Kitabı oku: «Traum-Zeit», sayfa 3

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Der Rest des Tages verlief für meine momentanen Verhältnisse halbwegs unkompliziert. Dennoch hatte ich am Abend eine kleine Existenzkrise und fragte mich, ob ich diesen Job und all das, was gerade mein Leben ausmachte, die nächsten zehn oder wieviel Jahre auch immer durchziehen wollte. Sich Tag für Tag mit einem mies gelaunten, nachtragenden Ex arbeitstechnisch konfrontiert zu sehen, stellt man sich schließlich keineswegs spaßig vor. Außerdem gestand ich mir ein, dass mich Bausparverträge beängstigend wenig interessieren. Und entgegen der optimistischen Prognose meiner Freundin rechnete ich auch nicht damit, demnächst einen, diesmal qualitativ hochwertigen und vor allem dauerhaften, Prinzen auftauchen zu sehen, der meinem Dasein neue Bedeutung verleihen würde. Aschenputtel ist zwar mein Lieblingsmärchen, doch inzwischen erreicht selbst mich ab und zu die Realität.

Dabei hatte ich mich als kleines Mädchen stets bemüht, mir eine schöne, heile Parallelwelt aufzubauen.

Es begann, als meine Eltern lautstark ihre Konflikte austrugen, die mit einer weinenden Mutter und einem die Tür zuschlagenden, das Haus verlassenden Vater endeten. Weil ich nicht fliehen konnte, zog ich mich in meine Gedanken zurück. Dort erschuf ich die perfekte Großfamilie, einen Ort voller Wärme und Geborgenheit.

Meine Zeit als Halbwaise und einziges Kind einer alleinerziehenden, sich in den Wechseljahren befindlichen Mutter unter einer Horde Senioren, die ich im Freilandmuseum zubringen musste, halfen auch nicht weiter. Während sich die Erwachsenen über Fundraising, Renovierungsmaßnahmen, Besucherzahlen, Putzpläne und Öffnungszeiten unterhielten, strich ich durch die verschiedenen Häuser und versuchte mir, mangels Alternativen und Spielkameraden - ich durfte keine Freundinnen mitbringen und irgendwann ist man mit den meisten Kinderbüchern durch -, in meiner Phantasie auszumalen, wer hier gewohnt haben könnte. Ich bastelte ein ganzes Dorf zusammen. Es gab Abenteuer zu bestehen und rotzfrechen Jungs zu trotzen.

Erschwerend kam hinzu, dass fast alle Kids in meinem Alter ein Handy besaßen, meine Mutter mir solche Freuden aber standhaft verweigerte. Wahrscheinlich stammt meine spärlich ausgeprägte Technikaffinität hiervon. Mein einziger Zugang zum Internet blieb über Jahre hinweg ein lächerlicher PC, der völlig veraltet und äußerst unzuverlässig in einer Ecke unseres Wohnzimmers verstaubte und bloß in Sonderfällen von mir genutzt werden durfte. Ich war vermutlich das einzige Kind, das nahezu medienfrei aufwuchs, weil meine Mutter an gefährliche Strahlung glaubte.

Das hinderte sie nicht daran, Krebs zu bekommen, der nach vielen Krankenhausaufenthalten und Therapieversuchen ihrem Leben und Leiden ein Ende setzte. Mutter hatte, wenn überhaupt, einen Hang zur Esoterik gehabt. Deshalb war ihr mein Interesse an Religion von Beginn an „ein Dorn“ im Auge gewesen. Es hatte folglich gute Argumente gebraucht, um in die Mädchenjungschar gehen zu dürfen und später nach meiner hart erkämpften Konfirmation in den Jugendkreis. Die Krankheit lenkte ihre Energien aber bald in eine andere Richtung und sie besaß anschließend selten genug Kraft, um neben ihrem eigenen Dasein, auch noch meine Geschicke zu verwalten.

Umso mehr erstaunte mich, dass die Verwandtschaft meines Vaters, zu der wir seit seinem Selbstmord keinen Kontakt mehr hielten, größtenteils fromm war. Sie tauchte an Mutters Beerdigung auf, füllte mit einer unspektakulären Selbstverständlichkeit ein Defizit in meinem Leben und gehört seither zu mir.

Diese vor vier Jahren neuentdeckte Familie besteht aus meiner Tante Sabine, deren Mann und den drei Töchtern, die allesamt jünger als ich sind. Oma lebte am Anfang ebenfalls bei ihnen, weil sie davor mehrfach in Gefahr gestanden hatte, ihr Haus abzufackeln, indem sie Herdplatten zum Heizen anließ, sich aussperrte und irgendwann nicht mehr allein heimfand.

