Kitabı oku: «Der Seelenwexler», sayfa 2

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2.

«Der Typ brachte mich fast zur Weissglut», sagte Zangger und nahm einen Schluck. Der Grüne Veltliner, den Seidenbast eingeschenkt hatte, schmeckte frisch und pfeffrig.

«Du bist ferienreif, Lukas», meinte Seidenbast. «Oder muss ich sagen: ausgebrannt?» Er schaute seinen Freund besorgt an.

Zangger winkte ärgerlich ab.

«Deshalb nervt er dich so», fuhr Seidenbast fort. Er klopfte die Asche von seiner Zigarette. Aus Rücksicht auf Zangger, der dem Rauchen vor ein paar Jahren abgeschworen hatte, blies er den Rauch zur Seite statt geradeaus.

Seidenbast wohnte nur ein paar Schritte von Zanggers Praxis und Seminar entfernt im Zürcher Götterquartier. In jenem Geviert entlang der Neptun- und Minerva-, zwischen Merkur- und Jupiterstrasse im Stadtteil Hottingen, in dem Psychiater zuhauf praktizierten. Einen Jour fixe hatten sie nicht, Zangger klopfte einfach hie und da nach seiner letzten Konsultation bei Seidenbast an. Wenn dieser zuhause war, bekam er ein Glas Weisswein vorgesetzt, das Seidenbast neu in sein Sortiment aufgenommen hatte, und leerte seinen Kropf. Für Zangger hatten diese Gespräche beinahe den Wert einer Supervision, obschon sein alter Freund kein Profi war. Seidenbast führte im Seefeld ein Buchantiquariat, dem eine Weinboutique angegliedert war. Buch&Wein hiess der Laden. In Zanggers Augen besass sein Freund eine unglaubliche Intuition. Mit der Zeit hatte er gelernt, den mal unangenehmen, mal wohltuenden Wahrheiten, die Seidenbast ihm auftischte, etwas abzugewinnen.

«Er ist aber auch wirklich ein Ekel», fuhr Seidenbast fort.

«Nicht wahr?», sagte Zangger. Er war darauf gefasst gewesen, dass Seidenbast ihm einen Vorwurf machte. Dafür, dass er sich über einen aufregte, der wegen Problemen zu ihm kam. «Das finde ich auch.»

«Dann sags ihm.»

Und jetzt die kalte Dusche, dachte Zangger, ich hätte es wissen müssen. «Das liegt nicht drin», sagte er.

«Du traust dich nicht, heisst das.»

«Kann sein», gab Zangger zu.

«Vielleicht wäre es aber heilsam», gab Seidenbast zu bedenken. Er vertrat wie gewohnt die Ansicht, dass Wahrhaftigkeit die richtige Medizin sei. Dem Kunden reinen Wein einschenken, so lautete seine Devise, und die galt seiner Überzeugung nach auch für einen Psychiater.

Zangger hatte seinem Freund von den Knüttls erzählt, die zur Ehetherapie kamen und heute ihre vierte Sitzung gehabt hatten. Er hatte Seidenbast den Versicherungsagenten Knüttl beschrieben, der seine Frau auf eine perfide Art vor ihm demütigte. Herr Knüttl mimte den fürsorglichen Ehemann, der für die Schwierigkeiten seiner Frau Verständnis hatte und ihr ihre Schwächen nachsah. In Tat und Wahrheit schulmeisterte er sie ständig auf herablassende Weise. «Bitte sei ehrlich, Liebling», säuselte er, sobald sie etwas sagte, das ihm nicht passte. «C’est le ton qui fait la musique, weisst du», war sein Kommentar, als sie sich darüber beklagte, dass, was immer sie sage, seinen Ärger auslöse. «Es braucht immer zwei», belehrte er sie von oben herab, als sie ihm vorwarf, er breche bei jeder Gelegenheit einen Streit vom Zaun. Zangger war bemüht, eine einigermassen erträgliche Atmosphäre herzustellen. Er zog sämtliche Register. Umsonst. Zeigte er Verständnis für den ehelichen Konflikt, so verbat sich Herr Knüttl jede Gefühlsduselei. Blieb er sachlich und korrekt, so vermisste Herr Knüttl die Empathie in seinen Worten. Versuchte er es mit Humor, so verlangte Herr Knüttl ernst genommen zu werden. Machte er psychologische Überlegungen, so erklärte Herr Knüttl, damit könne er nichts anfangen. Nahm Zangger aber die Frau in Schutz, dann weiteten sich Frau Knüttls Augen vor Schreck: Ihm wurde klar, dass sie befürchtete, für seine Stellungnahme büssen zu müssen. Zangger vermutete, dass der Mann in den eigenen vier Wänden ein Tyrann war, dass er seine Frau vielleicht sogar schlug. Dass sie es aber niemandem zu sagen wagte.

