Kitabı oku: «Harzmagie», sayfa 9
Schulanfang
Sabrina hatte vor dem Schulgebäude, einem roten Backsteinbau, auf Elisabeth gewartet. Dankbar, dass ihre Mutter nicht mitkam, weil sie Klara begleitete, war Elisabeth auf ihre neue Freundin zugelaufen. Die Schüler strömten in kleinen Gruppen ins Gebäude. Die meisten kamen zu Fuß. Der Schulbus hielt am Busbahnhof etwa dreihundert Meter den Berg hinunter, dort wo der alte Bahnhof einst gelegen hatte. Die Schienen hatte man vor vielen Jahren entfernt. Es muss spannend gewesen sein, dachte Elisabeth bei sich, früher mit einer schnaufenden Dampflokomotive hier hinaufzufahren. Es gab im Ostharz noch einige von den Harzer Schmalspurbahnen. Die bekannteste davon schlängelte sich von Wernigerode über Schierke bis zum Brocken hinauf, aber hier in Clausthal gab es keine Schienen mehr. Schade eigentlich. Sabrina lächelte sie an.
»Bereit für deinen ersten Tag? Meine Ma hat schon mit deiner Mutter telefoniert. Du bist nach der Schule zum Spaghetti-Essen eingeladen! Vegan natürlich.« Sabrina rollte mit den Augen. »Auch wenn ich eigentlich die Thunfisch-Weißweinsoße lieber mag!«, setzte sie hinzu. »Aber Ma hat mir vorgerechnet, wie viel Kalorien weniger das sind, und ich will ja abnehmen.«
Elisabeth musterte Sabrina. Ihre Figur wirkte zugegebenermaßen recht kräftig. Sie hatte eine zerschnittene Jeans an und ein Top, das eher aussah wie ein schwarzes Spinnennetz, allerdings verschleierte es etwas Sabrinas Ausmaße. Passend dazu hatte sie schwarzen Lidschatten und dunkelroten Lippenstift aufgetragen. Elisabeth fand das Outfit cool, vielleicht deswegen, weil ihre Mutter ihr nie so etwas erlaubt hätte. Sabrina hakte sie unter und sie betraten das Gebäude. Es war viel kleiner als die Schule in Hannover mit ihren Plastikwänden und riesigen Gängen. Hier wirkte alles beschaulich. Von der zehnten Klasse gab es nur eine A und eine B. Sabrina steuerte zielsicher auf das Klassenzimmer der B zu. Einige Schüler saßen schon im Raum. Sabrina zog Elisabeth mit und setzte sich, ohne jemanden zu fragen, in die erste Reihe. Elisabeth zögerte.
»Sei nicht so schüchtern, setz dich!«
»Nun ja, ich habe noch nie in der ersten Reihe gesessen. Ich verdrücke mich meistens nach hinten!«, gab diese zu.
»Damit ist jetzt Schluss! Ich habe dir versprochen, dass ich dir helfe, und das tue ich auch. Hier vorne bekommt man alles mit und du kommst auch häufiger dran!«
Mit einem leicht verängstigten Blick setzte Elisabeth sich dann doch hin.
»Schau mal, die Grabschlampe hat eine Freundin gefunden! Heißes Gestell, wenn auch etwas dürre.« Vinzenz und seine zwei Schatten, Alim und Ojan, standen in der Tür.
Sabrina wurde vor Wut rot, was sich bei ihrer hellen Haut in tiefem Rosa zeigte. Elisabeth tat lieber so, als hätte sie es nicht gehört und suchte etwas in ihrer Tasche. Sie wusste nicht, was sie auf den Spruch erwidern sollte, und war dankbar, dass in dem Moment ein blonder Junge mit Sommersprossen sich an den Dreien vorbeischob und ebenfalls in die erste Reihe setzte, direkt neben Elisabeth auf die andere Seite des Mittelganges.
»Na, da ist ja der andere Streber! Kannst schnell laufen, Theo.« Mit höhnischem Gelächter gingen die drei zur letzten Reihe und fläzten sich hin. Alle anderen in der Klasse machten ihnen eiligst Platz.
»Hi Theo!«
»Hi Brina! Du musst die Tochter von den Wollners sein, richtig?«, Theobald sah Elisabeth erwartungsvoll an.
Elisabeth gaffte mit offenem Mund zurück und vergaß ganz, zu antworten. Sabrina sprang für sie ein.