Meine Tante verbrachte daraufhin drei Jahre ihres Lebens Tag und Nacht am Rande eines Nervenzusammenbruchs, bis sie ihre Mutter schließlich in ein Pflegeheim brachte.

Mit meinen Cousinen verstehe ich mich relativ gut, obwohl wir uns in fast jeder Hinsicht unterscheiden. Sie zelebrieren gerade den kollektiven Atheismus, indem sie jedes christliche Programm boykottieren, um sich damit demonstrativ von ihrer einengenden, elterlichen Erziehung abzugrenzen. Zudem sind alle drei Pferdenärrinnen und verbringen jede freie Minute in einem Reitstall, während ich Pferde hauptsächlich von Postkarten, Tiersendungen und Stickern kenne. Für Reitstunden hatte es in meiner Kindheit kein Budget gegeben, genauso wenig wie für etwaige Haustiere. Meine Ansprüche waren von Hund, Katze und Zwergkaninchen bis auf einen Wellensittich gesunken. Doch selbst davon hatte meine Mutter nichts wissen wollen. Im Freilandmuseum gäbe es genug Ferkel, Hasen und Gänsekinder, waren ihre Worte. Ich wette, sie hat nie versucht, mit einem Küken zu spielen. An meiner linken Wade befand sich monatelang das Andenken einer übereifrigen Gänsemutter.

Rein äußerlich hätte man mich auch nie zu meiner Familie sortiert. Ich komme mir neben diesen amazonenartigen Menschen wie ein kleines, schwarzes Schaf vor. Alle, bis auf meine Oma, sind langbeinig, strohblond, besitzen blaue Augen und einen hellen Teint. Weil meine Eltern optisch ebenso dahin tendiert hatten, bin ich als Kind heimlich davon überzeugt gewesen, adoptiert worden zu sein.

Tante Sabine klärte mich jedoch auf, dass es in unserer Familie neben dem nordischen, auch einen südländischen Zweig gäbe, der sich zwar nie generell durchgesetzt habe, doch ab und zu mal unerwartet in Erscheinung trete. Es muss früher ein altes Fotoalbum existiert haben, in dem dies eindrücklich dokumentiert war, welches aber -wie auch immer- abhandengekommen ist.

Das -wie auch immer- heißt mit höchster Wahrscheinlichkeit Oma Helene. Die ehemalige Besitzerin neigt nämlich dazu, Dinge, die ihr wichtig sind, zu verstecken, aus Angst, dass sie gestohlen werden könnten. Ihre Brille, der Pass und selbst der Geldbeutel sind regelmäßig hiervon betroffen. Hinterher weiß sie natürlich nicht mehr, wohin diese Sachen gelangt sind und beschuldigt ihre engsten Familienangehörige, sie zu berauben.

Vermutlich wird das Fotoalbum irgendwann aus den Tiefen des Kleiderschrankes, hinter den Blumenvasen oder gar im Keller zum Vorschein kommen.

Außer diesen sechs mir nahen Anverwandten gibt es noch -wie ich inzwischen weiß- einen entfernten Großonkel, der vor Urzeiten nach Amerika ausgewandert ist, wenige Male für einen Kurzbesuch anreiste, vor einigen Jahren verstarb und von dessen Nachkommen man seitdem nie wieder etwas gehört hat.

Kapitel 4:

Die nächsten Wochen verlebte ich wie in einer Art Trance. Ich schaffte es zwar, meinen Alltag zu bewältigen, Florian aus dem Weg zu gehen und im Job die geforderte Leistung zu bringen, aber nichts davon schien wirklich wichtig zu sein. Der seltsame Traum wollte einfach nicht aus meinem Bewusstsein verschwinden und stand so klar vor meinen Augen, wie am ersten Morgen.

Natürlich redete ich mit niemandem mehr darüber. Das eine Gespräch mit Mona hatte mir vollkommen gereicht. Außerdem erzählt man nicht freiwillig, dass man sich als erwachsene, Vernunft begabte Frau in eine fiktive Gestalt verliebt hat und nun zutiefst unglücklich ist, weil es keine reelle Chance gibt, diese wiederzusehen. Genauso wenig wie man beichtet, dass man sich „Legolas“-Bilder im Internet anschaut und innere Dialoge mit einem Unsichtbaren führt, der weder Gott noch Jesus ist. Wahrscheinlich hätte eins davon bereits für eine Selbsthilfegruppe gereicht.