«Trinkt er?», fragte Seidenbast.

«Nein, aber er raucht.»

«Na und?»

«Ich meine», sagte Zangger, mit einem raschen Blick auf Seidenbasts Zigarette, «er riecht penetrant. Nicht nur Tabakrauch, er verströmt auch sonst einen strengen Geruch. Vielleicht bin ich zu empfindlich, aber mich ekelt er fast.»

«Sagte ich doch: Er ist ein Ekel. Und das muss ihm irgendwann einer sagen», doppelte Seidenbast nach. «Und zwar du, Lukas, wenn es sonst keiner tut. Weisst du, was ich glaube?», fragte er und fuhr gleich selber fort: «Er hat längst eine andere. Die Ehetherapie ist bloss ein Alibi. Er will mit reiner Weste dastehen. Als derjenige, der nichts unversucht liess. Er will seine Frau bei dir deponieren.»

«Deponieren?»

«Jawohl. Er sorgt dafür, dass sie schon in Obhut eines Therapeuten ist, wenn er sie sitzen lässt. Das erspart ihm Scherereien, wenn es so weit ist.» Damit war Seidenbasts Analyse dieses Paarproblems fürs Erste beendet. «Hattest du heute nur unangenehme Klientel?», wollte er wissen.

«Nein. Vor der Mittagspause hatte ich einen Neuen. Mit dem gabs keine Probleme. Im Gegenteil, der gefiel mir irgendwie.»

Seidenbast hob eine Braue. «Er gefiel dir? Was hat er denn?»

«Weiss ich noch nicht.»

«Krank?»

«Das war nicht mein Eindruck. Früher stotterte er, aber das hört man kaum noch.»

«Wieso braucht er dann einen Psychiater?», fragte Seidenbast maliziös. «Hatte er etwa eine schwere Kindheit?» Er kannte Zanggers Aversion gegen diese Formel.

«Genau das hat er gesagt», bestätigte Zangger verblüfft, aber mehr sagte er nicht.

Als Erstes hatte Caduff erzählt, er wolle bald heiraten. Es gebe in seiner Vergangenheit jedoch einige dunkle Stellen, die er vorher ausleuchten wolle. Wissen Sie», hatte er weiter gesagt, und dabei zu Boden geblickt, «ich hatte eine schwere Kindheit.»

Schwere Kindheit?, wunderte sich Zangger, diese Floskel passt ganz und gar nicht zu ihm. Er wurde dem jungen Mann gegenüber innerlich eine Spur reservierter. Caduff hatte sich zu Beginn der Stunde offenherzig und unverkrampft gezeigt. Wenn einer sich selbst eine schwere Kindheit attestierte, suchte er, das war Zanggers Erfahrung, in aller Regel Mitleid. Oder Absolution. Für eigenes Ungenügen oder Fehlverhalten nämlich. Oft klang es in Zanggers Ohren so, als ob einer sich mit seiner schweren Kindheit schmücken wollte. Wie mit einem Kriegsorden. Wer «schwere Kindheit» sagte, der signalisierte, dass er an seinem Elend festhalten wollte. Dass er keine Veränderung, keine Entwicklung suchte. Sondern Nachsicht. Oder Schonung.

«Erzählen Sie», sagte Zangger. Er hoffte, Caduff würde den Eindruck, den er eben gemacht hatte, korrigieren. Das tat er denn auch: Als er erzählte, wie er seine Mutter habe sterben sehen. Es sei ein Unfall gewesen, sagte er. Und er habe ihn verursacht. Als Kind.

Er sei, erzählte Caduff, auf dem Traktor gesessen, rechts neben dem Fahrersitz, ein Knirps von acht Jahren. Zwischen zwei Handgriffen, die auf dem Schutzblech über dem grossen Rad montiert waren. Extra für ihn.

Mutter sitze am Steuer. – Er mache Kapriolen, statt sich an den Griffen festzuhalten.

Mutter heisse ihn aufhören. – Er höre nicht auf.

Mutter löse die rechte Hand vom Steuer und packe ihn am Kragen. – Er schlage um sich.

Mutter lasse das Lenkrad los und versuche, ihn richtig zwischen die Haltegriffe zu setzen.

Der Traktor gerate über den Wegrand hinaus. Das Gelände sei steil an dieser Stelle.