»Ja und sie hat auch einen Namen, sie heißt Elisabeth!«
»Klar! Deine Mutter habe ich schon kennengelernt. Du hast noch eine Schwester, richtig?« Als Elisabeth immer noch nicht antwortete, ergänzte er, »Dies ist eine kleine Bergstadt. Hier bekommt man vieles mit. Dein Vater hat im Matheinstitut angefangen, oder? Bist du auch ein Mathefreak?«
Elisabeth schüttelte mit traurigem Blick den Kopf. »Genau da bin ich eine Vollniete«, räumte sie ein. Sie fand Theobald gar nicht aufdringlich. So, wie er das betonte, war es eine simple sachliche Feststellung, nicht mehr. »Aber Sabrina will mir helfen!«, verriet sie ihm gleich.
»Wenn du Fragen hast, kein Ding. Kannst mich auch immer fragen!«
»Soso, willst du etwa etwas wiedergutmachen, indem du jetzt deine Hilfe anbietest?«, funkelte Sabrina Theobald böse an.
Elisabeth wusste zwar nicht, worauf ihre Freundin anspielte, aber jetzt wurde Theobald rot und drehte sich von ihnen weg. Sabrina warf ihr einen wissenden Blick zu, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu erklären, denn jetzt betrat eine ältere Frau mit Nickelbrille und strengem Anzugskostüm das Klassenzimmer. Zu Elisabeths Verwunderung setzte schlagartig ein Gescharre von Stühlen ein, als alle Schüler gleichzeitig aufsprangen, sogar die drei in der letzten Reihe. Also tat Elisabeth es ihnen gleich.
»Guten Morgen, Frau Schramm!«, dröhnte es durch die Klasse.
Die sehr korpulente Frau stelzte auf hohen Absätzen in den Raum und stellte mit einem wohlwollenden, aber irgendwie strengen Lächeln ihre Tasche auf dem Pult direkt vor Elisabeth ab, welche erstaunt auf ihre Klassenlehrerin hinabblickte. Diese war mit Absätzen gut und gerne anderthalb Köpfe kleiner als sie und maß nur knapp über einen Meter fünfzig. Aber das täuschte über ihre wahre Größe hinweg, denn die Klasse spurte sofort. Mit dieser Frau war sicher nicht gut Kirschen essen, wenn man ihr in die Quere kam, vermutete Elisabeth.
»Guten Morgen, neue Zehn B!«, trällerte es der Klasse in einer tiefen Altstimme entgegen. »Wie ich sehe, haben alle die schulfreie Zeit gut überstanden und auch diejenigen, die hart um die Versetzung in den nächsten Jahrgang kämpfen mussten, haben den Klassenraum ebenfalls wiedergefunden!«
Dabei stach ihr Blick, der nun kaum noch etwas von dem Lächeln zeigte, an allen anderen Schülern vorbei direkt auf die letzte Reihe. Dann wandte sie sich wieder nach vorn.
»Sabrina, meine Liebe, ich sehe, dass dein Kleidungsgeschmack sich nicht gebessert hat, was ich sehr bedauere. Wir haben auch einen Neuzugang aus Hannover, Elisabeth Wollner! Willkommen! Ich sehe, dass du ordentlich Nachholbedarf hast.« Sie warf kurz einen Blick in eine Mappe, die sie mit einer flüssigen Bewegung aus ihrer Tasche gezogen hatte, »Aber ich stelle fest, dass du dich verbessern willst. Dafür hast du dich genau an die richtige Stelle gesetzt. Wenn du fleißig bist, werden wir das schon hinbekommen! Ach, ein Lichtblick in Sport sehe ich. Nun, das ist nicht mein Fach, aber irgendeine Schwäche hat vermutlich jeder. Auf jeden Fall sind wir mit dir wieder zwanzig Schüler, nachdem Peter Jannes uns leider verlassen hat.« Zur Klasse gewandt ergänzte sie noch: »Dieses Jahr haben wir auch einen neuen Lehrer an der Schule. Ihr werdet ihn in Geschichte und Sport haben. Herr Burglos ist viel herumgereist und wird sicherlich mit einer ganzen Reihe von interessanten Begebenheiten den Unterricht auflockern können.« Es klang, als wäre das etwas Schlechtes. Frau Schramms Abneigung gegen den neuen Lehrer triefte förmlich aus ihren Sätzen.
