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7. Justizförmigkeit der Wahrheitssuche
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Wie die Gerechtigkeit das Ethos des materiellen Rechts, so ist die Wahrheit das Ethos des Verfahrensrechts. Wenn die im Strafverfahren erarbeiteten Tatsachenfeststellungen nicht „wahr“ im beschriebenen Sinne sind, so ist schon damit ein gerechtes Urteil ausgeschlossen.[5] Es ist deshalb nicht falsch zu sagen, im Strafverfahren gehe es um die Suche nach „materieller Wahrheit“; es ist aber zu wenig differenziert, und es ist unvorsichtig.
Die weiterführende Frage lautet: Stört das Beweisantragsrecht die Suche nach der „materiellen Wahrheit“, oder befördert es sie? Oder: Passen Beweisantragsrecht und „materielle Wahrheit“ zusammen?
Zwei Überlegungen scheinen zu begründen, dass das Beweisantragsrecht insoweit nichts als ein Störfaktor ist (den man wegen der verfassungsrechtlich gebotenen Subjektstellung des Beschuldigten missbilligend in Kauf nehmen muss). Zum einen ist die Pflicht des Gerichts zur Sachaufklärung in § 244 Abs. 2 StPO so umfangreich und umsichtig ausgestattet, dass alles, was darüber hinausgeht, als bloße Störung erscheinen muss. Zum anderen ist schwer einzusehen, wie man über die „materielle Wahrheit“ verhandeln und abstimmen kann; schließlich stimmen ja auch Mathematiker nicht ab, sondern rechnen und finden ein Ergebnis.
Dass das so nicht richtig sein kann, haben schon die Überlegungen zu den Grenzen menschlicher Erkenntnis[6] gezeigt. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts ergibt sich aber darüber hinaus auch aus einem genaueren Blick auf das, was im Strafverfahren „Wahrheit“ heißen kann. Dabei stellt sich heraus, dass das Beweisantragsrecht sich nicht nur auf „menschliche Erkenntnis“ berufen kann, sondern auch auf „Rechtsstaat“, nicht nur auf die empirischen Bedingungen von Wahrheitssuche, sondern auch auf die normativen Verbürgungen für die Wahrheitssuche aus der strafrechtlichen Tradition und aus der Verfassung:
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Wenn man, wie gerade skizziert, ein Beweisantragsrecht (insbesondere mit Blick auf seine Wahrnehmung durch den Angeklagten) als Störfaktor im Rahmen der Suche nach materieller Wahrheit versteht – und dies war in der Tat das Verständnis des reinen Inquisitionsprozesses, in dem auch gleich die Verteidigung als überflüssig galt –, dann kommt man schon in Schwierigkeiten, wenn man sich bemüht, überhaupt den Sinn von Strafverteidigung zu verstehen oder gar zu begründen. Wenn schon das Gericht alle Tatsachen und Beweismittel aufzuklären hat, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (§ 244 Abs. 2 StPO), wenn darüber hinaus die Staatsanwaltschaft auch zugunsten des Beschuldigten zu ermitteln hat (§ 160 Abs. 2 StPO), so wäre eigentlich nicht einzusehen, was in einer solchen Verfahrenskonstruktion noch eine Verteidigung soll – gar die notwendige (§§ 140 ff. StPO). So verstanden, kann eine Verteidigung im Rahmen der umfassenden und auch die Interessen des Beschuldigten berücksichtigenden Aufklärung des Falles durch Staatsanwaltschaft und Gericht nur stören.
Schwierigkeiten hätte ein solches Verständnis auch mit dem Akkusationsprinzip in unserem Strafverfahren. Warum soll man die Einleitung und Durchführung eines Verfahrens auf mehrere institutionelle Rollen verteilen, wenn jede dieser Rollen schon ausreichend ausgestattet ist, die Wahrheit umfassend (und überdies auch beschuldigtenfreundlich) herauszufinden? Hinter einer solchen Frage steht nichts anderes als die Ideologie des Inquisitionsprozesses: Der Inquirent weiß alles und macht alles richtig, wenn man ihn nur mit allen notwendigen Befugnissen der Wahrheitserforschung ausstattet und Störmanöver anderer Verfahrensbeteiligter unterbindet.
