Kitabı oku: «Der Seelenwexler», sayfa 3

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«Wir? Heisst das Sie und Ihre Frau?»

«Ja», sagte Zangger. Und freiwillig fügte er hinzu, er wusste selber nicht, wieso: «Mit einem alten VW-Camper.»

«Wow! Etwa mit einem California?»

«So ähnlich. Westfalia heisst das Modell. Baujahr 1972.»

«Oh, ein Westfalia? Das ist der Vorgänger des California, nicht wahr? Mit Aufstelldach?»

«Genau.»

Zangger staunte nicht schlecht, dass diesem jungen Mann der VW-Camper Modell Westfalia ein Begriff war. Das Vehikel war ja einiges älter als Gion Caduff selber. Zangger war in seinem Alter und auch noch Single gewesen, als er das unverwüstliche Gefährt – damals schon ein Gebrauchtwagen – gekauft hatte. Er war mit dem hellgrünen Camper durch die Sahara gefahren, hatte ihn auf abenteuerlichen Wegen wieder nach Hause gebracht und war später mit Tina damit nach Spanien und Portugal gereist. Für Familienferien war der VW-Camper natürlich zu klein gewesen. Sie hatten ihn nur noch sporadisch gebraucht und irgendwann eingemottet. Denn verkaufen oder verschrotten kam nicht in Frage. Vor ein paar Jahren, als Claudia ihre Fahrprüfung ablegte, machten sie ihn wieder flott. Claudia verbrachte mehrere Male Camperferien mit ihrem Freund, im Engadin und im Tessin, und einmal reiste sie mit ihm ans Nordkap. Fabian später mit Louis nach Barcelona. Tom mit seiner Clique an die Côte d’Azur. Mona verabscheute das Fahrzeug, für sie war es Sinnbild einer spiessigen Welt. Es war Tinas Idee gewesen, den alten Camper für eine mehrwöchige Reise nach Schottland instand stellen zu lassen. Sie kannte ihren Pappenheimer und zählte darauf, dass Zangger auf einer Camperreise am ehesten abschalten und sich erholen würde. Es war ein Kompromiss gewesen, denn Zangger hatte einmal mehr für Afrika plädiert, Tina für eine Donauschifffahrt mit Opernbesuchen. Nachdem er Bilder von den Low- und den Highlands und den Hebriden gesehen hatte, liess Zangger sich umstimmen.

«Dann haben Sie ja einen richtigen Oldtimer», meinte Caduff. «Hält er denn noch durch?»

Nun war es um Zangger geschehen. Das Reisefieber packte ihn, und obschon er eigentlich gar nicht hatte davon reden wollen, plauderte er weiter.

«Der hat es durch die Sahara geschafft, über sämtliche Alpenpässe und kreuz und quer durch Europa. Da wird er Schottland auch noch schaffen. Auch wenn er unendlich viele Kilometer auf dem Zähler hat. Wir fahren nach Calais und nehmen die Fähre nach Dover», fuhr er fort. Und bald hatte er seinem Patienten die Reiseroute skizziert, die er mit Tina zurückzulegen gedachte, mit allen Stationen zwischen Edinburgh und den Western Highlands.

«Sie würden aber lieber nach Afrika reisen, nicht wahr, Herr Zangger?», meinte Caduff. Er schaute ihm dabei direkt in die Augen. Zangger war sprachlos.

4.

