der oberen Etage unserer Cafeteria meinem Freund gegenüber. Die Ausstattung dort ist ganz in Marmor, Chrom und Glas gehaltenen und soll die Finanzkraft unseres Arbeitgebers untermauern und zugleich die Transparenz des Unternehmens demonstrieren. Florian passt haargenau hierher, vom schicken Anzug angefangen, über sein normalerweise gestyltes Äußeres, bis hin zur Designer-Armbanduhr. Darum hat er es auch innerhalb kürzester Zeit zum Teamleiter gebracht. Mir dagegen flößt dieses noble Umfeld latentes Unbehagen ein und degradiert mich zur linkischen Außenseiterin. Zumindest schaffe ich es seit fünf Jahren nicht, mich in dieser Hochglanzwelt heimisch zu fühlen.

Von dem abgesehen bereute ich gerade bitter meine Inkonsequenz, obwohl zwei Tabletts mit leckerem Kantinenessen zwischen uns standen.

Florian gelobte Besserung. Gleichzeitig versuchte er nach meiner Hand zu greifen, als sichtbares Zeichen, dass nun alles wieder gut sei und wir zusammengehörten. Weil der Versuch scheiterte, fragte er ersatzweise, ob er heute Abend mit in den Gesprächskreis könne. Die letzten Male hatte er zu meiner Erleichterung gefehlt.

Eigentlich finde ich es wenig bis überhaupt nicht sinnvoll, eine Gruppe durch ein sich in der Krise befindliches Paar zu belasten. Alternativ selbst wegzubleiben, wäre jedoch noch unfairer gewesen, weil ich vor einer Stunde versprochen hatte, die Leitung des Thementeils zu übernehmen.

„Das ist deine Entscheidung, Flo. Privat möchte ich mich aber zurzeit nicht mit dir treffen“, erklärte ich, meinen ganzen Mut zusammennehmend.

Florian schaute mich entgeistert an. „Wieso?“

„Ich muss mir über einiges im Klaren werden.“ Ich-Botschaften zu senden, ist das einzig Richtige in einer solchen Situation. Diese Technik der Gesprächsführung gehört bei jedem Coaching zum Basis-Wissen und wird auch in Volkshochschulen an Rentner und Hausfrauen vermittelt.

„Ich liebe dich, Ronja. Wenn du mehr Verbindlichkeit in unserer Beziehung brauchst, könnte ich das durchaus verstehen,“ sprach daraufhin das personifizierte Verständnis. Seine professionell manikürten Hände schoben sich erneut in meine Richtung. So weit, dass sie sich ohne Probleme aus meinem Teller hätten bedienen können. Dieser stand ohnehin verwaist da, weil meine eigenen Finger reflexartig unter den Tisch abgetaucht waren, um sich dort nervös ineinander zu verflechten. Ich war wild entschlossen, diesmal nicht einzuknicken. Bevor ich mich leichtfertig einer seiner üblichen Charmeoffensiven ergeben würde, wollte ich lieber in Reichweite einer Portion Kalbsgeschnetzeltem mit Zürcher Rösti verhungern.

Verrückt. Vor weniger als zwölf Stunden waren die Worte „Ich liebe dich“ schon einmal gefallen, obwohl sie nicht mir gegolten hatten. Wenn dieser jemand jetzt anstelle von Florian hier sitzen und mich wie Marie in der Nacht anlächeln würde, hätte ich vermutlich ohne jegliches Zögern „ja“ gesagt.

Ich weiß, dass mein Innenleben nicht immer realistisch geeicht ist. Das zu Herzen gehende Eheversprechen mit der Berufung auf Gott hat wohl eine unbekannte Saite in mir zum Klingen gebracht und klammheimlich neue Maßstäbe gesetzt. Die Person, die gerade am anderen Ende meines Tisches saß, war aber Welten von diesen entfernt und wenn schon keine Welten, dann mindestens einhundert Jahre.