»Ihr sollt euch wegen der AGs bis zur sechsten Stunde vor dem Sekretariat in die Listen eintragen. Jeder muss mindestens zwei AGs wählen. Nun denn, lasst uns anfangen! Der neue Stundenplan ...« Sie öffnete die Tafel und alle setzten sich hastig, um ihn abzuschreiben.
Elisabeth merkte schnell, dass die Klasse Frau Schramm nur ein Theater braver Schüler vorspielte. Unter den Bankreihen wurden Zettel getauscht und hinter ihrem Rücken wilde Grimassen geschnitten. Sabrina und Theobald machten eifrig im Englischunterricht mit und Elisabeth erkannte, dass es durchaus ein Vorteil war, wenn die Klasse einem nicht direkt ins Gesicht schauen konnte. Beeinflusst von beiden meldete sie sich auch einmal mit und kam prompt dran. Als ihre Antwort Frau Schramm zufrieden stellte, knuffte ihr Sabrina aufmunternd in die Seite. So schlecht fing es doch gar nicht an.
In der Pause nach der zweiten Stunde strömten die Schüler in die Aula. Am Schwarzen Brett vor dem Sekretariat hingen die AG-Listen aus. Viele hatten sich schon eingetragen.
»Du sollst doch abnehmen, hat deine Mama gesagt«, fing Elisabeth an, als sie eine Liste sah, in der erst wenige Einträge standen und über welcher der Titel Fit in allen Belangen prangte.
»Ja schon«, sagte Sabrina, »aber ich will weiter die Astronomie belegen bei Grobber. Da lernt man viel über Sterne.«
»Gut, dann trag mich auch da mit ein, aber es sieht schon voll aus.«
Sabrina zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und trug sich und Elisabeth in die Liste für Astronomie mit ein, obwohl die Plätze bereits voll waren.
Das blanke Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht, als Elisabeth dies auch für die Sport AG tat.
»He, was soll das denn? Ich habe uns doch gerade in Astronomie eingetragen«, meuterte Sabrina.
Elisabeth grinste. »Ja schon, aber wir müssen immer zwei Kurse angeben, oder? Und in diesem Kurs sind erst sechs andere Leute drin. Ich wette, der wird es. Du willst doch fit werden, oder?«
Nun sah Sabrina auch hin. »Bist du völlig übergeschnappt? Da stehen unsere drei Schuldeppen auch drin. Ich mach doch keinen Kurs mit denen.«
»Komm schon«, animierte Elisabeth sie. »Du hilfst mir, schlau zu werden, und ich helfe dir, fit zu werden.«
Bevor Sabrina, die inzwischen sauer wurde, sich an Elisabeth vorbeidrängeln konnte, um ihren Namen durchzustreichen, schob sich jemand anderes vor und trug sich ebenfalls ein.
»Theo? Du auch?«
Der Apothekersohn drehte sich zu ihnen um. »Wenn ihr euch traut, dann ich auch. Was sagt ihr, wollen wir endlich unseren Ruf als Streber ablegen?«
Sabrina blickte Theobald mit derart verdattertem Gesicht an, dass Elisabeth losprusten musste. »Ich glaube, das liegt an mir«, stieß sie dann hervor. »Kaum da und schon bringe ich alles durcheinander. Aber wenn ihr beiden auch mitmacht, dann werden wir es denen schon zeigen.«
Negersprung im Nebel
Die Schule gefiel Elisabeth immer besser. Seit Beginn des Schuljahres hatte ihre Mutter sie endlich in Ruhe gelassen. Während sie die ersten Dehnübungen machte, die anderen in Grüppchen zusammenstanden und schwatzten, betrat Manfred Burglos die Sporthalle. Etwa einen Meter achtzig groß, sonnengebräunt und durchtrainiert wie ein Zehnkämpfer. Den Mienen ihrer Mitschülerinnen sah Elisabeth überdeutlich an, dass dieser Lehrer zum Schwarm aller Mädchen werden würde. Burglos lächelte strahlend in die Runde und Annabell aus der zweiten Reihe machte Anstalten, in Ohnmacht zu fallen. Der Sportlehrer zog das Tor zum Geräteraum auf und warf die Medizinbälle heraus.
»Werfen und Fangen! Teilt euch in Zweier- und Dreierteams auf!«, rief er in die Runde und klatschte auffordernd in die Hände.
Besonders die Mädchen kamen seiner Forderung erstaunlich fix und mit Feuereifer nach, was Elisabeth ebenso amüsiert bemerkte wie Sabrina und Theobald. Während Burglos durch die Halle ging, um hier und da Anweisungen zu geben, beobachtete Elisabeth, wie Annabell dem Sportlehrer auf den Hintern schaute. Als deren Freundin Beate ihr den Ball zuwarf, bekam Annabell ihn prompt an den Kopf und ging zu Boden.