Heute war ein Retrotag: einer der Tage, an denen Zangger von Kindheitserinnerungen eingeholt wurde, ohne dass er es wollte. Die Retrotage häuften sich in letzter Zeit. Er stand im Snow-n-Sand, um sich für Schottland einzukleiden. Kleiderkaufen war für ihn schon immer ein Greuel gewesen. Als Kind hatte es ihn nie gereizt, seiner Mutter beim Nähen und Schneidern zuzusehen – viel schöner fand er es, wenn sie einen Kuchen buk –, und wenn er sie zur Schneiderin oder in einen Hutladen begleiten musste, ödete es ihn an. Es roch in diesen Ateliers nach gar nichts, und die langweilige Stille, die darin herrschte, war irgendwie bedrückend. Nicht zu vergleichen mit einer Bäckerei oder einer Schreinerei. Selbst der Milch- und Käseladen dünkte ihn aufregenderes Territorium. Mutter setzte sich einen Hut auf und fragte Lukas, wie er ihm gefalle. Er gefiel ihm überhaupt nicht, denn er sah ganz anders aus als der, den sie zuhause hatte. Dann einen andern und wieder einen, bis er behauptete, der, den sie jetzt auf dem Kopf habe, gefalle ihm. Nur um der Warterei ein Ende zu machen. Den kaufte sie aber nicht, sondern entschied sich für den allerersten. Einmal zupfte er aus purer Langeweile und Zappeligkeit sämtliche Stecknadeln und Fäden aus einem Kostüm heraus, das, provisorisch zusammengesteckt, an einer Schneiderbüste hing. Das Kostüm landete, in seine Einzelteile zerlegt, auf dem Fussboden. Die Schneiderin tat ganz aufgeregt, und fortan war Lukas von solchen Begleitgängen dispensiert. Ging es um Kleider für ihn selber, so sagte ihm das keinen Deut mehr zu. Die Zanggers mussten zwar nicht jeden Rappen, aber sicherlich jeden Franken umdrehen. Mutter schneiderte die Kleider selber, aber manchmal ging man zur Knabenschneiderin: wenn es besonders gute Hosen sein mussten. Die waren aber nicht etwa aus feinem, sondern aus robustem Stoff, Manchester, gefertigt, und Hannes und Georg mussten sie austragen, wenn sie Lukas nicht mehr passten. Stundenlang, so kam es ihm vor, musste er sich gedulden, bis Mutter alle Stoffe gesehen und in die Finger genommen hatte. Wurde er gefragt, welcher ihm gefalle, und zeigte er auf den beigen, so beschieden ihm die Frauen, der sei zu heikel. Der braune gefalle ihm doch bestimmt auch. Er schüttelte den Kopf, aber die Hosen wurden aus dem braunen Stoff geschneidert. Das Resultat, die fertigen Hosen, interessierte ihn dann sowieso nicht besonders. Hosen waren für ihn Hosen, morgens zum An- und abends zum Ausziehen. Nur einmal hatte er sich brennend für Mode interessiert, mit fünfzehn. Da hatte er die fixe Idee, dass ein Bursche in einem Dufflecoat umwerfend aussehe. Er war überzeugt, dass dieser neumodische kamelbraune Mantel mit Knebeln anstelle von Knöpfen einen buchstäblich unwiderstehlich mache. Besonders, wenn man dazu ein Halstuch, nein, einen wollenen shawl trug. Mit Schottenmuster, rot mit grün-schwarzem Karo. Er hatte in der Illustrierten einen Jüngling mit dieser Ausstattung abgebildet gesehen. Lukas hatte sich auf Weihnachten einen solchen «Chlüpplisack» gewünscht. Seine Eltern hatten ihren Ohren nicht getraut, aber sie hatten ihm den Wunsch erfüllt. Bloss war dann die Wirkung bei weitem nicht so durchschlagend gewesen, wie er sich eingebildet hatte. Das heisst, eigentlich war sie vollständig ausgeblieben, und so war es mit Lukas Zanggers Interesse an der Herrenmode rasch wieder vorbei gewesen.

Zangger konnte nichts gegen solche Erinnerungen tun, er wollte auch gar nicht. Es waren wehmütige, angenehm schmerzliche Seelenzustände. Wie eine Fussmassage, die weh- und zugleich guttat.

«Du trauerst deiner Jugend nach», war Seidenbasts Kommentar gewesen, als er ihm einmal von seinen Retrotagen erzählte. «A la recherche du temps perdu.»

«Vielleicht», erwiderte Zangger. Er mochte es nicht besonders, wenn sein Freund ihn analysierte. Und er wollte keinen Vortrag über Marcel Proust hören.

«Das alte Lied», sagte Seidenbast damals, unerwartet nachsichtig. «Wer könnte es nicht singen, wenn er einmal so alt ist wie wir?»

«Du sagst es.»

Sie schwiegen beide eine Weile.

«Die perfekte Methode, die Gegenwart zu verpassen», lautete Seidenbasts nüchterner Schluss.

Zangger hatte sich fast gerüffelt gefühlt.

Aber es stimmte: Auch jetzt hätte er vor lauter Kindheitserinnerungen beinahe die Gegenwart verpasst. Er gab sich einen Ruck. Denn das hier war etwas anderes. Nicht Herrenmode stand heute auf dem Programm, sondern Trekkingausstattung. Da war keine Kleiderverkäuferin, die Zangger einredete, dieses oder jenes Modell stehe ihm vorzüglich. Kein Verkäufer, der ihn belehrte, man trage es heute so, wenn er fand, die Hose sei zu weit oder die Jacke zu eng. Nein, beraten wurde Zangger von seinen Söhnen.