„Du hast jemanden kennengelernt“, wurden meine abstrusen Gedankengänge unsanft unterbrochen. Florians Hände befanden sich merklich auf Rückzug, genau wie sein wohlwollender Gesichtsausdruck.

Meine weltfremden Phantasien standen mir offenbar regelrecht ins Antlitz geschrieben. Deswegen verzichtete ich auf jedwede Erklärungsversuche, vermied es sogar, mich zu verteidigen, sondern meinte nur: „Und wenn es so wäre?“ Rückfragen sind ebenfalls eine effektive Methode, einen Dialog offenzuhalten. Das lernt man im Folgekurs, Krisenintervention, den ich allerdings nicht gerade bravourös gemeistert habe.

Diese mangelnde Kompetenz kam jetzt zum Tragen. Florians Mimik verfinsterte sich augenblicklich. „Wer ist der Kerl?“

Meine Nervosität wurde an dieser Stelle unüberhörbar. „Niemand, den du kennst.“

„Ist es etwas Ernstes?“

Mir lag auf der Zunge zu beichten, dass ich ihn letzte Nacht geheiratet hätte, doch ich schluckte es hinunter und begnügte mich mit einem vieldeutigen Schweigen, der Einheit für Fortgeschrittene. Um der peinlichen Stille zu entkommen, beginnt sich der Gesprächspartner normalerweise um Kopf und Kragen zu reden. Hatte zumindest die Leiterin des Kurses behauptet.

Diese Lektion muss Florian entweder geschwänzt haben, oder er hält nichts von klassischen Regeln. Stattdessen begann er ruckartig seine Sachen zusammenzustellen, obwohl sein Teller noch halbvoll war, starrte mich vernichtend an und würgte „Ich hätte dich für klüger gehalten“ hervor. Anschließend rauschte mein nunmehriger Ex-Freund erhobenen Hauptes davon und ließ mir seine Essensreste samt der neugierigen Blicke umliegender Tischnachbarinnen zurück.

Um meinen Appetit stand es von da an auch nicht mehr zum Besten. Mit fest auf die Marmorfliesen gehefteten Augen und einem doppelbödigen, überfüllten Tablett begab ich mich zur Abgabestelle.

Ich fühlte mich so lange schlecht, schuldig und minderwertig, bis pfeifend eine Nachricht auf meinem Handy eintraf. Es war ein unmissverständliches Ikon, welches jegliche christliche Erziehung vermissen ließ. Florian musste dafür extra recherchiert und es sich heruntergeladen haben, denn auf meinem Handy fand ich nichts Derartiges hinterlegt.

Ich mochte es zwar nicht offen zugeben, aber von da an empfand ich in erster Linie Dankbarkeit, dass man, bessergesagt Mann, mir die Entscheidung abgenommen hat. Im Schluss machen fehlt mir wie es aussieht die Übung.

Beim Gesprächskreis glänzte Florian ein weiteres Mal durch Abwesenheit und mir stand ein halbwegs entspannter Abend bevor. Bei der anregenden Diskussion zum Thema Glaube und Zweifel vergaß ich sogar zwei Stunden lang meine momentane Misere. In dieser Runde fühle ich mich heimisch und gut aufgehoben. Einen Drang über die vergangenen Erlebnisse zu reden, verspürte ich trotzdem nicht, obwohl ich vor meinen „frommen Mitgeschwistern“ wenig Geheimnisse habe. Sie wissen, wann man Dinge besser für sich behält. Nur, wie sollte ich meine aktuelle Verfassung erklären?

Dabei sind Christen eine Menge gewohnt. Wer an die Präsenz eines unsichtbaren, allmächtigen Gottes glaubt und sein Leben nach einem 2000 Jahre alten Buch ausrichtet, den dürften seltsame Träume kaum schockieren.