Ungefähr einen Monat später trat Mona an meinen Schreibtisch. Es war ein chaotischer Mittwochnachmittag Anfang April, an dem jeder Bausparer südlich des Mains glaubte, Änderungen an seinem uralten Vertrag vornehmen zu müssen. Der Kollege, der normalerweise dafür zuständig war, befand sich sonnenbadend und tauchender Weise auf den Malediven.

Ich versuchte gerade einen aufgebrachten Kunden zu beruhigen, einen weiteren in die Warteschleife zu vertrösten, auf meinem Bildschirm poppten mehrere wichtige Info-Mails auf und der Stapel mit unerledigtem Papierkram, der sich neben meiner Grünlilie auftürmte, geriet durch eine ungeschickte Armbewegung ins Rutschen.

Genau da flüsterte meine Freundin: „Heute Abend halb acht. Ich hole dich ab. Keine Widerrede.“ und verließ vor sich hin trällernd das Büro, ohne mir die Möglichkeit einer Gegenwehr zu lassen.

Das Gute daran war, dass ich die nächsten beiden Stunden keine Zeit hatte, mich über diese Bevormundung aufzuregen.

Als sie zehn nach acht bei mir an der Wohnungstür klingelte, fragte ich mich immer noch, was sie wohl bewog, ihren heißgeliebten Yoga-Kurs an diesem Abend mir zu opfern.

„Du meine Güte läuft der Orang-Utan vom ersten Stock jetzt öfter so rum?“, begrüßte sie mich schaudernd anstelle der sonst unvermeidlichen Umarmung. „Wenn ja, solltet ihr unbedarfte Besucherinnen schleunigst vorwarnen.“

Selbstverständlich sind Mona meine Mitmieter bekannt und umgekehrt genauso. Signore Ribello, der kompakt gewachsene Opa vom dritten Stock flirtet sogar regelmäßig mit ihr. Italienische Männer stehen nun mal auf blonde, gut gebaute Frauen. Allerdings tut er das nur in Abwesenheit seiner temperamentvollen Gattin.

„Was hatte Herr Maifeld denn an?“, erkundigte ich mich betont beflissen, rechnete aber mit Schlimmem.

„Einen zwei Nummern zu kleinen Jogginganzug aus den Siebzigern und Badelatschen. Er sah aus wie Meister Propper aus der Werbung, nur ungewaschen, abgewrackt und ohne Ohrring.“ Meine Besucherin schüttelte sich angesichts dieser modischen Verirrung.

Äußerlich grinste ich vieldeutig, während mein Inneres erleichtert aufatmete. Tatsächlich konnte Mona von Glück sagen. Neulich trug unser Hausmeister, Pseudo-Minigolfer und Reparatur-Profi bloß Unterwäsche. Seit seine Frau ihn verlassen hat, kümmert ihn sein Äußeres kaum mehr. Vor drei Wochen ist diese urplötzlich ausgezogen. Man munkelt unter meinen Mietgenossinnen, sie habe beim Seniorenturnen mit dem wesentlich jüngeren Kursleiter angebändelt. Seither wird der verzweifelte Strohwitwer abwechselnd von den verbliebenen Frauen unseres Hauses mit Essen versorgt. Gestern Abend bereicherte ich seinen Speiseplan zum Beispiel durch einen Gemüseeintopf mit Saitenwürstchen. Letzteres behielt ich an dieser Stelle aber tunlichst für mich.

Trotzdem zeigte sich meine Besucherin ernsthaft erschüttert. „Wie kannst du nur freiwillig hier wohnen bleiben? Es wird höchste Zeit, dass du wenigstens einen Abend lang rauskommst. Zieh dir eine Jacke an und dann verschwinden wir.“ Sie war ausgehfertig gestylt, trug ihr blondiertes Haar als wilde Steckfrisur, Kriegsbemalung und hochhakige Stiefel, die Blicke auf ihre wohlgeformten Knie freigaben.

Ich schluckte sämtliche Entgegnungen hinunter, unter anderem die, dass ich meiner Meinung nach bereits ein abwechslungsreiches Abendprogramm besitze. Schließlich gehe ich regelmäßig in meinen Gesprächskreis, gebe Nachhilfe bei den Flüchtlingen und besuche meine Oma. Im Februar hatte ich es sogar mit einem Aquarellmalkurs versucht, wegen unübersehbarer Talentlosigkeit aber vorzeitig abgebrochen. Außerdem besitze ich ein altes Röhren-Fernsehgerät aus Mutters Zeiten. Wenn man schon GEZ-Gebühren bezahlt, sollte es wenigstens nicht umsonst sein.