«Nimm die», meinte Fabian, nahm seinem Vater den moosgrünen Lumber aus der Hand und reichte ihm eine signalrote Goretexjacke. «Mut zur Farbe», war sein Kommentar. «Und damit man dich findet», lachte er, «wenn du irgendwo abstürzt.» Der Pfadfinder in der Familie riet ihm zu Funktionsunterwäsche, einem Fleece, das er auch unter der Windjacke tragen konnte, und einem Paar Regenhosen.

Tom war für die technischen Dinge zuständig. Er legte grossen Eifer an den Tag, Zangger vom Segen der modernen Elektronik zu überzeugen. Ohne Erfolg. Er hatte gehofft, seinen Vater endlich zum Kauf eines Handys bewegen zu können. Zangger wollte nach wie vor keines. Auch keinen Reiseradiowecker mit weltweitem Kurzwellenempfang. Und kein Solarladegerät.

«Aber deinen Laptop nimmst du doch mit?», vergewisserte sich Tom.

«Bestimmt nicht», sagte Zangger, «ich mache Ferien.»

«Du bist wirklich ein Dinosaurier, Pa.»

«Wie meinst du das? Als Kompliment?»

«Vom Aussterben bedroht, das meine ich. Unfähig, dich den neuen Lebensbedingungen anzupassen.»

Zangger lachte. Er liebte diese Frotzeleien. Er fühlte sich gleich ein bisschen jünger. Aber Tom setzte eine besorgte Miene auf.

«Ich weiss nicht, Pa», meinte er und wiegte den Kopf. «Ohne Kommunikationstool auf ein Trekking? Es geht zwar nur nach Schottland, aber auf den Caledonia Hilltreks seid ihr tagelang unterwegs, weit ab von der nächsten Strasse oder Siedlung. Stimmt doch, oder?»

Zangger gab ihm recht.

«Und das ohne Handy? Das ist doch verantwortungslos.»

Verantwortungslos, dachte Zangger, das sagt sonst der Vater zum Sohn.

«Nimmt Ma wenigstens ihres mit?», wollte Tom wissen. «Wer weiss», wog er dann ab, «vielleicht habt ihr nicht einmal Empfang. Ihr solltet ein Walky-Talky kaufen, für den Fall, dass ihr euch aus den Augen verliert.»

Die Fürsorglichkeit seines Sohns rührte Zangger. Auf das Walky-Talky ging er trotzdem nicht ein. Dafür kaufte er die Halogenstirnlampe, die ihm Tom empfohlen hatte. Auch den neuen Leatherman mit Kombizange und Schere, denn gegen Mechanik hatte er nichts einzuwenden. Bei der Campingtischlampe blieb er stur. Das batteriebetriebene LED-Gerät kam nicht in Frage, da würde er lieber die alte Petroleumlampe wieder ausgraben.

Zangger hatte nicht mehr oft Gelegenheit, mit seinen Söhnen in die Stadt zu gehen. Umso mehr genoss er den Anlass. Nach dem Einkauf im Snow-n-Sand lud er sie, wie in früheren Zeiten, zu einem Hamburgerfrass ein. Mona wäre entsetzt gewesen, aber den drei Männern schmeckte der Junkfood wie ein Gourmetmenü. Danach schlenderten sie durchs Niederdorf. Tom drehte sich nach jeder hübschen jungen Frau um. Umgekehrt, das nahm Zangger mit einem gewissen Stolz wahr, zogen die ungleichen Brüder die Blicke der jungen Mädchen auf sich. Wenn er früher mit seinen Töchtern, die ein paar Jahre älter waren als die Zwillinge, auf einem Stadtbummel gewesen war, hatte er es weniger entspannt erlebt: Die flanierenden Männer hatten Claudia mit begehrlichen Augen gemustert, aber von Mona hatte keiner Notiz genommen. Und das hatte, wer immer dabei war, über kurz oder lang büssen müssen. Man musste sich jederzeit darauf gefasst machen, dass Mona auf offener Strasse oder im Restaurant eine hässliche Szene veranstaltete, die Mutter beschimpfte und sich unter Getöse davonmachte. Oder die Schwester vor den unbekannten Verehrern verhöhnte. Dass sie selber mit ihrem Gesichtsausdruck und ihrer Aufmachung alles dazu beitrug, auf Ablehnung statt auf Sympathie zu stossen, das hatten ihr Tina und Zangger umsonst klar zu machen versucht.