Er falle vom Traktor, erschrecke gewaltig. Stehe schreiend wieder auf. Mit einem Loch im Kopf, aber das merke er erst später.

Er höre die Mutter kreischen. Er sehe, wie sich der Traktor überschlage und die Mutter unter sich begrabe. Es poltere und krache.

Er renne zu ihr, den Abhang hinunter. Sie röchle.

Mamma!, schreie er, Mamma, wach auf! Sie röchle nur.

Er kraxle wieder hoch, in Panik.

Er renne nach Hause, rufe den Vater.

Der sehe seinen blutenden Kopf und wolle zuallererst wissen, was er angestellt habe.

Die H-h-handgriffe l-losgelassen, wimmere er.

Tgutg!, schimpfe der Vater und verpasse ihm eine Ohrfeige. Und wo die Mutter sei, frage er dann.

U-unter dem Traktor, sie sei ganz w-w-weiss im Gesicht. Sie habe N-nasenbluten, schluchze er, und aus dem O-o-ohr blute sie auch.

Atemlos kämen sie beim Traktor an. Der Motor laufe noch, die Räder drehen sich in der Luft.

Die Mutter röchle nicht mehr.

Tgutg!, brülle der Vater und verprügle ihn ein weiteres Mal.

Zangger war es bei der Geschichte kalt den Rücken hinuntergelaufen. Das ist keine Schwere-Kindheit-Macke, das ist ein echtes Trauma, hatte er gedacht. Nicht die Prügel, aber die Mutter sterben sehen. Was muss der Knabe für Schuldgefühle gehabt haben! Die können einen lebenslang begleiten. Mich erstaunt bloss, dass aus ihm ein Sonnyboy geworden ist.

«Wie alt ist er?», wollte Seidenbast wissen.

«Ende zwanzig, Anfang dreissig. Ein Charmeur und ganz dein Typ», schmunzelte Zangger. Hin und wieder musste er auf das Einsiedlerleben seines Freundes anspielen.

«Wie kommst du denn darauf?», fragte Seidenbast. «Er ist ja nicht einmal halb so alt wie ich.»

«Eben. Dir gefallen doch junge, gut aussehende Kerle.»

«Ja, ja», meinte Seidenbast, als ob ihn das Thema langweile. «Aber nur intelligente, mit dummen kann ich nichts anfangen.»

«Das weiss ich. Ein junger, gut aussehender, intelligenter Typ. So einer ist er.»

«Gebildet?»

«Gut möglich.»

«Du machst mich neugierig. Ein bisschen neurotisch darf er übrigens schon sein. Das macht mir nichts aus.»

Ich weiss, dachte Zangger, und liess Seidenbasts Verflossene in der Erinnerung Revue passieren. Seidenbasts Freunde waren mindestens zehn, später eher zwanzig oder mehr Jahre jünger gewesen als er selbst. Er hatte stets charmante, extravertierte und etwas verrückte Freunde gehabt. Alle hatten Seidenbast für seinen scharfen Verstand und seine Bildung bewundert, aber keiner hatte sich davon einschüchtern lassen. Seidenbast hatte sich immer über beide Ohren in den gerade aktuellen Adonis verliebt. Und umgekehrt waren die Kerle auch regelrecht in ihn verknallt gewesen, wenigstens für eine gewisse Zeit. Für Zangger war es bis anhin ein Rätsel geblieben, was Seidenbast für junge Männer so anziehend machte. Immer wieder machten ihm blendend aussehende junge und nicht mehr ganz junge Typen den Hof. Kellner in einem Gourmetlokal, Buchhändler oder junge Künstler, die ihn auf einer Vernissage umschwärmten. Gewiss, Seidenbast sah nicht schlecht aus: Er hatte silbergraues, kurz geschnittenes Haar, einen diskret gebräunten Teint, und hinter den randlosen Brillengläsern funkelten wache schwarze Augen. Er war immer tadellos gekleidet, auch wenn er nur Hose und Hemd trug. Seine Sachen waren aus den feinsten Stoffen perfekt geschnitten. Manche fanden, er sehe aus wie ein älterer Filmstar, eine Mischung aus Gary Cooper und Clint Eastwood: männlich, etwas unnahbar und geheimnisvoll.

Sich selber, da machte Zangger sich nichts vor, hätte er höchstens mit Fernandel vergleichen können. Mit Don Camillo, gross gewachsen, eher unförmig und etwas ungelenk. Mit Pferdegebiss. Und mit Bauch, obschon er sich mit Waldläufen abrackerte. Dazu eine Stirnglatze, die sich schon ziemlich ausdehnte.