Stattdessen fragte ich: „Was hast du vor?“

„Wir werden einen Mann für dich suchen.“ Als sie meinen rebellischen Blick bemerkte, fügte sie hinzu: „Das war ein Scherz. Ich weiß, dass wir dazu in eine Kirche müssten. Komm, wir verbringen mal wieder einen netten Abend miteinander.“

Einfachheitshalber kapitulierte ich. Auf dem Weg durch den nahegelegenen Stadtpark erkundigte ich mich dennoch nach den wahren Gründen für ihren selbstlosen Einsatz.

Die Antwort kam prompt. „Mensch Ronja. Warum wohl? Weil du meine Freundin bist, das gleiche für mich tun würdest und bereits mehrfach getan hast. Ich möchte nur an meine hirnschwache Affäre mit Jens aus der Marketingabteilung erinnern.“

Dies war ein dunkles Kapitel in ihrem Leben und allein, dass sie es freiwillig in Erinnerung rief, zeigte mir, wie ernst sie meinen Zustand einstufte. Sie hatte damals unter einer Art bulämischen Beziehungsstörung gelitten, was bedeutete, dass sie, obwohl sie gewusst hatte, dass dieser aalglatte Typ sie ausnutzte, einfach nicht die Finger von ihm hatte lassen können. Anschließend war sie regelmäßig auf meinem Sofa gesessen und hatte sich über ihre eigene Dummheit ausgekotzt.

„Ich mache mir Sorgen um dich, Kleine. Seit der Trennung von Flo läufst du rum, als ob du demnächst zu deiner eigenen Beerdigung müsstet. Echt jetzt, es gibt so viele nette Jungs auf dieser Welt. Da wird doch wohl einer dabei sein, den du nicht augenblicklich abblitzen lässt.“

„Ich will keinen Freund“, versuchte ich ihr starrköpfig klarzumachen.

Mit wenig Erfolg. Da schenkt sie sich mit meiner rumänischen Mitmieterin rein gar nichts. Erst gestern hatten wieder Kekse, nebst einem aktuellen Foto von Enkelsohn Sorin vor meiner Tür gelegen. Jetzt, wo ihm allmählich ein Bart wächst, fürchte ich ernsthaft, der gute Junge könnte seine Oma irgendwann mal besuchen kommen.

Mona rollte in gespielter Verzweiflung die Augen. „Selbstverständlich willst du einen. Wenn man von Hochzeitsnächten träumt, ist man förmlich wild darauf, seine Defizite auszumerzen.“

Ihr Blick sagte mir, dass sie mich durchschaute. Manchmal ist mir meine Freundin richtiggehend unheimlich. Oder trage ich mein Innenleben inzwischen derart unverstellt zur Schau, dass andere Menschen darin wie in einem offenen Buch lesen können? Dummerweise ähnelte es momentan sehr einem, nur wenige Seiten umfassenden, Groschenroman.

Wir endeten in einem Schnellimbiss. Sie bestellte einen Salat mit Hühnchen und ich Hamburger und eine Cola. Dazu aus Rache für heute Nachmittag ein paar Pommes, was mir immerhin ihren leidenden Blick einhandelte. Als Konsequenz hielt sie mir einen Vortrag über die Gefährlichkeit von gesättigten Fettsäuren, kanzerogenen Stoffen und kurzkettigen Aminosäuren.

Weil ich frisches Obst und Gemüse liebe und nur in ihrer Anwesenheit kulinarischen Ausrutschern schwer widerstehen kann, sagte ich einmal mehr nichts dazu und lasse sie seit Jahren in dem Glauben, mein Leben bestünde schwerpunktmäßig aus Fastfood.

An unserem Nebentisch ließ sich eine Familie nieder. Das jüngste Kind war behindert, saß im Rollstuhl und genoss den Ausflug unübersehbar. Es jauchzte ständig vor sich hin. Die anderen gingen sehr liebevoll mit ihm um. Als der Vater ihm mit seinem Stofftaschentuch den Speichel vom verzerrten Mundwinkel wischte, hätte ich fast geheult. Aus irgendeinem Grund berührte dieses Bild meine sentimentale Seite.