Vor der Condomeria blieben die Burschen stehen und sahen sich, ohne Rücksicht auf ihren Vater, die Auslagen an.

«Brauchst du etwas?», neckte Fabian seinen Bruder. «Ich hols dir, wenn du dich nicht rein traust.»

Tom versetzte ihm mit dem Ellbogen einen Puff.

Sie gingen weiter.

Ein Mann trat aus einem Haus. Den kenne ich doch, dachte Zangger. Es war Herr Knüttl. Zangger hatte es sich abgewöhnt, als Erster zu grüssen, wenn er nicht sicher sein konnte, ob das der andern Person willkommen war. Denn Patienten wollten in der Öffentlichkeit lieber nicht von ihrem Psychiater gegrüsst oder gar angesprochen werden. Er hatte deshalb gelernt, die Sekunde zu warten, die es dem andern erlaubte, so zu tun, als habe man sich gar nicht gesehen. Herr Knüttl hatte Zangger sehr wohl gesehen, denn seine Augen verrieten einen leisen Schreck und er fuhr mit der Hand blitzschnell über seinen Hosenladen. Eine Reflexbewegung, die er selber vermutlich nicht wahrnahm. Er tat, als habe er Zangger nicht gesehen. Zangger war es recht. Aha, dachte er, Seidenbast hat den Nagel wieder einmal auf den Kopf getroffen: Knüttl hat bereits eine andere, eine von der käuflichen Sorte. Aber länger mochte er sich nicht mit ihm befassen. Leid tut mir nur seine Frau, dachte er noch, dann schob er den unerfreulichen Fall beiseite.

Durchs Oberdorf schlenderten sie zum Bellevue weiter. Zangger wäre bei dem frühsommerlichen Wetter gern mit seinen Söhnen auf der Seepromenade spazieren gegangen. Die beiden wollten aber lieber ins Kino. Nach der Vorstellung genehmigten sie sich eine Bratwurst, die sie im Stehen verdrückten, dann verabschiedeten sich die beiden mit einer nonchalanten Handbewegung für den Rest des Abends von ihm. Er sah ihnen nach. Stolz, ein wenig wehmütig und ein kleines bisschen neidisch. Das alte Lied, dachte er. A la recherche du temps perdu.

5.

Auf einem der Stühle im Vestibül vor Zanggers Sprechzimmer sass eine junge Frau. Sie blickte auf, als Phil herauskam. Er spürte sofort, dass er ihr gefiel. Er genoss diese halb erschreckten, halb staunenden Blicke von Frauen. Sie hatte blaue Augen und einen nicht eben unschuldigen Blick. Volles, blondes, nackenlanges Haar und einen frischen Teint.

Schwedin, dachte er.

Er sah sie eine Spur intensiver an, als es der Wartezimmersituation entsprochen hätte, gab aber Acht, dass in seinem Blick nichts Anzügliches war. Er grüsste sie höflich und ging an ihr vorbei hinaus. Draussen schien die Sonne. Er fand, die Arbeit bei MacMax könne warten. Er setzte sich auf die Bank neben dem Brunnen im kleinen Park gleich neben Zanggers Praxis. Nach einer Stunde kam die Frau – in Bluejeans und weisser Jacke, einen Herrenhut auf dem Kopf – heraus und nahm den kleinen Fussweg quer durch den Park. Sie war weniger hoch gewachsen, als er sich vorgestellt hatte, und etwas molliger. Tolle Figur, dachte er. Als sie Phil erblickte, lächelte sie überrascht. Er sagte Hallo, und als sie, keine fünf Meter von ihm entfernt, ihren Schritt verlangsamte, rückte er ein wenig zur Seite und deutete neben sich auf die Bank. Sie blieb stehen, zögerte eine Sekunde und kam dann näher.

«Hat er Sie in die Mangel genommen?», fragte er.

Sie setzte sich neben ihn.

«Ach, es geht», lachte sie. «Und Sie?»

«Easy», lachte Phil zurück.

«Easy Therapiestunde?» S-Tunde, sagte sie.

Dänin, dachte er, nicht Schwedin.

«Nicht Therapie», erwiderte er. «Supervisionsstunde. Doktor Zangger ist mein Supervisor. Ich bin sein Supervisand.»