Mit seinem letzten Freund, seinem einzigen wirklichen Lebenspartner, Sven, hatte Seidenbast fast zehn Jahre zusammengelebt. Die beiden hatten sich auf dem Standesamt registrieren lassen, als dies in Zürich möglich geworden war. Sven war bald darauf an Immunschwäche gestorben. Und seither war Seidenbast keine Liaison mehr eingegangen. Zangger konnte sich vorstellen, dass er hin und wieder eine Affäre hatte, aber Seidenbast hatte nie etwas dergleichen gesagt. Und aus irgendeinem Grund hatte Zangger ihn bisher nicht danach gefragt.

«Kannst du mich mit ihm bekannt machen?», fragte Seidenbast sachlich.

Zangger war sich nicht sicher, ob sein Freund es ernst meinte. Er gab keine Antwort.

«Dann eben nicht», sagte Seidenbast. «Aber Spass beiseite. Etwas ist faul an der Geschichte.»

«Was?»

«Er will dich um den Finger wickeln.»

«Kann schon sein», meinte Zangger. «Das versuchen schliesslich viele. Es gehört zu meinem Beruf, unbewusste Manipulationen zu erkennen und aufzudecken.»

«Ich meine bewusst, nicht unbewusst. Er führt dich ganz bewusst an der Nase herum, das spüre ich irgendwie.»

«Was du nicht sagst», lachte Zangger.

«Wie heisst er?»

«Also bitte, ich nenne doch keine Namen.»

«Jetzt tu nicht so. Bloss den Vornamen, den willst du ja auch wissen, wenn dir ein Supervisand einen Patienten vorstellt.»

«Na gut, Gion heisst er.»

«John? Ein Ami?», forschte Seidenbast weiter.

«Wieso?», fragte Zangger zurück. Dann begriff er, aber er fühlte sich nicht verpflichtet, den Irrtum aufzuklären. «Nein. Und jetzt sage ich kein Wort mehr.»

«Doch, sag mir eins», lachte sein Freund. «Wann geht es los? Wann fliegt ihr nach Afrika?»

«Überhaupt nicht», erwiderte Zangger. «Wir fahren nach Schottland.»

«Nach Schottland? Wie kommt denn das?»

«Tina will einfach nicht nach Afrika. Ein für allemal nicht, sagt sie.»

«Wieso eigentlich nicht?»

«Ich weiss nicht. Ein Vorurteil. Oder vielleicht hat sie Angst. Wie auch immer, schliesslich überzeugte sie mich von Schottland. In sechs Wochen geht es los.»

«Für wie lange?»

«Den ganzen Juni. Oder ein, zwei Wochen länger.»

«Das ist die beste Zeit für Schottland. Ich beneide dich.»

«Ich habe die Pause auch dringend nötig.»

«Sage ich ja. Ausgebrannt, wie du bist. Kommen die beiden Jungs mit?»

«Nein, die Zeiten sind vorbei.»

«Dann also Honeymoon mit Tina?»

Schön wärs, dachte Zangger. «Ich hoffe es», sagte er und kniff ein Auge zu.

«Wer schaut zu deiner Schule? Und wer zur Praxis?»

Ein Seminar werde er noch halten, sagte er, für das folgende habe er einen Gastdozenten eingeladen, danach beginne die Sommerpause. Seinen Patienten werde er für den Notfall die Adressen zweier Kollegen angeben. Dann kehrte er den Spiess um: «Und du, Marius? Wie gehts eigentlich dir?»

Seidenbast sagte, er wolle nicht klagen. Mit dem Alleinsein sei er noch immer nicht glücklich, aber das Geschäft laufe besser als je. Zangger packte die Gelegenheit beim Schopf, und noch ehe Seidenbast übers Geschäft reden konnte, fragte er:

«Lachst du dir denn nie einen Lover an?»

Seidenbast sah ihn nachdenklich an. Zangger hatte eine witzige Antwort erwartet.

«Das geht nicht mehr wie früher», sagte er schliesslich.

Ach, komm, wollte Zangger schon sagen, ich sehe doch, wie dich die jungen Kerle anhimmeln. Aber er liess es bleiben. Eine oberflächliche Aufmunterung war jetzt nicht das Richtige.

«Natürlich könnte ich in der Szene einen aufgabeln», fuhr Seidenbast fort. «Für eine Nacht. Aber ich bin kein grosser Szenegänger. Nie gewesen, das weisst du. Und überhaupt ist mir nicht nach Affären zumute.» Er blickte zum Fenster hinaus und sagte lange nichts. Dann sah er Zangger an und fragte: «Weisst du eigentlich, was du an Tina hast?»