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Ein solches Verständnis entspricht der Konstruktion unseres Strafverfahrens nicht. Unser Strafverfahren ist eine agonale und kompliziert angelegte Veranstaltung.[7]
Das Gesetz schreibt keine ungestörte Suche nach der Wahrheit vor, sondern es installiert im Strafverfahren konflikthafte Konstellationen, indem es die Störfaktoren für die Wahrheitssuche nutzbar macht. Nicht die Harmonie, sondern der Streit ist das Grundmuster des Strafprozesses. Gerade dadurch zeichnet es sich in einem modernen Sinne als rechtsstaatlich und liberal aus, was man an den Tendenzen der nationalsozialistischen Strafgesetzgeber, die Konflikte unter einer Schein-Harmonie zu verdecken,[8] gut studieren kann.
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Ein Verständnis, welches das Beweisantragsrecht als Störfaktor der Wahrheitssuche qualifiziert, hat aber auch einen zu naiven Begriff von „Wahrheit“ als Ziel des Strafverfahrens. Die Rechtsprechung sowohl des BVerfG[9] als auch des BGH[10] hält zu Recht fest, dass es nicht um „Wahrheitssuche um jeden Preis“ gehen kann. Auch in der Literatur[11] hat sich durchgesetzt, von „forensischer Wahrheit“ zu sprechen[12] und damit zum Ausdruck zu bringen, dass rechtsstaatliche Wahrheitssuche spezifische Bedingungen und Grenzen hat, was sich auf Art und Qualität der dann gefundenen „Wahrheit“ zwangsläufig auswirkt. Ein Blick auf die Zeugnisverweigerungsrechte, die Beweiserhebungs-, Beweisverwertungs- oder Beweisthemaverbote zeigt, dass die Strafprozessordnung fundamentale Regelungen enthält, welche gerade verhindern können, dass herauskommt, „wie es wirklich war“.
Am Prinzip der „materiellen Wahrheit“ ist richtig, dass zur Grundlage des Urteils nichts gemacht werden darf, was sich so nicht zugetragen hat wie festgestellt. Falsch aber wäre es anzunehmen, dass Aufgabe der prozessualen Tatsachenfeststellung die Auffindung der „wirklichen“ Tatsachen wäre. Herauszufinden ist vielmehr die „forensische Wahrheit“; diese kann nichts anderes sein als die justizförmig gefundene Wahrheit. Und zu dieser Justizförmigkeit gehört auch das Beweisantragsrecht, dessen Regelungen freilich auch zum Ausdruck bringen, dass der Abstand zwischen der „materiellen Wahrheit“ und der „forensischen Wahrheit“ nicht zulasten, sondern immer nur zugunsten des Angeklagten als rechtstaatlich verträglich anzusehen ist. Den Rest muss dann eine saubere und begründbare Beweiswürdigung des Gerichts unter Beachtung des Zweifelssatzes (in dubio pro reo) leisten.[13]
Anmerkungen
[1]
Darstellung und Nachweise bei Arthur Kaufmann Gedanken zur Überwindung des rechtsphilosophischen Relativismus, in: ders. Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges, 1984, S. 51 ff., 57 ff.; sowie Kaufmann/von der Pfordten in: Hassemer/Neumann/Saliger Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 132.
[2]
Klassischer Text: Habermas Wahrheitstheorien, in: Wirklichkeit und Reflexion, FS für Walter Schulz, 1974, S. 211 ff.; s.a. Habermas Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, 1992; zur Anwendung auf das Strafverfahren: Hassemer Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 118 ff.
[3]
Luhmann Rechtssoziologie, 1980; zu Komplexität und Reduktion von Komplexität u.a. S. 31 ff.
[4]
Überblick und Nachweise bei Hassemer Juristische Hermeneutik, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1986, S. 195, wieder abgedruckt in Hassemer Freiheitliches Strafrecht, 2001, S. 15 ff.; Erwin Fromm Zeitschrift für Tarifrecht 2002, 216.