Vielleicht lag es daran, weil ich, als klar war, dass ein Lehramtsstudium für mich mangels Ausbildungsvergütung und wegen meiner schwerkranken Mutter nicht in Frage kam, kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, Heilerziehungspflege zu lernen. Ich hatte mich sogar um einen Praktikumsplatz bemüht. Aber die Arbeitszeiten und die Bezahlung waren nicht so, dass wir uns das hätten leisten können. Darum landete ich bei der Bausparkasse. Der Bausparvertrag, den ich seither besitze, tröstet mich nur geringfügig über meine verfehlten Ideale hinweg. Meine Mutter hat mich aber gelehrt, angefangene Dinge konsequent durchzuziehen. Daher brachte ich meine Ausbildung zu Ende und verpasste dann irgendwie den Absprung.

Als Mona und ich uns zu später Stunde auf den Heimweg machten, hatte ich sie wenigstens überzeugt, dass ich weder Suizid gefährdet bin, noch in nächster Zeit einem Kloster beizutreten gedenke. Ich gehöre zwar zur anderen Fraktion, doch Mona sieht das Thema Religion grundsätzlich überkonfessionell. Als Agnostikerin behält man so leichter den Überblick.

Kapitel 5:

Ich hatte die Traum-Sache bereits abgeschrieben, … deshalb staunte ich nicht schlecht, als ich in der nächsten Nacht vermeintlich aufwachte und merkte, dass ich mich erneut in einem anderen zeitlichen und räumlichen Umfeld befand. Dieses Mal lag ich aber nicht in einem Himmelbett, sondern saß am Tisch einer spartanisch ausgestatteten Mansarde.

Die junge Frau, deren Perspektive ich einnahm, versuchte bei flackerndem Kerzenlicht zu lesen. Ich vermutete, dass es die Bibel war. Allerdings wirkte die Schrift der Ausgabe dermaßen alt, dass sie für mich ein unüberwindliches Hindernis darstellte. Ich konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie in deutscher Sprache war. Das sich anschließende Gebet klang aber verdächtig nach Marie.

Mein Herz begann prompt schneller zu schlagen. Wo sie sich befand, konnte ihr Bräutigam kaum fern sein.

Wenige Minuten später stieg ich mit ihr zusammen eine schmale, knarrende Holzstiege hinunter. Das Interieur des herrschaftlichen Hauses sprach für die Zeit um 1900.

Dann kam der Schock. Die junge Frau blickte in einen trüben Spiegel und versuchte ihr Haar zu einem ordentlichen Zopf zu flechten. Eine verzerrte Version meiner selbst schaute mich an. Wir besaßen dasselbe schmale Gesicht mit großen, dunklen Augen unter dichten schwarzen Brauen und Wimpern. Ihre Locken kräuselte sich ebenso widerspenstig wie meine. Aber der dicke, geflochtene Zopf reichte bei ihr weit den Rücken hinab, während ich mein Haar schulterlang trage. Ihre Haut schien zudem deutlich dunkler als meine und von der Größe her ging sie mir bestenfalls zur Nase. Zumindest meinte ich das von der Relation zum Türrahmen ablesen zu können.

Die nächste Stunde verbrachten wir damit, in einem ungemütlich kühlen Haus Lampen anzuzünden, Feuer zu machen, Petroleum nachzufüllen und Wasser aufzusetzen, um anschließend das Frühstück für mehrere Personen zu richten. Es war gut, dass ich bloß Statistin sein musste, denn ich hätte bereits beim Feuer machen kapituliert. Das 21. Jahrhundert hat der Menschheit zwar jede Menge Fortschritt gebracht, die Fertigkeiten für die überlebenswichtigen Dinge scheinen aber teilweise verloren gegangen zu sein.

Natürlich hoffte ich die ganze Zeit, hinter der nächsten Ecke meinen Pseudoehemann auftauchen zu sehen. Wenn man schon getrennte Schlafzimmer bevorzugte, wohnte man doch sicher im gleichen Haus. Nirgends aber fand sich ein Anhaltspunkt für ihn. Ich begann mir bereits Sorgen zu machen. Hatten sie sich etwa getrennt? Oder war er gestorben? Dahingerafft von einer heimtückischen Krankheit, für die es damals keine Antibiotika gab. Der Krieg wäre eine weitere, plausible Erklärung für seine Abwesenheit gewesen. Mein Geschichtswissen steht zwar auf wackligen Füßen, aber dass die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts Deutschland zwei katastrophale Kriege beschert hat, weiß jedes Kind.