Die junge Frau machte grosse Augen.

«Dann sind Sie selber Psychotherapeut», stellte sie fest. «Oder Psychiater?»

«Beides», sagte er und erklärte ihr bereitwillig den Unterschied, den sie bislang nicht ganz begriffen hatte. Da sie danach fragte, sagte er ihr, er arbeite in der Psychiatrischen Universitätsklinik.

«Könnte ich Sie notfalls dort anrufen?», fragte sie, nachdem sie ihn eine ganze Weile von der Seite her angesehen hatte. «Doktor Zangger schliesst vorübergehend seine Praxis. Für mehrere Wochen, das wissen Sie ja selber. Man weiss nie, ob man nicht plötzlich jemanden braucht. Und wenn Sie sein Supervisand sind, arbeiten Sie vermutlich gleich wie er.»

«Das stimmt. Nur, zurzeit bin ich im Urlaub. Eine wissenschaftliche Studie, wissen Sie. Darum kann ich es mir leisten, hier zu sitzen», sagte er lachend.

«Gut für Sie. Und im Notfall?», wollte sie wissen. «Wären Sie erreichbar?»

Für den Notfall gab er ihr seine Handynummer.

«Danke», sagte sie und tippte die Nummer in ihr eigenes Handy ein. «Sie sind Doktor …?»

«Ach was», wehrte er ab. «Lassen Sie den Doktor. Wexler ist mein Name, Phil Wexler.»

Wexler hatte der Postbote in der Talschaft Lugnez geheissen. Ernesto Wexler, ein Zugewanderter mit Zigeuneraugen, der den Frauen im Tal den Kopf verdrehte. Phil war einmal zum Schluss gekommen, dass er sein leiblicher Vater sein könnte. Er hatte sich deshalb berechtigt gefühlt, seinen Namen zu führen, wenn es ihm in den Kram passte. Als Maturand hatte er sich einen Schülerausweis auf den Namen Filippo D. Wexler gebastelt. Als seine Mitschüler davon Wind bekamen, trug ihm das einen Spitznamen ein: Pippo. Er hatte nichts dagegen gehabt, im Gegenteil. Pippo gefiel ihm weit besser als sein Taufname. In Zürich schien ihm Phil jedoch passender zu klingen.

«Linda Larsson», erwiderte sie. «War nett, mit Ihnen zu plaudern. Ich muss weiter», sagte sie und erhob sich. Sie zögerte, und für einen Augenblick sah es aus, als wolle sie ihm die Hand reichen. «Auf Wiedersehen», sagte sie dann bloss. «Und viel Erfolg.»

«Erfolg?»

«Mit Ihrer Studie.»

«Ach so, danke.»

Phil winkte ihr lässig nach.

Dann schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn. Teufel auch!, dachte er. Schon wieder!

Er zog ein schwarzes Wachstuchheft aus der Jacke, die neben ihm auf der Bank lag. Er hatte sich vorgenommen, Zanggers Anweisungen strikt zu befolgen. Er hatte Zangger denn auch gleich zu Beginn der heutigen Stunde gesagt, dass das mit Nicole nicht stimme. Dass er gar keine Freundin habe. Sondern ihn, Zangger, angeschwindelt habe, weil er ihn nicht ein zweites Mal habe enttäuschen wollen, nachdem er ihm schon die Angeberei mit den Heiratsplänen hatte eingestehen müssen.

Jetzt notierte er die Begegnung mit Linda Larsson, und was er ihr vorgeflunkert hatte, in sein Heft. Als Motiv nannte er: Eindruck machen. Es blieb noch die Frage nach der Scham. Phil brauchte nicht lange zu überlegen. Nein, trug er ins Tagebuch ein. Er schämte sich keine Spur. Im Gegenteil, es machte ihm Spass. Er schloss das Heft, versorgte es in der Jacke und schickte sich an zu gehen.

Da sah er Zangger aus der Praxis kommen. Er zog die Haustür hinter sich zu, setzte seinen Hut auf und ging durch den winzigen Vorgarten auf die Strasse hinaus. Abrupt blieb er stehen, griff in seine Manteltasche, ging zum Haus zurück und schloss die Tür ab. Dann öffnete er das Zeitungsfach unter dem Briefkasten und langte hinein. Jetzt trat er wieder auf die Strasse und eilte davon.