[5]
Nach der Rechtsprechung des BVerfG folgt aus dem materiellen Schuldprinzip, dass die Ermittlung des wahren Sachverhalts als „das zentrale Anliegen des Strafprozesses“ anzusehen ist (vgl. BVerfGE 140, 317, 345; BVerfGE 133, 168, 199; BVerfGE 130, 1, 26; BVerfGE 122, 248, 270; BVerfGE 118, 212, 231). Zum Ziel des Strafverfahrens heißt es in anderen Entscheidungen des BVerfG: „Die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung wie auch der Freispruch des Unschuldigen sind die wesentlichen Aufgaben der Strafrechtspflege, die zum Schutz der Bürger den staatlichen Strafanspruch in einem justizförmigen und auf die Ermittlung der Wahrheit ausgerichteten Verfahren in gleichförmiger Weise durchsetzen soll.“ (BVerfG Beschl. v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, Rn. 111; ebenso BVerfGE 107, 104, 118/119).
[6]
Oben Rn. 21 ff.
[7]
Vgl. Mauz Das Spiel von Schuld und Sühne. Die Zukunft der Strafjustiz, 1975, S. 5 ff.
[8]
Vgl. Marxen Der Kampf gegen das liberale Strafrecht. Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre, 1975, S. 171 ff.; über den nationalsozialistischen Gesetzgeber gibt Marxen allerdings weniger Auskunft als über die Strafrechtswissenschaft jener Zeit.
[9]
BVerfG StV 1990, 1, 2; BVerfGE 34, 238, 247; vgl. auch BVerfGK 18, 194, 203 und BVerfGK 18, 444, 448.
[10]
Vgl. etwa BGHSt 38, 214, 220 und BGHSt 14, 358, 365.
[11]
Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 261 Rn. 1; s. ergänzend auch Kühne in: Löwe-Rosenberg, Einleitung Abschnitt H, Rn. 26.
[12]
Ausführlich dazu Hassemer Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1990, S. 153 ff.; vgl. ferner Volk in: FS Salger, S. 411; Lampe in: FS Pfeiffer, S. 353 ff.
[13]
Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Beweisantragsrechts vgl. Pohlreich Das rechtliche Gehör im Strafverfahren, S. 136 ff.; Jahn in FS für Hassemer, 2010, 1029 ff.
Teil 2 Die Stufen der petitativen Einflussnahme auf den Umfang der Beweisaufnahme
Inhaltsverzeichnis
I. Formlose Informationsweitergabe und Beweiserbieten
II. Beweisanregung
III. Beweisermittlungsanträge
IV. Der bedingte Beweisantrag
V. Beweisanträge im engeren Sinne
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Das Strafverfahren ist – trotz all seiner Formalisierungen und gesetzlichen Absicherungen – ein kommunikativer Prozess. Es vollzieht sich während eines bestimmten historischen Zeitraums und befasst sich mit zeitlich (oft weit) zurückliegenden Vorgängen, über die es häufig unterschiedliche Vorstellungen und Erinnerungen gibt. Der verbale Austausch und Streit darüber ist – ganz anders als die Texte, mit denen die Juristen sonst umgehen – im besten Sinne des Wortes „Szene“. Kein Verfahren ist wie das andere. Sowohl in der zeitlichen Ausdehnung als auch in den Inhalten, im „Klima“ und deshalb auch im Ergebnis hängt das Strafverfahren von zahlreichen Variablen ab. Zu diesen Variablen gehören insbesondere die Aktionen und Interaktionen der Verfahrensbeteiligten.
Diese Aktionen und Interaktionen sind durch Regeln nicht vollständig determinierbar. Sie beruhen auf Situationen, auf prozessualen Erfahrungen, auf persönlichem Temperament, auf der Stärke von Durchsetzungsinteressen oder auch auf dem Verhältnis des Verteidigers zu seinem Mandanten. Zu welchem Ergebnis oder Zwischenergebnis eine Aktion im Verfahren führt, ist gemeinhin nur undeutlich vorherzusehen.