In den Räumen wurde es endlich wärmer.

Zu meiner Überraschung lernte ich nun Maries Familie kennen. Dies bewog mich zu der Mutmaßung, dass es sich bei der aktuell stattfindenden Szene aus einer Episode vor der Hochzeit handeln könnte. Meine ringlosen Finger untermauerten diese Theorie. Dass meine nächtlichen Phantasien chronologisch unsortiert vorgingen, sollte mich eigentlich nicht verwundern. Ich habe auch sonst hin und wieder chaotische Tendenzen. Oder aber mein Gehirn gaukelte mir völlig andere Umstände als das letzte Mal vor und nichts, was ich über meine Hauptperson zu wissen glaubte, besaß mehr Gültigkeit.

Erst tauchte Tante Klara auf, zumindest nannte Marie die Frau so. Es drehte sich hierbei um eine dürre, dunkel gewandete Dame mit bleicher, finsterer Miene, die wirkte als hätte sie einen Stock verschluckt, so gerade versuchte sie sich zu halten.

Der Nächste, der kam, war Onkel Konrad: untersetzt mit rotem Gesicht, was auf unbehandelten Bluthochdruck schließen ließ. Die cholesterinhaltige Nahrung, welche er auf seinem Teller auftürmte und in Rekord-Tempo hinunterschlang, hätte Mona bestimmt tief entsetzt.

Man speiste im Esszimmer, das genauso ungemütlich wirkte wie seine Besitzer, sprach kaum miteinander und der Onkel enteilte mit dem letzten Bissen nach draußen, um vom Kutscher, der unten wartete, wegchauffiert zu werden. Wenn ihm die Tante nicht „Konrad, du hast deinen Hut vergessen!“ hinterhergerufen hätte, wäre mir sogar sein Name unbekannt geblieben.

Warum lebte Marie bei Verwandten und nicht bei ihren Eltern? Waren diese etwa äquivalent zu meinen früh verstorben? Oder musste sie bereits in jungen Jahren als Hausmädchen Geld verdienen, um zum finanziellen Unterhalt der Familie beizutragen? Leider bot sich mir im Moment kein Anhaltspunkt und fragen konnte ich ja schlecht.

Kaum war der Onkel weg, erschien die dritte im Bunde: Josefine, die jugendliche Tochter, blond, mit einer Oberweite, die Männerherzen höherschlagen lässt. Eventuell lag es auch an ihrem enggeschnürten Korsett, das mir schon vom Hinschauen Atemnot bescherte. Hier war endlich jemand zeitgemäß bekleidet. Genauso hatte ich es mir vorgestellt und auf Bildern gesehen. Die Figur war ohne Rücksicht auf Verluste, sprich innere Organe und ursprüngliche Vorgaben nach dem Vorbild einer Sanduhr modelliert worden. Ihr zarter, porzellanartiger Teint wirkte jedoch echt.

Mich, beziehungsweise Marie beachtete die junge Dame nicht weiter, sondern hielt bloß auffordernd ihre Tasse in unsere Richtung. Da man zum Sprechen und Essen allerdings den Mund öffnen musste, geriet der erste Eindruck von ihr etwas ins Wanken, passend zu ihrer Zahnsubstanz. Jeder Zahnarzt wäre bei diesem Anblick entweder erbleicht oder hätte sich in Vorfreude auf einen Porsche die Hände gerieben. Ihre Vorliebe für Süßspeisen, wie die Auswahl der Frühstückszutaten unschwer erkennen ließ, in Kombination mit mangelnder Zahnhygiene, hatten einen Steinbruch zwischen den roten Lippen hinterlassen. Zahnbürste und Zahnpasta samt professioneller Zahnreinigung mussten erst noch erfunden werden.

Marie bediente ihre Familie mit der Routine jahrelanger Erfahrung. Die nahezu gleichaltrige Cousine zeigte sich ihr aber keineswegs freundlich gesinnt, beschwerte sich vielmehr, dass der Tee zu kurz gezogen und der Kuchen zu trocken geraten sei.

Nach dem Frühstück begab sich diese dann mit Leidensmiene und einer Stickarbeit aufs Sofa. Ich erfuhr im Zuge dessen, dass Josefine bald zu heiraten gedachte. Die filigrane Handarbeit, an der sie lustlos herumstichelte, sollte ein Geburtstagsgeschenk für ihren Verlobten darstellen.