Was aber meine Zukunft ohne Florian betraf, konnte ich davon ausgehen, dass diese Neuigkeit sie sowieso bald erreichen würde. Sie wunderten sich eh schon, warum ich in letzter Zeit vorzugsweise allein aufkreuzte.

Kapitel 3:

Ein kleiner Teil von mir hoffte, als ich mich zu später Stunde auf den Heimweg begab, dass ich erstens Florian nie wieder treffen müsse und zweitens in der kommenden Nacht meinem Fast-Bräutigam begegnen würde. Beides war ungefähr in gleichem Maße unrealistisch.

Ich wohne im obersten Stock eines fünf Parteien-Hauses ohne Aufzug. Die dazugehörige Straße befindet sich in einem etwas heruntergekommenen Teil unserer Kleinstadt und zeichnet sich durch Überalterung und einen hohen Ausländeranteil aus. Doch diese Wohnlage war das gewesen, was wir uns nach Paps Tod hatten leisten können. Außerdem hatte sich das berufliche Betätigungsfeld meiner Mutter im Prinzip direkt vor unserer Haustür befunden.

Obwohl sich mir später mehrfach Gelegenheiten boten, in eine hochwertigere Umgebung zu ziehen, hänge ich an dieser Wohnung. Sie ist konkurrenzlos günstig und meine Mitmieter gehören fast zur Familie. Ich entdecke zumindest ständig Aufmerksamkeiten vor meiner Wohnungstür. Im Gegenzug übernehme ich kleine Besorgungsdienste und putze samstags das Treppenhaus durch. Als Dankeschön habe ich freien Eintritt in der Eisdiele meiner italienischen Untermieter, die von deren erwachsenen Kindern betrieben wird.

Okay, Familienintegration hat auch Nachteile. Die rumänische Oma, deren Wohnung im zweiten Stock liegt, versucht mich seit Jahren unbeirrbar mit ihrem Enkelsohn aus Bukarest zu verkuppeln, damit dieser die deutsche Staatsbürgerschaft erhält und bei uns studieren darf. Sie mochte Florian von Anfang an nicht und prophezeite mir in schöner Regelmäßigkeit eine düstere Zukunft an seiner Seite.

Mein Ex fing mich schwankend vor der Haustür ab. Nachdem er mich in eine Ecke gedrängt und beschimpft hatte, begann er zu grabschen. Dabei lallte er etwas von Fehlinvestition und Auszahlung mit Zinsen. Er macht seinen Job in der Bausparkasse schon recht lang.

Zum Glück war er dermaßen betrunken, dass er keine ernsthafte Gefahr darstellte und ich ihn abschütteln konnte. Eigentlich tat ich sogar ein bisschen mehr als das. Der große Bruder einer Freundin aus meinem ehemaligen Jugendkreis war lange Jahre im Jiu-Jitsu gewesen und hatte mir an einem sonnigen Nachmittag einige praktische Kniffe beigebracht, die man als alleinstehende Frau gut gebrauchen kann. Durch Florian hat sich der lehrreiche Unterricht endlich bezahlt gemacht. Morgen würde sich mein Ex vermutlich fragen, woher seine schlechte Verfassung und die körperlichen Male stammten. Doch ein paar Erinnerungshilfen konnten kaum schaden und sollten ihn in Zukunft von weiteren, alkoholisierten Eskapaden abhalten.

Und dann gab es sogar noch eine unerwartete Zugabe, geliefert von einem übergewichtigen, in Feinripp-Unterhemd und Jogginghose gekleideten Senior. Herr Maifeld führt gegen eine reduzierte Mietgebühr Hausmeistertätigkeiten bei uns im Gebäude durch. Weil er diesen Job sehr ernst nimmt und sein Tätigkeitsfeld zudem weit fasst, hatte er sich zur Unterstützung einen Minigolf-Schläger mitgebracht. Bestimmt wird dieser seit Jahren irgendwo schmerzlich vermisst. Gekonnt und recht eindeutig schwang er ihn in der Hand. Auch ein alkoholisiertes Hirn versteht eine solche Sprache.