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Angesichts dieser Gegebenheiten wäre es unvernünftig, eine Einflussnahme auf Inhalt und Umfang der gerichtlichen Tatsachenfeststellung nur im Beweisantrag zu sehen. Der Beweisantrag ist gewissermaßen nur die oberste, die am stärksten formalisierte aus einer Reihe von Einflussmöglichkeiten, welche den Verfahrensbeteiligten zur Verfügung stehen. Von prozessualer Erfahrung, von psychologischer Einfühlung und von Fingerspitzengefühl für Verfahrenssituationen hängt es ab, welches Instrument der Verteidiger verwendet, um die Beweisaufnahme zugunsten seines Mandanten zu beeinflussen. Er kann sich auf eine bloße Anregung beschränken, er kann Nachforschungen über denkbare weitere Zeugen beantragen, und er kann förmlich seinen Wunsch nach Anhörung einer bestimmten Person im Gerichtssaal vorbringen und auf diese Weise zu Protokoll geben. Selbst ein beiläufiger Hinweis auf eine weitere Aufklärungschance während des Schlussvortrags kann in der konkreten Prozesslage geschickt (oder eben auch ungeschickt) sein. All diese verschiedenen Formen des Verteidigungsvorbringens, von der schlichten Information des Gerichts über die Beweisanregung im weiteren Sinne, den Beweisermittlungsantrag bis hin zum Beweisantrag zielen auf eine Beeinflussung der gerichtlichen Wahrheitssuche und Tatsachenfeststellung. Die einzelnen Stufen der petitativen Einflussnahme auf den Umfang der Beweisaufnahme unterscheiden sich dabei nicht nur nach dem Grad ihrer Formalisierung, sondern auch nach ihrem Verhältnis zur Aufklärungspflicht. Sie sind im Folgenden danach unterschieden, mit welcher Intensität die Aktualisierung der Amtsaufklärungspflicht mit einem Beweiserhebungspetitum verbunden wird. Zwischen der schlichten Aufbesserung des richterlichen Informationsstandes über Beweismöglichkeiten und dem absoluten und unbedingten Antrag auf eine bestimmte Beweiserhebung mit der konkreten Behauptung eines erwarteten Beweisergebnisses kennt das Strafverfahrensrecht ein ganzes Spektrum unterschiedlich intensiver Beweisbegehren.
Teil 2 Die Stufen der petitativen Einflussnahme auf den Umfang der Beweisaufnahme › I. Formlose Informationsweitergabe und Beweiserbieten
I. Formlose Informationsweitergabe und Beweiserbieten
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Die Aufklärungspflicht ist vom Gesetz (§ 244 Abs. 2 StPO) als eine absolute und von Interventionen der Verfahrensbeteiligten unabhängige Amtspflicht des Gerichts postuliert. Dennoch ist sie relativ. Ob das Gericht nämlich im Einzelfall zu einer bestimmten Beweiserhebung verpflichtet ist, hängt zum einen davon ab, welchen Wissensstand die Mitglieder des Gerichts über die konkrete Aufklärungsmöglichkeit haben, zum anderen davon, welches Gewicht der jeweiligen Beweisfrage bezogen auf das Verfahrensziel (Entscheidung über Schuld und gegebenenfalls Strafhöhe) zukommt.
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Der Bundesgerichtshof pflegt in manchen Entscheidungen beide Aspekte in der Formulierung zusammenzufassen, dass die Aufklärungspflicht dann zu einer Beweiserhebung von Amts wegen nötigt, wenn sich nach der Sach- und Rechtslage und nach dem Wissensstand des Gerichts die Erstreckung der Beweisaufnahme auf das fragliche Beweismittel „aufgedrängt“ hat.[1] Doch bleibt bei dieser Formulierung offen, wann die Prozesslage besteht, die zu weiterer Beweiserhebung zwingt.[2] Sehr weitgehend ist demgegenüber die ebenfalls verschiedentlich anzutreffende Formulierung, das Gericht müsse die Beweismittel erschöpfen, wenn auch nur die entfernte Möglichkeit einer Änderung der durch die bisherige Beweisaufnahme begründeten Vorstellung von dem zu beurteilenden Sachverhalt besteht.[3] Jedenfalls müssen von Amts wegen aber alle Beweise erhoben werden, aus denen ableitbare Schlüsse gezogen werden können, die den Schuldvorwurf widerlegen, in relevanter Weise modifizieren, in Frage stellen oder auch stützen können.[4] Das kommt in neueren Entscheidungen in der Formulierung zum Ausdruck, § 244 Abs. 2 StPO gebiete es, „von Amts wegen Beweis zu erheben, wenn aus den Akten oder aus dem Stoff der Verhandlung noch Umstände und Möglichkeiten bekannt oder erkennbar sind, die bei verständiger Würdigung der Sachlage begründete Zweifel an der Richtigkeit der – auf Grund der bisherigen Beweisaufnahme erlangten – Überzeugung wecken müssen“.[5] Die Rechtsprechung will hierbei auch den Verfahrensverlauf und die dabei entstandene Beweissituation berücksichtigen. Das kommt in der Tendenzaussage zum Ausdruck, je weniger gesichert ein Beweisergebnis erscheine, je mehr Unsicherheitsfaktoren und Widersprüche in der Beweisaufnahme zu Tage getreten seien, desto größer sei der Anlass für das Gericht, weitere Aufklärungsmöglichkeiten zu nutzen.[6]
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Schon daraus folgt, dass der Verteidiger vielfältige informelle und formelle Möglichkeiten hat, auf den Umfang der Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen. Wenn der Informationsstand des Gerichts über diejenigen Tatsachen, die eine weitere Beweiserhebung aufdrängen, für die Auslösung der Aufklärungspflicht entscheidend ist, so ist es hinsichtlich aller verfügbaren Entlastungsbeweise Aufgabe des Verteidigers, das Gericht über solche Tatsachen und damit über Aufklärungschancen zu unterrichten.