Ich glaubs nicht!, dachte Phil. Versteckt er dort den Praxisschlüssel? Er erhob sich, schlenderte zum Haus hinüber, drückte pro forma auf die Klingel und tat, als warte er darauf, eingelassen zu werden. Dann öffnete er das Zeitungsfach und tastete die Wände des Fachs ab. An der oberen Innenwand fühlte er den kleinen, magnetischen Behälter, löste ihn mit einem Ruck von der Blechwand und steckte ihn ein. Zum nächsten Mister Minit waren es keine zehn Minuten zu Fuss. Unterwegs zog Phil den Behälter aus seiner Hosentasche und öffnete ihn. Gewöhnlicher alter Kaba, stellte er fest, kein codierter. Das geht. Der Mann an der Mister-Minit-Theke besah sich den Schlüssel genau. Dann setzte er sich an seine Maschine. Die Anfertigung des Nachschlüssels dauerte keine drei Minuten. Phil versorgte das Original im Behälter und steckte die Kopie in sein Portemonnaie. Dann spazierte er zurück, deponierte den Behälter mit Zanggers Hausschlüssel, wo er ihn gefunden hatte, und machte sich auf den Weg zu MacMax.

Er schaute nach, ob dringende Dinge auf ihn warteten, aber viel gab es nicht zu erledigen. Linda Larsson ging ihm während der ganzen Zeit nicht aus dem Kopf. Die Frau gefiel ihm. Sie gefiel ihm noch besser als Nicole.

Tja, Nicole, dachte Phil. Er war noch zwei-, dreimal in den Schweizerhof gegangen – nicht zum Frühstück, das wäre zu gewagt gewesen – und hatte nach der niedlichen Praktikantin Ausschau gehalten. Einmal war er nachmittags, als einziger männlicher Gast unter lauter älteren Damen, die ihn unverhohlen musterten und diskrete Signale aussandten, zum Afternoon Tea gegangen. Nicole war tatsächlich dort gewesen und hatte ihn bedient. Er hatte nicht den Eindruck gewonnen, dass sie ihn wiedererkannte. Das hatte ihn ein klein wenig gekränkt. Er hatte den Studenten, nicht den Hotelgast, gemimt und hatte eine ganze Weile mit ihr geplaudert. Missbilligend hatten die Damen rundum in ihren Teetassen gerührt. Er hatte Nicole die Würmer aus der Nase gezogen und einiges über sie erfahren. Sie war erst achtzehnjährig. So gern er sich unter anderen Umständen auf sie eingelassen hätte, ein unerfahrenes Mädchen kam jetzt nicht in Frage. Dafür musste man sich Zeit nehmen, und die hatte er leider nicht. Er hatte deshalb beschlossen, auf weitere Aktionen zu verzichten und das schöne Kind abzuschreiben.

Linda gehörte in eine andere Liga. Sie brauchte er auch nicht in einem Hotel aufzuspüren. Er konnte sie ganz einfach nach ihrer Therapiestunde bei Zangger abfangen. Oder darauf warten, dass sie ihn anrief.

Die muss ich ins Bett kriegen, dachte er. Die koche ich weich, wenigstens für einen One-Day-Stand. Denn Night lag vorderhand nicht drin. Er hatte schon eine ganze Weile keine Freundin mehr gehabt. In den vergangenen sechs, sieben Monaten hatte er weiss Gott keine Gelegenheit gehabt, eine kennen zu lernen, geschweige denn, eine abzuschleppen. Er musste sich mit regelmässigen Abstechern nach Oerlikon behelfen. Die Girls an der Langstrasse waren ihm zu billig, diejenigen in Unterstrass und Wollishofen zu teuer. Eine feste Freundin wäre ihm aber lieber gewesen.

Um fünf schob Phil seine American Express Card zusammen mit Zanggers Praxisschlüssel an ihren Platz und klemmte das vor zwei Wochen eröffnete Lügenjournal unter der Schublade fest. Diese Dinge konnte er nicht gut in sein derzeitiges Logis mitnehmen. Im Bahnhof Hardbrücke kaufte er sich zwei Zeitschriften, «Psychologie Heute» und den Spiegel, der eine Serie über moderne Psychotherapieverfahren brachte. Er dachte keinen Augenblick daran, die Magazine mitzunehmen ohne zu zahlen. Der gelegentliche Tagi-Klau war mehr Sport als Notwendigkeit, und wegen einer gedankenlos unter den Arm geklemmten Zeitung würde man ihm schon keinen Strick drehen. Aber bei einem richtigen Ladendiebstahl erwischt zu werden, konnte er sich zurzeit ganz und gar nicht leisten.