Wieso fragt er das?, dachte Zangger.

«Ich sehne mich nach Liebe, weisst du», sprach Seidenbast weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. «Nach Zweisamkeit. Nach einer Beziehung. Wie mit Sven. Aber so etwas gibt es kein zweites Mal», sagte er und schwieg.

Es dünkte Zangger, Seidenbast sei den Tränen nah. Ist er depressiv?, dachte er. Habe ich es bloss nicht gemerkt?

«Wie gesagt», fuhr sein Freund fort und gab sich einen Ruck. Zangger war klar, dass er nicht weiter über das Thema reden wollte. «Ich beklage mich nicht, und das Geschäft läuft wirklich wie geschmiert.»

Vor vielen Jahren war Seidenbast, weil er mit dem Buchantiquariat in die roten Zahlen geraten war, von der Kirchgasse ins Seefeld gezogen. Das Quartier war damals noch nicht sehr in gewesen. Seit er die Weinboutique eröffnet hatte, florierte der Laden. Aber die Arbeit beginne ihm über den Kopf zu wachsen, erklärte er, und wenn es so weitergehe, werde er bald Angestellte brauchen.

«Du und Angestellte?», witzelte Zangger, «Marius Seidenbast als Chef? Als CEO von Buch&Wein?»

Seit Jahr und Tag hatte Seidenbast ein «Mädchen für alles»: eine energische siebzigjährige Frau, eine Perle, die ihm den Laden schmiss. Frau Preisig schloss morgens das Geschäft auf und leerte an der Höschgasse das Postfach. Sie packte Bücher ein und öffnete Weinkisten. Sie füllte Regale mit Büchern und Flaschen, wedelte den Staub von den Buchrücken und spülte die Degustationsgläser. Sie sorgte für Ordnung und Sauberkeit und hatte den Blick für das Ganze. Seidenbast selber war für das Geistige zuständig, den Inhalt von Flaschen und Büchern. Seidenbast und Frau Preisig waren ein seltsames Gespann. Sie sah immer, was zu tun war, und nie hörte man Seidenbast ihr eine Anweisung geben. Die Perle war im Laden fast unsichtbar, und die allermeisten Kunden hätten geschworen, Seidenbast mache alles selber. Die Vorstellung, in Buch&Wein von jemand anderem als von Seidenbast persönlich beraten oder bedient zu werden, wäre für viele gewöhnungsbedürftig gewesen. Seidenbast als Chef, als Vorgesetzter, der andern sagte, was sie zu tun hatten, das konnte sich Zangger einfach nicht vorstellen.

«Wenn das nur gut geht», seufzte er.

«Du bist bloss neidisch», lachte Seidenbast, «weil du nur einen Einmannbetrieb führst.»

Als Psychiater brauchte Zangger tatsächlich keine Praxishilfe. Er nahm die Patienten selber in Empfang, und was es an Schreibarbeiten zu erledigen gab, hätte eine Sekretärin nie und nimmer ausgelastet. Die Schule für Psychotherapie, die er in den Räumen seines Praxishauses führte, war klein, aber fein und nicht zu vergleichen mit den grossen Instituten Freudscher, Jungscher oder anderer Richtung. Er hatte sie vor bald zwanzig Jahren vom alten Professor Glanzmann übernommen. In Zanggers Seminar, wie die Ausbildungsstätte unter Insidern jetzt hiess, wurden Ärzte und Psychologen zu Psychotherapeuten ausgebildet. Mit den Jahren hatte Zangger ein Team von Lehrtherapeuten zusammengestellt, die im Auftragsverhältnis für ihn unterrichteten. Die Hälfte der Seminare bestritt er selber, die übrigen hielten seine Gastdozenten. Die administrative Arbeit, die damit verbunden war, beschränkte er auf ein Minimum und konnte sie deshalb gut allein erledigen.

«Ja, ja», lachte Zangger. «Ich bin bloss neidisch.»