Auf Marie und mich warteten nun Reinigungsarbeiten. Der Holzboden musste poliert, Teppiche ausgeklopft, Betten gemacht und Staub gewischt werden. Die hässlichen Nippes-Sachen auf den Regalen nicht zu vergessen. Hausarbeit war vor hundert Jahren ein Knochenjob gewesen und die Erleichterung durch elektrische Geräte stand bestenfalls als Hoffnung im Raum. Kochen brauchten wir aber nicht, denn dafür kam am späten Vormittag eine Zugeh-Frau, die nach der Begrüßung in die Küche eilte und dort lautstark zu werkeln begann.

Um Punkt zwölf Uhr verließ Marie das Haus und machte sich auf den Weg zu einem mir unbekannten Ziel. Ich begleitete sie durch die Gassen einer mir fremden Stadt. Mich überschwemmte dabei eine Woge der Unwirklichkeit. Ich meinte, versehentlich in einen Historienfilm geraten zu sein, bei dem ich genötigt wurde, die Hauptrolle zu spielen. Pferdedroschken holperten an mir vorüber, antike Fahrräder schwankten samt ihren wagemutig Aufsitzenden halsbrecherisch über das Kopfsteinpflaster und tatsächlich entdeckte ich ein einzelnes Automobil, das ich so nur aus dem Museum kannte.

Obwohl meine Doppelgängerin rasch ausschritt und wann immer es möglich war, den Blick auf den Boden geheftet hielt, bemerkte ich, dass wir auffielen. Man starrte uns entweder unverhohlen an oder ignorierte uns übertrieben deutlich. Warum verhielten man sich ihr gegenüber so merkwürdig?

Die Erklärung boten mir kurz darauf ein paar harmlos wirkende Buben, die am Straßenrand mit Murmeln spielten. Als wir an ihnen vorbeiliefen, riefen sie: „Negerliebchen!“ und streckten uns höhnisch die Zunge raus. Einer warf sogar einen Stein nach Marie, verfehlte sie aber glücklicherweise. Niemand rügte die elenden Rotzbengel für dieses flegelhafte Benehmen. Offenbar genügte früher eine braune Hautfarbe, um in der Öffentlichkeit gebrandmarkt zu werden.

Endlich ließen wir die Hauptstraße hinter uns und schlugen einen Feldweg ein. Marie hob die Augen. Gleichzeitig schien eine Last von ihren Schultern zu fallen. Ihr Schritt wurde leichter. Hier waren wir allein. Ein kleines Tannenwäldchen lag zu unserer rechten, Vögel zwitscherten fröhlich, Bienen summten und der Wind rauschte in den Zweigen. Sogar ein Bach schlängelte sich munter plätschernd durch dieses fast unberührte Paradies. Die friedvolle Landschaft wirkte wie Balsam auf der Seele. Leider würde dieses Stück Natur in den nächsten hundert Jahren bestimmt einer Neubausiedlung oder einem Industriegebiet zum Opfer fallen.

Unser Ausflug endete vor einer Diakonissenanstalt, wie man an den sich in Tracht befindlichen Schwestern leicht erkennen konnte. Vor meinen Augen entfaltete sich ein weitläufiges, hügeliges Areal, das bis zum Waldrand reichte und aus vielen großen und kleinen Häusern, nebst einer Kirche bestand.

Das mehrstöckige Gebäude mit den hohen Fenstern, welches Marie ansteuerte, trug am Portal den in schnörkelige Buchstaben gesetzten Schriftzug „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Darüber stand in großen Lettern: „Schwachsinnigen- und Krüppel-Anstalt“.

Was für eine schreckliche Formulierung! War das damals die normale Bezeichnung für geistig und körperlich behinderte Menschen? Was wollte Marie hier? Hatte sie etwa ähnlich gelagerte Ambitionen wie ich und verbrachte ihre Freizeit ehrenamtlich in diesem Heim?

Meine Nase wurde gleich beim Betreten der Örtlichkeit mit einer höchst unerfreulichen Geruchsmischung konfrontiert. Ich begann automatisch flach zu atmen und dachte lieber nicht über die Quelle dieses Gestanks nach. Marie schienen diese ekelerregenden menschlichen Ausdünstungen nicht weiter zu stören. Sie sprang förmlich die geschwungene Holztreppe bis in den zweiten Stock hinauf und wurde dabei von allen Seiten freundlich begrüßt. Man kannte sie und besaß offensichtlich keine Vorbehalte gegen dunkelhäutige Menschen. Nicht nur die ihr entgegeneilenden Diakonissen, auch einige Patienten nickten grüßend oder lachten erfreut bei ihrem Anblick. Von einer bekam sie zu meinem Schrecken sogar eine stürmische Umarmung.