In seinem Logis legte sich Phil auf die Pritsche und sah an die Zellendecke hinauf. Er neigte nicht zum Hadern. Im grossen Ganzen vermied er es, über sein Leben nachzudenken. Ein Psychiater hatte einmal zu ihm gesagt, er sei ein Meister im Verdrängen. Na und? Er schmiedete eben lieber Zukunftspläne als über die Vergangenheit zu grübeln, die er ohnehin nicht ändern konnte. Er war mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden. Auch wenn ein paar Dinge dumm gelaufen waren. Das mit seiner Mutter zum Beispiel und das mit dem alten Caduff, doch darüber wollte er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Die Sache, deretwegen er jetzt acht Monate sitzen musste, hätte eine Erfolgsstory werden können. Doch der Crash hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Reines Pech. Sein Chef bei der Bank Wittmann hatte gefunden, er habe Talent, und hatte ihn energisch gefördert. Bald liess er Phil die Depots einiger vermögender Privatkunden verwalten. Einer hielt grosse Stücke auf ihn und liess ihm in der Bewirtschaftung seines Portfolios freie Hand. Phil hatte ihm nämlich einmal eine Hightechaktie und einen EmergingMarkets-Fonds empfohlen, die beide innert Wochen um vierzig Prozent gestiegen waren. Das hatte dem Kunden gewaltig imponiert. Dass Phil kurz darauf auf dessen Depot fast Zweihunderttausend Verlust einfuhr, konnte man ihm bestimmt nicht ankreiden. Das war die Börse gewesen, hätte jedem passieren können. Nur hatte er dummerweise die Idee gehabt, seinem Mandanten den Verlust zu verschweigen. Er wollte ihn nicht beunruhigen. Über Wochen und Monate vertröstete er ihn mit optimistischen Prognosen, schickte ihm beschönigte Depotauszüge und auch sonst nicht ganz einwandfreie Dokumente. Derweil spekulierte er mit den in seinem Depot verbleibenden Werten weiter. Einzig in der Absicht, den erlittenen Verlust wettzumachen. Er hoffte die ganze Zeit, nein, er war absolut überzeugt, dass er seinem Mandanten schliesslich einen fetten Gewinn werde präsentieren können. Denn die Anerkennung dieses Kunden war Balsam für seine Seele. Er hatte bei ihm das Image eines gewieften Börsencracks, und das wollte er auf keinen Fall verlieren. Wie hätte der Kunde sich gefreut, wenn sich der Wert seines Depots verdoppelt hätte! Dumm gelaufen war es dann bloss insofern, als am Schluss nichts mehr übrig blieb, womit er hätte spekulieren können. Resultat: Totalverlust, mehr als zwei Millionen Franken. Betrug war es nicht, das bestätigte man ihm vor Gericht ausdrücklich. Er hatte keinen Franken in die eigene Tasche abgezweigt. Selbst der Staatsanwalt staunte: «Sie hatten ja nicht einmal etwas davon. Wieso tun Sie denn so etwas?» Nun, im psychiatrischen Gutachten stand etwas von Geltungsdrang. Vielleicht auch von Geltungssucht. In einem späteren Gutachten, das wegen der anderen Sache in Auftrag gegeben worden war, hiess es, er leide an gelegentlichen dissoziativen Zuständen. Einerlei, er wurde bloss wegen Urkundenfälschung und ähnlichen Delikten verurteilt. Und zwar zu einer bedingten Haftstrafe. Ausserdem wurde ihm eine Psychotherapie aufgebrummt. Dummerweise passierte ihm während der Bewährungsfrist die andere Panne: Er schlug einem, der ihn einen Hurensohn schimpfte, die Nase ein. Der Richter hätte ihm eine weitere bedingte Strafe auferlegen können. Aber er stufte ihn als unverbesserlich ein, ortete Rückfallgefahr und verweigerte ihm den bedingten Vollzug. So musste er jetzt eine Gesamtstrafe von zwölf Monaten absitzen. Gottseidank bloss in Halbgefangenschaft. Die Psychotherapie konnte deshalb ambulant erfolgen. Irgendwann würde er Zangger um einen wohlwollenden Bericht bitten. Ein Drittel der Strafe würde ihm bestimmt erlassen werden, denn er hielt sich im Knast vorbildlich. Toggweiler würde ihm bestimmt das allerbeste Zeugnis ausstellen.