»Ist die jetzt echt weggetreten oder wartet sie auf eine Mund-zu-Mund-Beatmung durch Burglos?«, ätzte Sabrina. Theobald und Elisabeth brachen in prustendes Gelächter aus, während Manfred Burglos Annabell auf die Beine half und sie zur Erholung nach draußen schickte. Für die anderen ging es weiter.
Sabrina, die mit Elisabeth übte, konnte schlecht werfen, war aber richtig gut im Fangen, doch sie schnaufte wie eine Dampflok und schwitzte nach kurzer Zeit überall. Elisabeth nicht. Sie tänzelte während des Werfens und Fangens immer hin und her und fing jeden Ball mit Leichtigkeit. Plötzlich klopfte ihr Manfred Burglos anerkennend auf die Schulter.
»Du bist die Neue aus Hannover? Elisabeth, richtig?«
Prompt ließ sie den Ball, den sie gerade gefangen hatte, fallen. Sie lächelte verlegen und nickte. Mehr brachte sie nicht hervor. Manfred Burglos stand direkt neben ihr, während sein muskulöser Körper sich gut unter dem knapp sitzenden Muskelshirt abzeichnete. Ihr wurde heiß. Betreten hob sie den Ball wieder auf.
»Du hast eine exzellente Beinarbeit. Spielst du Basketball oder Handball?«
»Nein, ich laufe eigentlich nur«, konnte sie schließlich antworten.
»Dann bist du ein Naturtalent. Du hast immer volle Kontrolle über deinen Schwerpunkt und extrem gute Reflexe. Ich habe gesehen, dass du in meiner AG bist. Deine Partnerin ist wohl Sabrina, die Schlauste, wenn man den anderen Lehrern glauben darf. Ich finde es toll, dass du mit ihr trainierst. Deine Freundin, hmmm? Ich freue mich schon auf den Kurs mit euch.« Dann setzte er hinzu: »Übrigens wenn du läufst ... wir wollen dieses Jahr mit dem Kurs am Harzlauf teilnehmen. Ich zähle auf dich!« Damit wandte er sich ab und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die anderen.
»Wenn du mich fragst, hat der Burglos dich gerade richtig lange in Beschlag genommen. Was wollte er?«, quatschte Sabrina sie sofort an, als er wegging.
Elisabeth blickte ihre Freundin an, dann grinste sie. »Nun, er findet, ich sei ein Naturtalent. Astronomie kannst du dieses Jahr ganz sicher vergessen. Ich wette, wir sind in seinem Kurs.«
Bei dem Gedanken daran, wie Sabrinas Gesicht ausgesehen hatte, musste Elisabeth im Auto viel später erneut breit lächeln, als sie vom Einkaufen zurückfuhren. Es war eine Mischung aus Schock und ungläubigem Staunen gewesen. Der Nebel war dick wie Suppe, als sie von Osterode nach Clausthal hochfuhren. Ihre Mutter starrte sichtlich angestrengt in die Dämmerung, während Elisabeth gelangweilt aus dem Seitenfenster schaute. Sie träumte vor sich hin.
In der letzten Nacht war etwas Komisches passiert. Elisabeth war gegen Mitternacht schlagartig wach geworden und hatte am ganzen Körper ein Brennen gespürt. Hilfesuchend war sie schließlich zu ihrer Mutter gegangen und hatte sie geweckt. Die Reaktion war ernüchternd gewesen. Ihre Mutter hatte ihr gleich drei Esslöffel voll von dem Trank gegeben und seitdem das Prozedere morgens, mittags und abends wiederholt. Das Kribbeln war zwar verschwunden, aber Elisabeth hatte stattdessen komisch geträumt. Irgendwie kam immer ein Wald darin vor und meistens lief sie.