Die Auslösung einer Beweiserhebungspflicht durch einen bestimmten Informationsstand des Gerichts unterliegt nicht der Disposition der Verfahrensbeteiligten. Das Gericht darf weder von der Aufklärung eines entlastenden Umstandes absehen, weil der Angeklagte sie nicht wünscht,[7] noch darf es die Klärung einer für die Entscheidung erheblichen Tatsache unterlassen, weil die Prozessbeteiligten darauf verzichtet haben.[8] Von Anträgen der Prozessbeteiligten ist die Pflicht zur Sachaufklärung ebenso unabhängig[9] wie von Vereinbarungen der Prozessbeteiligten, bestimmte Beweisanträge nicht zu stellen[10].
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Daraus folgt für den Verteidiger: Wenn er aus irgendwelchen Gründen nicht will, dass ein bestimmter Entlastungsbeweis erhoben wird, etwa weil er sich für eine Verteidigungslinie entschieden hat, für die der „Entlastungsbeweis“ schädlich wäre, dann muss er dem Gericht diejenigen Tatsachen verschweigen, die geeignet sein können, die Beweiserhebungspflicht auszulösen.
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Beispiel:
Dem Angeklagten wird vorgeworfen, eine Reihe gleichartiger Straftaten begangen zu haben. Für die zeitlich letzte der Taten könnte ein bisher in der Akte nicht erwähnter Zeuge aussagen, dass der Angeklagte ihm gegenüber erklärt und durch Aushändigung der Tatwerkzeuge auch belegt hat, er wolle endgültig mit der Tatserie aufhören. Der Zeuge müsste bei einer Vernehmung neben dieser entlastenden Tatsache aber auch offenlegen, dass der Mandant vor diesem Entschluss noch sehr viel mehr Taten begangen hat als bisher angeklagt sind. Man wird es in einem solchen Fall als Verteidiger also eher unterlassen, Gericht und Staatsanwaltschaft auf diesen „Entlastungszeugen“ aufmerksam zu machen.
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Der Regelfall dürfte aber sein, dass man als Verteidiger auch selbst nur über die zu erwartende Entlastungsaussage informiert ist. Dann genügt die Mitteilung dieser Tatsachen an das Gericht, um die Amtsaufklärungspflicht zu aktualisieren. Eine solche schlichte Aufbesserung des Informationsstandes des Gerichts ist naturgemäß in der Strafprozessordnung nicht formalisiert. Sie ist jedoch eine wichtige erste Stufe des Verteidigereinflusses auf den Umfang der Beweisaufnahme und zwar noch unterhalb der untersten Schwelle der noch zu erörternden Beweisanregungen, Beweisermittlungsanträge und Beweisanträge im engeren Sinne. Auch für diese jederzeit formlos mögliche Informationsweitergabe an das Gericht empfiehlt sich aber aus revisionsrechtlichen Gründen die schriftliche Niederlegung. Die Verletzung der Aufklärungspflicht kann nur dann mit der Revision gerügt werden, wenn die in der Revisionsbegründung geltend gemachten, den Verfahrensmangel enthaltenden Tatsachen zu beweisen sind. Das ist leichter, wenn die maßgeblichen Tatsachen aus einem bei den Akten befindlichen Schriftstück hervorgehen. Zwar genügt für den Nachweis der Tatsachen revisionsrechtlich der Freibeweis. Aber es hat schon die unerfreulichsten Diskussionen darüber gegeben, ob eine mündliche Äußerung des Verteidigers in der Hauptverhandlung gemacht wurde oder nicht, wenn sie nicht im Protokoll festgehalten wurde. Dem geht man aus dem Wege, wenn auch z.B. die Mitteilung des Namens und der Anschrift eines bis dahin unbekannten Zeugen schriftlich erfolgt.