Diese Perspektive vor Augen, widmete sich Phil in seinem kurzen Rückblick anderen erfreulichen Dingen in seinem Leben. Zum Beispiel der Sache mit seiner American Express Card. Die durfte er mit Fug und Recht als ein Geschenk des alten Herrn Zulauf betrachten. Er hatte ihn wie gewohnt in dessen Cadillac an den Vierwaldstättersee chauffiert. Sie liessen sich auf dem Bürgenstock einen gepflegten Lunch servieren, unternahmen zusammen einen kleinen Spaziergang und genehmigten sich danach Kaffee und Kuchen und ein Gläschen Cream Sherry. Phil bezahlte im Speisesaal und im Salon des Parkhotels, im Souvenirshop und an der Tankstelle mit Zulaufs Karte und unterschrieb auch gleich für ihn. Das entsprach zwar nicht ganz dem Auftrag, den er ein Jahr zuvor von Zulaufs Sohn entgegengenommen hatte. Doch Herrn Zulauf senior war Phils Hilfestellung durchaus recht. «Machen Sie das, bitte», bat er ihn mehrmals. «Wissen Sie, ich zittere so.» Zuerst lehnte Phil ab, und Herr Zulauf unterzeichnete mit Müh und Not den Zettel. Einmal aber fiel Phil auf, dass der alte Herr mit «Zauflauf» unterschrieb. Ein paar Wochen später konnte der Greis seinen Namen nicht mehr buchstabieren und nach einem weiteren Monat wusste er nicht einmal mehr, wie er selber hiess. Es blieb Phil gar nichts anderes übrig, als in Zulaufs Namen für die Belastungen von dessen Kreditkarte zu unterschreiben. Denn Bargeld trug der Alte auf Anweisung seines Sohnes keines auf sich. Zulaufs Namenszug nachzuahmen war keine Kunst. Als sie zum letzten Mal vom Bürgenstock in die Altersresidenz am obern Zürichsee zurückkehrten und in Zulaufs luxuriösem Apartment ankamen, sagte dieser: «Behalten Sie das, das ist für Sie.» Und damit drückte er Phil die Kreditkarte, die dieser ihm zurückgeben wollte, wieder in die Hand. Zusammen mit einer Tafel Schokolade, die er auf seinem antiken Sekretär für ihn bereitgelegt hatte. Wenig später erreichte Phil die Nachricht, Herr Zulauf sei ins Pflegeheim Morgenthal verlegt worden und Herr Caduffs Dienste würden vorläufig nicht mehr benötigt. Das Morgenthal verdankte seinen Ruf der Pflege von Alzheimerkranken. Zulaufs Sohn residierte in Monte Carlo und kam nur sporadisch in die Schweiz zu Besuch. Ob er sich noch um die Angelegenheiten seines Vaters kümmerte und ob der alte Herr überhaupt noch am Leben war, wusste Phil nicht. Auf alle Fälle hatte es bei seinen gelegentlichen Einkäufen mit Zulaufs American Express Card bis anhin keine Probleme gegeben.

Phil stand von seiner Pritsche auf, ging ein paar Mal in seiner Zelle auf und ab und setzte sich an den kleinen Tisch vor dem vergitterten Fenster. Er nahm «Psychologie Heute» zur Hand und blätterte es durch. Der Artikel über Stresshormone und Depression interessierte ihn nicht besonders. Derjenige über Neues zur Menopause noch weniger. Da fand er den Beitrag im Spiegel über Tantrische Sexualität schon anregender. Den Test «Sind Sie ein guter Liebhaber?» würde er am Wochenende machen, da musste er jeweils viel Zeit totschlagen.

In sechs Wochen, das stand fest, würde er draussen sein. Dann wäre Schluss mit den brasilianischen Girls, die konnte er sich gar nicht mehr leisten. Dann würde er eine Freundin haben. Und die würde Linda heissen. Da brauchte er natürlich eine eigene Wohnung. Um sich die leisten zu können, benötigte er einen gut bezahlten Nebenjob, und zwar sofort. War im heutigen Tages-Anzeiger nicht eine Kleinannonce gewesen, die er sich angekreuzt hatte? Er griff nach der Zeitung und schlug sie auf:

«Student oder Doktorand mit EDV-Kenntnissen gesucht. Vielseitige, anspruchsvolle Tätigkeit. Halbtags oder abends. Buch&Wein, das Fachgeschäft im Seefeld.»

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