Als Florian endlich schimpfend um die Ecke verschwunden war, begleitete mich mein glatzköpfiger Schutzengel schweratmend bis direkt vor meine Wohnungstür. Obwohl ich ihm ununterbrochen beteuerte, dass mir nichts passiert sei, würden morgen alle im Haus Bescheid wissen, unter Garantie.

Mehr oder weniger unbeschadet in meinen vier Wänden angekommen, schloss ich sorgsam ab und empfand echte Dankbarkeit, dass es nie zu einem Schlüsselaustausch zwischen Florian und mir gekommen war.

Trotzdem brauchte ich eine ganze Weile, bis sich meine Nerven beruhigt hatten. Rein therapeutisch bemühte ich darum meinen Einfallsreichtum, um im Schlaf ins vorige Jahrhundert enteilen zu können, in dem die Welt samt ihren Männern noch in Ordnung war. Doch was den Tag über ohne Probleme funktioniert hatte, scheiterte jetzt kläglich. Ich erwachte vermeintlich traumlos am nächsten Morgen.

Dafür begegnete mir noch vor der ersten Kaffeepause ein vorwurfsvoller Blick aus grünen, von perfektem Mascara umhüllten Augen. Als Mona auf dem Weg zur Toilette an meinem Schreibtisch vorüberschlenderte, konkretisierte sich dieser Eindruck, indem sie: „Ich bin voll enttäuscht von dir“, zischte.

Florian schien das unstillbare Bedürfnis verspürt zu haben, sich bei ihr auszuheulen, bevor er seinen Kummer in Alkohol ertränkt hatte, um mir danach, von jeglichem guten Benehmen enthemmt, an die Wäsche zu gehen. Sein angestammter Sitzplatz neben dem begehrten Fenster des nahegelegenen Büros war heute Morgen verwaist, wie ich mit stiller Genugtuung feststellte. Vermutlich kühlte er gerade wesentliche Teile seines Unterleibs.

Bis zur Mittagspause konnte ich Mona hinhalten, dann zerrte sie mich hinter sich her in die Kantine. Weitere Interessenten, die sich uns anschließen wollten, ihr Freund Jochen vorne dran, grenzte sie kategorisch aus.

„Wir kennen uns seit der Grundschule…“, begann sie, Berge von Salat vor sich aufhäufend, weil sie zum gefühlt zwanzigsten Mal in diesem Jahr auf Diät war. Dabei besitzt sie schlimmstenfalls Normalgewicht. Für einen neidisch-hungrigen Blick auf meine Lasagne reichte es dennoch.

Wenn sich meine Freundin auf gemeinsame Kindheitserlebnisse beruft, ist das kein gutes Zeichen. Ich wappnete mich für Unangenehmes. Mona kann nämlich kultiviert blättrige Kost in sich reinschieben und einen parallel wie eine Verräterin dasitzen lassen, ohne Salatsoße zu verspritzen oder ein Wort zu sprechen. Leider war nicht meine fetttriefende Lasagne die Ursache ihres Unmutes. Das hätte ich leicht verschmerzt.

„Wie konntest du mir vorenthalten, dass du dich verliebt hast?“, kam es empört von ihren Lippen, nachdem ich mich minutenlang jeglicher verbalen und nonverbalen Kommunikation entzogen, mit Inbrunst meinem Essen gewidmet und so gut es ging die Ahnungslose gespielt hatte.

Augenblicklich bekam ich Mühe, zu schlucken. Ich kaute extra lange, was mir ein bisschen Zeit zum Denken verschaffte. Aber irgendwann ist ein Bissen weicher Nudelteig mit Hackfleischsoße ausgereizt und man muss seinen Wortschatz und die Gehirnzellen bemühen.

„Wie kommst du denn darauf?“ war das kreativlose Ergebnis meines Kau- und Denkmarathons. Ich sollte mir demnächst eine andere Notfall-Floskel ausdenken. Sie verliert allmählich ihre Wirkung.