Nach dem Schwatz bei Seidenbast setzte er sich in seinen alten Chevy, den er in einer Seitenstrasse geparkt hatte. Er drehte das Seitenfenster mit der Handkurbel herunter und gondelte gemächlich durch das Götterquartier, dann fuhr er stadtauswärts. Tina und er würden aller Voraussicht nach allein zu Abend essen. Tom traf sich mit seiner Freundin und blieb vermutlich über Nacht weg. Mona hatte angekündigt, sie werde nicht da sein. Vor einem halben Jahr hatte Zangger sie aus der Mansardenwohnung im Dachgeschoss seiner Praxis schmeissen müssen. Sie hatte dort mit zwei dubiosen Figuren eine WG betrieben. Die drei hatten im Dachgeschoss wie Vandalen gewütet. Die Mansarden mussten dringend renoviert werden. Tina und er hatten nicht verhindern können, dass Mona wieder ins Elternhaus einzog, statt sich selbständig zu machen. Kürzlich hatte sie versichert, sie habe ein Studio gefunden und werde Ende des Monats ausziehen. Tina und er hatten es mit Erleichterung gehört. Sie konnten bloss nicht sicher sein, ob Mona die Ankündigung auch wahr machte. Claudia wohnte seit ein paar Jahren mit ihrem Freund in Dübendorf. Und Fabian, Toms Zwillingsbruder – einen Kopf kleiner als dieser, aber, was Schule und Studium anging, ihm immer mindestens ein Jahr voraus –, stand kurz davor, für ein Auslandsemester nach Montpellier zu reisen.

Hinter der Forch nahm Zangger die gewohnte Ausfahrt und bog nach zwei, drei Kilometern in die kleine Strasse ein, die bei dem alten, vor Jahren umgebauten Bauernhaus am Waldrand endete.

3.

Zangger verabschiedete einen jungen Kollegen. Vor seinem Sprechzimmer sass schon der neue Patient, der heute seine zweite Sitzung hatte.

«Augenblick, Herr Caduff. Bin gleich so weit.»

«Kein Problem. Ich weiss, ich bin zu früh», sagte Caduff. «Bei Ihnen geht es Schlag auf Schlag», meinte er, schob die Unterlippe vor und nickte bewundernd. «Da gibt ein Patient dem nächsten die Tür in die Hand.»

Zangger hätte Caduff einfach zustimmen können. Aber es juckte ihn, die Sache richtigzustellen: «Das war kein Patient, das war ein Supervisand.»

«Ein super was?»

«Ein Psychiater und Psychotherapeut, genau wie ich. Wir besprechen berufliche Fragen.»

«Ach so, Supervisand», lachte Caduff. «Dann sind Sie Supervisor?»

«So ist es.»

«Alles klar», sagte Caduff und lachte ihn an. «Jetzt machen Sie aber ruhig Kaffeepause. Ich habe Zeit.»

Ein klein wenig ärgerte es Zangger, dass Caduff erraten hatte, was er erledigen wollte. Er stieg die Treppe hoch und bereitete sich in der Seminarküche einen Espresso zu. Er nahm das Tässchen, ging damit auf die kleine Terrasse hinaus, auf der sonst seine Studenten Pause machten, und setzte sich auf einen der Gartenstühle.

Gar nicht unsympathisch, der junge Mann, dachte er. Mir ist bloss noch nicht klar, was er eigentlich will. Unter grossem Leidensdruck scheint er nicht zu stehen. Trotz seiner schlimmen Geschichte.

Zangger leerte das Espressotässchen, ging hinunter und bat seinen Patienten ins Sprechzimmer.

Caduff fiel gleich mit der Tür ins Haus. Er müsse lernen, zu seinen Fehlern zu stehen, statt sie zu verschweigen, zu beschönigen oder abzustreiten. Oder Dinge zu erfinden, bloss um besser dazustehen. Ein Kindheitsmuster, das er sich zum Schutz vor seinem jähzornigen und gewalttätigen Vater angeeignet habe.

«Um ehrlich zu sein: Ich bin ein Schwindler», fasste Caduff zusammen. «Nicht immer, aber meistens.»

«Was Sie nicht sagen», sagte Zangger. In einem Ton, als habe sein Patient etwas Bewundernswertes von sich preisgegeben. Dann machte er ein nachdenkliches Gesicht. «Da sind Sie bei mir aber an den Falschen geraten.»

«Ach ja?», machte Caduff. «Merken Sie sofort, wenn einer lügt?»

«Im Gegenteil», erwiderte Zangger. «Ich merke es nie.»

«Ach, kommen Sie! Sie sind doch Psychiater.»

«Schon. Aber ein leichtgläubiger.»

«Nehmen Sie mich auf den Arm?»

«Nein. Es ist so: Ich glaube jedes Wort, das man mir sagt. Man kann mich leicht hereinlegen.»

«Wirklich? Das ist aber gar nicht gut.»

«Ich weiss. Aber ich gehe immer davon aus, dass das, was mir einer sagt, stimmt. Ich kann nicht anders», erklärte Zangger.

«Nun», meinte Caduff, «das ist ja auch Ihr Job.»

«Eben», bestätigte Zangger.

«Wie können Sie mir helfen?»

«Keine Ahnung. Wahrscheinlich überhaupt nicht.»