Die höhere Dosis, die sie nun zu sich nehmen musste, hatte alle Vorräte schnell aufgebraucht. Ihre Mutter hatte Elisabeth diesen Samstag kurzerhand mitgenommen, als sie nach Osterode zur Apotheke fuhr. Der Frage, warum sie nicht in Clausthal oder Zellerfeld einkaufe, wo doch Theobalds Mutter die Apotheke führte, wie Elisabeth inzwischen wusste, war ihre Mutter ausgewichen. Es erstaunte sie, dass ihre Mutter den Trank inzwischen alleine ohne Frau Dr. Borga zubereiten konnte. Bei dem Gedanken daran kam Elisabeth das belauschte Gespräch wieder in den Sinn. Vor was waren sie nun wirklich geflohen? Immerhin hatte sich viel seit diesem denkwürdigen Tag ereignet und Elisabeth hatte das Gespräch fast vergessen. Doch nun wurde es wieder präsent. Der Apotheker hatte sichtlich die Stirn gerunzelt, als er ihrer Mutter die Bestellung aushändigte, aber er hatte keine unangenehmen Fragen gestellt. Dann hatten sie noch etwas getrunken und einen Spaziergang durch die Innenstadt gemacht.
Sie näherten sich der letzten Kurve vor der Abzweigung zur Innerste, als der Nebel noch dichter wurde. Die Kurve, so hatte Elisabeth von Theobald gehört, hieß bei den Einheimischen politisch unkorrekt Negersprung, weil angeblich vor zig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein schwarzer amerikanischer Soldat und ein paar Kameraden mit einem Armeejeep mit Vollgas direkt in den Abgrund gerast waren. Danach hatte sich dieser umgangssprachliche Ausdruck eingebürgert. Ob das stimmte, wusste sie nicht, aber es klang gefährlich.
Emilia Wollner schaltete noch einen Gang herunter und starrte angestrengt über das Lenkrad. Es war gespenstisch und der Nebel schien das Licht zu blocken. Plötzlich fiel eine große Gestalt von der Böschung direkt vor den Wagen. Elisabeth sah eine Art riesigen grauen Wolf im Scheinwerferlicht landen. Sie fuhren immer noch zu schnell. Ihre Mutter hätte bremsen müssen, doch diese stieß im Angesicht der Gestalt nur einen schrillen, angsterfüllten Schrei aus und riss die Arme vor die Augen. Das Wesen starrte in die Scheinwerfer.
Der Aufprall folgte nur Bruchteile von Sekunden später. Der riesige Wolf wurde vom Auto erfasst, über die Motorhaube sowie das Dach geschleudert und verschwand über die Seitenleitplanke im Abgrund. Erst jetzt bremste Frau Wollner den Wagen ab, der daraufhin ins Schleudern kam, weil sie das Lenkrad losgelassen hatte. Elisabeth griff geistesgegenwärtig zu und hielt es gerade. Mit quietschenden Reifen kam das Fahrzeug auf der Gegenfahrbahn, keine Handbreit von der Leitplanke entfernt, zum Stehen.
Emilia Wollner griff jetzt wieder zum Lenkrad, als wolle sie es zerquetschen. Sie schien der Ohnmacht nahe und war kreidebleich. Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, vergingen, ohne dass jemand etwas sagte.
Elisabeth, die ebenfalls geschockt war, fand ihre Stimme als Erste wieder. »War das ein Wolf? Wir haben ihn angefahren. Mama, was machen wir denn jetzt?« Als diese immer noch nicht antwortete, machte Elisabeth Anstalten, auszusteigen.
Das riss ihre Mutter aus der Trance. Mit ungewöhnlich hoher Stimme kreischte sie: »Nein! Unter keinen Umständen! Bleib, wo du bist! Es ist zu gefährlich. Wir müssen hier weg.«
»Aber Mama, das Tier ist sicher schwer verletzt. Wir sollten Hilfe holen und das melden! Wölfe stehen unter Naturschutz.«
Plötzlich kehrte da eine Spur des ärgerlichen Funkelns in die Augen ihrer Mutter zurück, während sie hektisch versuchte, den Motor wieder zu starten. Ihre nächsten Worte ließen keine Zweifel zu. »Du hörst auf das, was ich sage! Wir müssen hier weg, und zwar schnell!«
Endlich sprang der Motor wieder an und Emilia Wollner fuhr los, so schnell sie konnte. Auf dem Rest der Fahrt hatte Elisabeth noch viel mehr Angst als eben. Ihre Mutter sauste waghalsig in die Abzweigung und dann ohne Rücksicht auf mögliche entgegenkommende Autos die schmale Straße an der Innerste hinunter. Sie hielt mit einer Vollbremsung vor dem Haus. Elisabeth ließ sich ins Haus scheuchen, blieb aber verdattert im Wohnzimmer stehen. Ihre Mutter schloss hastig die Tür und schob die Riegel vor. Erst als alles geschlossen war, griff sich Emilia Wollner eine Flasche Harzer Grubenlicht, die ihr Mann als Willkommensgeschenk von der Fakultät bekommen hatte, ließ sich auf die Couch fallen und nahm mehrere tiefe Schlucke. Dann brach sie in stummes Weinen aus, dass die Tränen nur so herabliefen.