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Um die Vernehmung eines bestimmten Zeugen zu erzwingen, kann der Hinweis des Verteidigers genügen: „Da war noch jemand dabei, der auch alles gesehen hat, nämlich der Nachbar meines Mandanten Fritz Schulze.“
Ob dieser Satz einem anderen Zeugen während dessen Vernehmung vorgehalten wird, ob er im Rahmen des Erklärungsrechtes (§ 257 Abs. 2 StPO), ob er im Schlussvortrag unter „Verletzung“ des Grundsatzes, dass sich das Plädoyer eigentlich nur mit der durchgeführten Beweisaufnahme zu befassen hat oder ob er in einem Vorgespräch mit dem Vorsitzenden ausgesprochen wurde, ist völlig gleichgültig. In jedem Falle setzt er das Gericht davon in Kenntnis, dass es noch einen Zeugen gibt, der über das Tatgeschehen aus eigener Wahrnehmung etwas berichten kann.
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Es sind auch Gründe denkbar, diesen Satz nicht in der Hauptverhandlung auszusprechen. Dann genügt es, an das Gericht einen Brief zu schreiben folgenden Inhalts:
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Beispiel:
„In der Strafsache …. wird hiermit aktenkundig gemacht, dass bei dem Herrn X vorgeworfenen Tatgeschehen noch eine in der Anklage nicht erwähnte Person zugegen war, nämlich der in der unmittelbaren Nachbarschaft des Herrn X wohnende Zeuge Fritz Schulze, Schulstraße 4 in Düsseldorf.“
Der Richter, der einen solchen Schriftsatz bekommt, wird sicherlich fragen: Was soll das? Was soll ich damit anfangen? Was will der Verteidiger? Soll nun Fritz Schulze als Zeuge vernommen werden oder nicht?
Der Verteidiger wird die Antwort auf diese Fragen dann nicht gleich im Schriftsatz mitteilen, wenn das Wissen des Zeugen um die Tatsache seiner Benennung durch den Beschuldigten (oder „seinen“ Anwalt) dessen Wahrheitsliebe beeinträchtigen könnte. Zu denken ist beispielsweise an den Fall, dass jener Nachbar Fritz Schulze derjenige ist, der in einer Wirtshausschlägerei den ersten Schlag geführt hat, dass jedoch der Mandant befürchtet, jede auch nur andeutungsweise von ihm in den Prozess eingebrachte Beschuldigung gegen diesen Nachbarn werde ihn aus Rache dazu bringen, mit einer wahrheitswidrigen Aussage alles auf den Angeklagten zu schieben, während eine von Erwartungen freie Vernehmung des sensiblen Herrn Schulze dazu führen kann, dass er von seinem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch macht. Daraus dürfen dann für den Angeklagten günstige Schlüsse gezogen werden.[11]
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Die informatorische Aktualisierung der richterlichen Aufklärungspflicht ohne formelles Petitum kann mit informellen Erklärungen und Erläuterungen verbunden werden. Bewährt hat sich in solchen Fällen das Gespräch mit dem Gerichtsvorsitzenden und dem Staatsanwalt mit der „internen Offenlegung“ der Gründe für dieses Vorgehen.
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Beispiel:
„Herr/Frau … (Mandant(-in)) befürchtet, dass der Zeuge … ihm übel nehmen wird, wenn er erfährt, dass wir ihn benannt haben. Möglicherweise kommt man ja auch ohne ihn aus. Aber das möchte ich gerne dem Gericht überlassen…“
In Fällen, in denen es dem Verteidiger nicht darum geht, schon in der ersten Instanz nur Revisionsgründe zu sammeln, hat diese Verfahrensweise den Vorzug, dass er als ein Verhandlungspartner akzeptiert wird, der auf „Fallenstellerei“ verzichtet und gleichwohl stets die Interessen seines Mandanten im Auge hat.