Schließlich betrat Marie ein Zimmer am Ende des Korridors und wurde dort sehnsüchtig von einem schmächtigen Mädchen erwartet. Die Kleine hatte dunkelblondes, welliges Haar, markant bernsteinfarbene Augen und helle Haut. Trotz der äußerlichen Unterschiede war mir aber klar, dass die zwei Schwestern sein mussten.

„Sophie, mein Schatz. Wie geht es dir heute? Sind deine Halsschmerzen besser geworden?“ Marie drückte das Kind herzlich an sich.

Bei dem Namen begann es in meinem Ohr zu klingeln. Hatte der Bräutigam ihn nicht in der Hochzeitsnacht erwähnt?

Ich hätte nun erwartet, höchstens ein unverständliches Stammeln als Antwort zu bekommen, denn das arme Mädchen zeigte eine ausgedehnte spastische Lähmung, wovon die Gliedmaßen und das Gesicht betroffen waren. Ein Mundwinkel hing nach unten, der Kopf saß schief auf dem Hals und die Hände und Arme befanden sich in einer verkrümmten, komplett verspannten Position. An den Beinen sah es vermutlich nicht besser aus, obwohl sich das schwer beurteilen ließ, weil sie unter der Bettdecke verborgen lagen.

Zu meiner Verblüffung teilte sich die Kleine jedoch mit, durch Gesten, Zuckungen, Blinzeln und ganz unterschiedliche Laute.

„Das ist jammerschade“, antwortete Marie und konnte diese Sprache wohl ohne weiteres verstehen.

In diesem Augenblick betrat eine junge Pflegekraft mit einem vollbeladenen Tablett das Krankenzimmer. Ihr rundes Gesicht strahlte wie ein Vollmond unter dem schief sitzenden, weißen Häubchen hervor und auf der sommersprossigen Nase saß eine winzige Nickelbrille. Auch der Rest von ihr bot wenig Ecken und Kanten. Ich fand sie auf Anhieb sympathisch. „Heute stehen Erbsen und Kartoffelpüree auf dem Mittagstisch. Eine deiner Leibspeisen, Sophie“, berichtete sie so begeistert, als hätte diese gerade einen Sechser im Lotto gewonnen.

„Du bist ja doch da, Johanna“, meinte Marie daraufhin verwundert. „Meine Schwester hat steif und fest behauptet, du hättest heute frei.“

„Das habe ich auch fast. Der Zug fährt in zwei Stunden. Mein ältester Bruder vermählt sich morgen.“

„Oh, das freut mich.“

„Ich freue mich auch. Nur muss ich bis dahin eine akzeptable Frisur gefunden haben. So kann ich mich auf der Feier keinesfalls blicken lassen.“ Sie strich, nachdem sie das Tablett auf Sophies Nachttisch abgestellt hatte, missmutig durch ihr feines Haar, das sich offenbar ungern von einer Haube bändigen ließ. „Ist es nicht schlimm genug, rothaarig zu sein? Ständig hängen Strähnen herab. Schwester Hulda von der Frauenstation hat mich heute Morgen deswegen sogar gerügt. Und Schwester Inge behauptet immer, sie hätte noch nie eine so schlampig aussehende Schülerin gehabt.“ Seufzend gab sie den Versuch auf, ihren kupferfarbenen Flaum wieder geordnet unter die Kopfbedeckung zu bringen.

„Unsinn. Ich finde deine Haare hübsch“, tröstete sie Marie. „Sei froh, dass du keine Naturlocken hast. Gestern sind mir bei dem Versuch die verfilzten Stellen aus meinem Zopf herauszubekommen zwei Zinken vom Kamm abgebrochen.“

„Man kriegt im Leben halt selten das, was man sich wünscht. Davon können die meisten hier ein Lied singen.“ Schwester Johanna ließ ihren Blick mitleidig einmal durchs Zimmer schweifen. „Nun muss ich aber weiter, sonst bringe ich meine Arbeiten nicht mehr zuwege. Bis Montag.“

„Du kannst Schwester Inge ausrichten, dass ich nachher ein paar eurer Patientinnen mit nach draußen in den Park nehme und ihnen aus Sophies Kinderbibel vorlese.“

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