Caduff machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl.

«Könnten Sie nicht einen Versuch mit mir machen?»

«Einen Versuch schon. Begrenzt auf zehn Sitzungen. Und unter einer Bedingung.»

«Klar: dass ich Sie nicht anlüge.»

«Nein. Dass Sie mir in jeder Stunde sagen, was Sie mir in der vorhergehenden vorgeschwindelt haben.»

Caduff sah ihn verdutzt an.

«Einverstanden», sagte er dann und lehnte sich zurück.

«Wir fangen gleich an», fuhr Zangger fort. «Stimmen die Angaben auf dem Anmeldebogen, den Sie letztes Mal ausgefüllt haben?»

«Warten Sie», sagte Caduff. Er schien das Papier in der Erinnerung noch einmal durchzugehen. «Da ist eine Kleinigkeit: Mein ganzer Vorname ist Gion-Gieri.»

«Kein Problem. Und was von dem, was Sie mir aus Ihrem Leben erzählt haben, stimmt nicht?»

«Das mit den Heiratsplänen», sagte Caduff sofort. «Das war Angeberei. Ich bin noch nicht einmal verlobt.»

«Aber Sie haben eine Freundin?»

«Ja.»

«Schön. Wie heisst sie?», fragte Zangger weiter. Nicht inquisitorisch, bloss neugierig und interessiert. «Mit Vornamen, meine ich.»

«Ähm …», Caduff zögerte. Er schien sich nicht im Klaren zu sein, ob er ihren Namen nennen wollte. «Nicole», sagte er dann.

«Auch Studentin?»

«Nein, Hotelpraktikantin. Im Schweizerhof.»

«Und heiraten will sie Sie nicht?»

«Ehrlich gesagt», grinste Caduff, «habe ich sie noch gar nicht gefragt.»

«Alles zu seiner Zeit, nicht wahr? Und Ihre Mutter?»

«Meine Mutter?», fragte Caduff erschrocken zurück.

«Ich meine, stimmt die Geschichte mit Ihrer Mutter?»

Die Frage schien Caduff die Sprache zu verschlagen. Er schaute Zangger mit grossen Augen an.

«Die mit dem Traktor?», doppelte Zangger nach.

Caduffs Augen blickten durch Zangger hindurch. Er wirkte wie weggetreten.

Epileptische Absenz?, dachte Zangger. Dissoziative Störung?

Es dauerte nur zwei Sekunden. Caduff kam zu sich.

«Was war jetzt gerade?», wollte Zangger wissen.

«Wie?», fragte Caduff zurück. «Nichts.»

Zangger schwieg eine Weile und sah seinen Patienten ruhig an. «Stimmt die Geschichte?», wiederholte er dann seine ursprüngliche Frage. «Mit Ihrer Mutter? Mit dem Traktor?»

Wieder sah ihn Caduff verwundert an.

«Ja, die stimmt», sagte er schliesslich. Er schluckte.

Im ersten Augenblick hatte Zangger seine Frage fast bereut. Jetzt stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass die Antwort eine eigenartige Reaktion in ihm auslöste: Er fühlte sich erleichtert. Aber er wusste, dass er Caduff, was dessen kurze geistige Abwesenheit anging, im Auge behalten musste.

«Und was ist mit Ihrem Vater?»

«Meinem Vater? Den kenne ich nicht. Oder meinen Sie den alten Caduff?»

Zangger hob fragend die Hände.

«Was mit ihm ist? Er ist ein Schwein», sagte Caduff. «Und Gott sei Dank tot.» Er schwieg lange, dann sagte er leise: «Er triebs mit den Schafen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und auch mit mir», murmelte er. «Im Stall, wenn Schafe und Kühe auf der Weide waren. Zuerst ausmisten und dann …»

Er verstummte und sah Zangger ins Gesicht.

Es schauderte Zangger. Selbstverständlich würde er Caduff später wieder auf diesen widerlichen Missbrauch ansprechen. Aber jetzt wollte er ihm dazu keine Fragen stellen. Er hatte den Eindruck, dass das zu viel wäre. Er stellte ihm stattdessen die eine oder andere biografische Frage. Caduff erzählte von der Tante, die an Mutters statt für ihn gesorgt habe, bis er fünfzehn oder sechzehn war. Vom Geständnis, das der Alte herausgeschrien habe, wie einen Fluch: dass er gar nicht sein Vater sei. Vom Muni und den blutdurchtränkten Stallhosen.

Erneut lief es Zangger kalt den Rücken hinunter.