„Schau dich im Spiegel an, Mädchen. So sieht man nicht aus, wenn man frisch mit jemandem Schluss gemacht hat, ohne dass ein Neuer im Spiel ist.“ Mona besitzt in diesem Punkt etwas Erfahrung. Jochen ist mit Abstand ihr bisher langmonatigster Freund. Für sie spielen klassische Werte, wie ein Familienmodell, das aus einem verheirateten Paar samt den genetisch dazu passenden Kindern besteht, keine wirkliche Rolle. Sex gehört für sie so unverkrampft zum Leben, wie ihr Yoga-Kurs mittwochabends. Warum sich unsere Freundschaft trotz der unterschiedlichen Lebensphilosophien derart lange gehalten hat, ist eigentlich ein Rätsel. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Mona gleichzeitig offen, geradlinig und hundert Prozent treu ist, zumindest mir gegenüber.

„Da gibt es niemand Konkreten, äh ich meine Reellen“, probierte ich eine letzte Ausflucht, aber keine sonderlich ernstzunehmende, weil ich nebenbei gegen ein akut aufsteigendes, pubertäres Kichern ankämpfen musste. Wie jedes Mal, wenn ich an bestimmte Aspekte meines zurückliegenden Traumes dachte.

„Erzähl mir keinen Mist. Ich kenne dich besser als jede andere. Außerdem weiß ich zufällig, dass man als Christ nicht lügen darf.“ Mona hat es zwar selbst nicht mit Religion, was aber keinesfalls heißen soll, dass sie nicht bestens Bescheid wüsste. „Entweder du kiffst inzwischen, was ich mir bei dir schwer vorstellen kann oder da ist ein Mann im Spiel, der interessanter Weise nicht Florian heißt.“

Daraufhin beging ich meine nächste Inkonsequenz, bereits die zweite innerhalb von 24 Stunden. Obwohl ich gestern noch der Überzeugung gewesen war, dass Schweigen angesichts irrer, wenig plausibler Erlebnisse mit Gold belohnt wird, verlagerte sich meine Haltung jetzt spontan Richtung Silber. In mir schwappte das Bedürfnis hoch, etwas von dem, was mir widerfahren ist, in Worte zu fassen, um herauszufinden, ob das überhaupt funktionierte oder sich genauso verrückt anhören würde, wie das, was ich empfand.

Während ich über den Tisch gebeugt, flüsternd meine nächtlichen Erinnerungen vor meiner ambitionierten Hobby-Analytikerin auszubreiten begann, fing ihr Gesicht verräterisch an zu zucken. Der linke Mundwinkel und das entsprechende Augenlid waren betroffen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie sich amüsierte.

Die erste Zwischenfrage bestätigte es mir. „Und wie war‘s?“

Mein Bericht hatte mittlerweile die Stelle erreicht, wo mein vermeintlicher Bräutigam zu mir ins Bett stieg. „Was?“

„Na, ihr seid doch hoffentlich zur Sache gekommen.“ Der Humor brach sich endgültig Bahn. Ihr Gesicht sprühte förmlich vor Belustigung. Die Gabel stieß unterstützend mitten in die Gurkenscheiben und pikste eine davon mitleidlos auf. Mona liebt plastische Gesten! Vielleicht wollte sie meine Geschichte aber auch bloß abkürzen, weil wir in einer viertel Stunde an unserem Arbeitsplatz eintreffen sollten.

„Natürlich nicht. Er war überaus rücksichtsvoll“, glaubte ich meinen Schein-Ehepartner verteidigen zu müssen. Nebenbei schaute ich mich peinlich berührt nach ungebetenen Lauschern um. Mir ist vorher nie aufgefallen, wie durchdringend Monas Stimme sein konnte.