Elisabeth stand immer noch hilflos keine drei Meter neben ihr und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Mutter hatte einen riesigen Schock und sie hatte vor etwas Angst. Der Wolf konnte es sicher nicht gewesen sein, grübelte Elisabeth, der lag vermutlich halbtot unten am Hang und starb gerade. Doch die Reaktion ihrer Mutter ließ sie vermuten, dass diese nicht davon ausging. Der Wolf war wirklich richtig groß gewesen, aber da Elisabeth noch nie Wölfe in freier Wildbahn gesehen hatte, hatte sie keinen Vergleich. Vermutlich hatte der Nebel ihnen auch einen gewaltigen Streich gespielt, in dem er die Umrisse vage und größer gezeichnet hatte. Vielleicht war jetzt die Gelegenheit, etwas mehr aus ihrer Mutter herauszubekommen. Auf jeden Fall wollte Elisabeth sie trösten. Sie ging zu ihr und berührte sie sacht am Arm.
Emilia fuhr zusammen und wischte sich die Tränen weg. »Ach, du bist ja noch da, ich … ich bin nur so fertig, weißt du. Ich habe noch nie ein Tier angefahren. Das ist schrecklich!«
»Mama, du konntest nichts dafür! Der Wolf ist uns quasi direkt vor die Motorhaube gesprungen!«
Beim Wort Wolf zuckte Frau Wollner erneut zusammen. Das kam Elisabeth komisch vor. Irgendetwas verbarg ihre Mutter vor ihr. Sie setzte sich neben sie und schlang ihre Arme um sie.
»Mama, das wird schon wieder. Ich bin ja bei dir.«
Emilia Wollner hing wie ein Häufchen Elend in ihren Armen. »Ja, du bist bei mir und ich bin an allem schuld, nur ich allein! Ich zahle jetzt für alles, was ich getan habe.« Erneut schüttelte ein heftiger Schluchzer sie durch, dann nahm sie noch einen Schluck. Die Flasche war bereits halb leer.
»Woran bist du schuld?«, bohrte Elisabeth vorsichtig nach.
Da stellte ihre Mutter endlich die Flasche weg und nahm das Gesicht ihrer Tochter liebevoll in beide Hände.
»Du musst nur so viel wissen: Ich liebe dich über alles und ich werde dich immer beschützen. Ich habe meine Entscheidung getroffen und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Du musst mir einfach nur vertrauen.«
Elisabeth runzelte die Stirn, nickte aber, um zu verstehen zu geben, dass sie gehört und verstanden hatte, obwohl das gerade eben mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete. Sie bekam noch einen Kuss auf die Stirn, der ihr sagte, dass sie heute nicht mehr erfahren würde.
Verwirrt ging sie ins Bett. Sie träumte von dem Unfall in dieser Nacht, nur diesmal hielt der Wolf einen Zettel in die Scheinwerfer mit der Aufschrift: Du wirst bezahlen! Die Rache kommt!
Schweißgebadet wachte Elisabeth auf und verspürte wieder das Kribbeln in ihrem Körper. Ein neuer Anfall drohte. Vorsichtig schlich sie in die Küche und nahm einen kräftigen Schluck aus der letzten Flasche. Die Zutaten für den neuen Trank hatten sie ja erst frisch gekauft. Ein leichtes Klirren aus dem Wohnzimmer ließ sie aufschrecken. War jemand eingedrungen? Sie griff sich das Nudelholz und schlich vorsichtig ins Wohnzimmer, in dem noch Licht brannte. Ihre Mutter lag auf der Couch. Die leere Flasche war wohl gerade zu Boden gefallen und hatte das Geräusch verursacht. Besorgt nahm Elisabeth eine Decke und deckte ihre Mutter zu.
In diesem Moment fasste sie einen Entschluss. Sie würde nachsehen, ob der Wolf wirklich tot war. Wenn nicht, würde sich vielleicht ihre Mutter wieder beruhigen. Und sie hatte auch schon eine Idee, wie sie es anstellen würde. Zu fragen hatte keinen Zweck. Gleich morgen würde sie Sabrina zu einem Trainingslauf einladen.