Dann von der Familie seines Vormunds weiter unten im Tal, bei der er für kurze Zeit gelebt habe, ehe er ins Internat der Klosterschule Disentis habe eintreten können. Von der kaufmännischen Lehre auf der Bündner Kantonalbank in Ilanz, die er, die Matura im Sack, absolviert habe, um rasch Geld zu verdienen. Vom Auszug aus der Surselva nach Chur und – zwei, drei Jahre später – nach Zürich. Von seiner Anstellung bei der Bank Wittmann, die er gekündigt habe, und vom Informatikstudium, das ihm sehr zusage. Schliesslich von MacMax, bei dem er ein bisschen Geld verdiene, um sein Studium zu finanzieren.

Gegen Ende der Sitzung besprach Zangger mit ihm die Modalitäten der Behandlung. Dass Caduff es vorzog, in den Vormittagsstunden zu kommen, erstaunte Zangger etwas.

«Es gibt noch etwas, Herr Caduff, und zwar …»

«Eine Hausaufgabe, nicht wahr?», fiel ihm sein Patient ins Wort. «Ich habe gehört, dass man Ihre Sprechstunde nicht ohne eine Hausaufgabe verlässt. Was ist es?»

«Ein Tagebuch. Ich bitte Sie, ein Tagebuch zu führen.»

«Ein Tagebuch?», meinte Caduff enttäuscht.

«Ein Lügenjournal.»

«Oh. Ich verstehe.»

«Gut», sagte Zangger. «Sie führen über alle Ihre kleinen und grossen Lügen Buch, und zwar tagtäglich. Angenommen, Sie schwindeln heute Ihren Chef an oder Ihre Freundin, einen Freund oder Polizisten, spielt keine Rolle, dann gehört das ins Tagebuch. Auch wenn es nur eine kleine Notlüge war.»

«Alles klar», bestätigte Caduff.

«Noch etwas, Herr Caduff», fuhr Zangger fort.

Er trug ihm auf, sich bei jedem kleinen oder grossen Schwindel nach seinen Motiven zu fragen: War es Prahlerei? Hoffte er auf Bewunderung? Fürchtete er, jemanden zu enttäuschen, wenn er die Wahrheit sagte? Steckte die Angst, einen Fehler zugeben zu müssen, hinter seiner Lüge? Diente sie dazu, eine alte zu vertuschen? Diese Dinge solle er, wenn er darauf eine Antwort finde, ins Lügenjournal schreiben.

«Gut, ja.»

«Dann prüfen Sie innerlich nach, ob Sie sich Ihrer Lüge schämen oder nicht. Auch das halten Sie im Tagebuch fest.»

«Ob ich mich schäme?», wiederholte Caduff erstaunt. «Okay, ich – ich verstehe.»

«Damit das klar ist: Das Tagebuch dient nur therapeutischen Zwecken. Nur Sie und ich werden darin lesen.»

«Muss ich es in die Sitzung mitbringen?»

«Vorläufig nicht», sagte Zangger.

Einstweilen wolle er nur wissen, ob er ihn, seinen Psychiater, angeschwindelt habe. Für alle übrigen Schwindeleien sei er nicht ihm, sondern seinem Lügenjournal Rechenschaft schuldig. Zu einem späteren Zeitpunkt würden sie es dann gemeinsam unter die Lupe nehmen.

Caduff sah Zangger ins Gesicht und nickte.

«Es gibt noch ein organisatorisches Problem, Herr Caduff», sagte Zangger. Er teilte seinem Patienten mit, dass seine Praxis Ende Mai für sechs Wochen geschlossen sein werde.

«Das macht mir nichts aus», sagte Caduff. «Verreisen Sie?»

«Jawohl», sagte Zangger.

«Wohin, wenn ich fragen darf.»

«Nach Schottland.»

«Oh! Lachs fischen? Oder Single Malts?», fragte Caduff neugierig weiter. «Eine Whiskytour?»

Zangger zögerte eine Sekunde. Er war eher zurückhaltend mit Auskünften über seine persönlichen Angelegenheiten. Aber er hatte es nie zum Prinzip gemacht, Privates um jeden Preis auszuklammern.

«Fischen kaum», erwiderte er. Single Malts schon eher, dachte er, aber das wollte er dem jungen Patienten nicht unter die Nase reiben. «Eher trekken.»

«Wer organisiert das? Reise-Fischlin?»

Zangger fand Caduffs Fragerei zwar etwas unverfroren, gleichzeitig aber auch sympathisch unbeschwert. Er beschloss, so lange zu antworten, als er Lust darauf hatte.

«Wir reisen immer auf eigene Faust.»

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