„Mensch Ronja!“ Das Glitzern in ihren Augen erlosch und die Gabel samt der aufgespießten Gurkenscheibe erstarrte mitten auf dem Weg zum Mund. „Da träumst du schon mal von einer Hochzeitsnacht und könntest sogar als brave Christin ohne schlechtes Gewissen hemmungslosen Sex haben und was passiert? Dein Unterbewusstsein bastelt sich einen Spießer dazu, der auf Brüderchen und Schwesterchen macht.“ Die Gurke kehrte mit einem heftigen Klirren zu ihren Artgenossen zurück und Mona schob mit angewidertem Gesichtsausdruck ihren Teller von sich. „Oder sah er abgrundhässlich aus?“

„Nein, du hättest ihn garantiert süß gefunden. Er erinnerte mich ein bisschen an „Legolas“, nur mit kürzeren Haaren und hübscheren Ohren.“ Wir haben in der Vergangenheit mal mit Freunden „Herr der Ringe“ geschaut. Der Elbenprinz liegt, wie ich weiß, auf Monas Beliebtheitsskala ganz vorne.

Auf der sonst makellosen Stirn meiner Freundin bildete sich eine steile Falte. „Dann ist es schlimmer, als ich befürchtet habe. Was dir fehlt, ist offensichtlich. Flo sieht das genauso.“

„Ach, hat er mir darum gestern betrunken aufgelauert?“ Eigentlich hatte ich den letzten Akt unserer unrühmlichen Beziehungsglosse mit ins Grab nehmen wollen, doch Mona schafft es immer wieder, mir meine letzten Heimlichkeiten zu entlocken.

Das Geständnis machte sie einen Moment lang perplex. Dies zeigten ihre sich zusammenziehenden Pupillen. Ansonsten hatte sie sich erstaunlich gut unter Kontrolle.

„Es ist nichts weiter passiert“, fühlte ich mich trotzdem genötigt zu erwähnen. „Zumindest mir. Flo traf es härter.“

„Okay, das ergibt Sinn“, kam es zögernd von ihrer Seite. „Deswegen ist er heute krankgemeldet… Warum hast du eigentlich ausgerechnet jetzt mit ihm Schluss gemacht?“

Eigentlich hatte ja Florian mit mir Schluss gemacht, doch für solche Detailfragen schien mir der falsche Zeitpunkt zu sein. „Es war längst überfällig. Wir passen nicht zusammen.“

Mona gab zu meiner Überraschung ohne Widerspruch nach. „Vielleicht war das mit euch einfach mein Wunschdenken. Soll ich ihn mir vorknüpfen? Jochen will nachher ohnehin bei ihm vorbeischauen.“

Ich schüttelte heftig den Kopf.

„Na gut, er wird darüber wegkommen“, lenkte sie ein. „Möglicherweise ist er das sogar schon, denn er hat gestern dein Hintergrundbild von seinem Handy gelöscht und seinen Beziehungsstatus auf Facebook geändert.“ Anschließend hakte Mona das leidige Thema ab und schaltete auf Optimismus um. Irgendwo in ihrem Innern muss sich ein Knopf befinden, den man bei Bedarf betätigen kann. Langfristiges Sorgenmachen zählt nicht zu ihren herausragenden Eigenschaften. „Kopf hoch, Ronja. Da draußen wartet bestimmt ein netter, frommer Prinz auf dich. Ihr werdet eine perfekte Romanze haben, heiratet, bekommt einen Stall voll lockenköpfiger, rehäugiger Kinder und lebt christlich und zufrieden bis an euer Lebensende, während ich einsam und von meinen unzähligen Affären frustriert in einem Seniorenheim vor mich hinvegetiere.“ Wenn Mona bei diesen Worten nicht aufmunternd gegrinst hätte, wäre ich fast auf die Idee gekommen, sie könne ihre Worte ernstmeinen.

So aber entgegnete ich nur: „Dann werde ich dich dort besuchen und meine Enkelschar zur Aufmunterung mitbringen.“

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