Kitabı oku: «Bürger und Irre», sayfa 2

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Klaus Dörner

Januar 1995

Vorwort zur zweiten Auflage

1962 fing ich in Berlin an mit den Vorarbeiten zu »Bürger und Irre«. 1967 begann ich mit der Niederschrift des Buches am Vormittag des Tages, an dem Benno Ohnesorg während der Anti-Schah-Demonstration erschossen wurde. In der Folge war ich während des Schreibens aktiv an der antiautoritären Studentenbewegung beteiligt. Die Ereignisse dieser Zeit haben mich beim Schreiben beeinflußt. Als das Buch 1969 erschien, war es nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich ein Produkt dieser Bewegung.

Inzwischen gibt es das Buch in einer italienischen, spanischen und englischen Übersetzung. Es scheint wahrhaft von interdisziplinärem Interesse zu sein; denn es hat mich in Diskussionen verwickelt, nicht nur mit Medizinern und Soziologen, sondern auch mit Psychologen, Pädagogen, Romanisten, Anglisten, Germanisten, Ökonomen, Politikern und Historikern. Schließlich war diese Arbeit über die Entstehung der Psychiatrie hilfreich bei der Entstehung der Psychiatrie-Bewegung in der Bundesrepublik und in Italien.

Gleichwohl ging ich mit einigem Bangen an die Überarbeitung, als mir der Verlag die Absicht mitteilte, eine Neuauflage herauszugeben. Die Studentenbewegung liegt 13 Jahre zurück. Fast ebenso alt ist inzwischen die Psychiatrie-Bewegung. Neue psychiatrie-historische Arbeiten sind inzwischen erschienen. Und ich selbst habe inzwischen ohne Unterbrechung in der Psychiatrie praktisch gearbeitet, habe mich dadurch auch selbst geändert und bin ein Teil des psychiatrischen Versorgungssystems und der Wissenschaft Psychiatrie geworden, die ich damals, nicht gerade zimperlich, vom hohen Roß der Theorie herab beschrieben und beurteilt habe.

Nach Abschluß der Überarbeitung nehme ich es mir heraus, einigermaßen selbstzufrieden zu sein. Zwar mußte die Einleitung über weite Strecken neu geschrieben werden, um die nicht nur theoretische, sondern auch praktische Absicht der Arbeit verständlicher zu formulieren. Mein gestelztes Akademikerdeutsch, das ich mir im Studium mühsam angequält hatte, habe ich an vielen Stellen mit ebensoviel Mühe wieder aufs Alltagsdeutsch heruntergeschraubt. Gedanken neuerer Untersuchungen waren einzuarbeiten. Zahlreiche Streichungen und Ergänzungen waren fällig, da ich mit vielen Einzelheiten nicht mehr einverstanden sein konnte. Das betrifft inhaltlich vor allem drei Fragen, die mir heute aus meiner Praxis heraus wichtiger sind als damals: Erstens die Frage, ob und in welcher Weise Psychiatrie mehr eine medizinische oder eine philosophische Wissenschaft ist, ein Problem, das bei jeder Teamarbeit mit Angehörigen anderer Berufe unabweisbar ist. Zweitens die Frage nach der anthropologischen Orientierung der Psychiatrie, da ich ohne eine solche viele meiner psychiatrischen Alltagshandlungen weder begründen noch rechtfertigen kann. Und drittens die Frage, in welcher Weise ich die Psychiatrie der Zeit des Dritten Reiches als einen Teil meiner Berufsgeschichte insgesamt annehmen kann, eine Frage, die damit verknüpft ist, daß in der Psychiatriegeschichte unterschiedliche Traditionen sich verweben, die den Anderen, den psychisch Kranken, als Feind, als Freund oder als Gegner sehen.

Systematisch unzufrieden war ich mit meiner arroganten Bewertung der daseinsanalytischen und anthropologischen Psychiatrie der Nachkriegszeit. Hier hatte ich damals offenbar zu wenig Abstand, um die Notwendigkeit ihrer Beerbung wahrnehmen zu können. Ich habe im Anhang darüber berichtet und im Text entsprechende Korrekturen angebracht. Im Anhang habe ich auch den Fortgang der Psychiatriegeschichtsschreibung dargestellt. Besonders zufrieden macht mich, daß es mir offenbar damals schon gelungen ist, Aufklärung und Romantik aus einem gegensätzlichen in ein inhaltlich dialektisches Verhältnis zu setzen; denn unzweifelhaft stehen wir in beiden Traditionen, und beide sind gleich wichtig für uns. Diese – wie ich meine – angemessenere Sicht der Romantik war damals noch ungewohnt, beherrscht jedoch heute zu Recht die Diskussion.

Aus diesem und anderen Beispielen habe ich für mich den Schluß gezogen, daß »Bürger und Irre« von seiner Aktualität nichts verloren hat. Die Tatsache, daß es inzwischen zahlreiche Einzeluntersuchungen gibt, die auf meinem Weg weitergehen, bestärkt mich darin.

Solange psychisch Kranke bestenfalls nur den halben Pflegesatz im Vergleich zu körperlich Kranken zugesprochen bekommen, dauert die ungleiche Auseinandersetzung zwischen »Bürgern« und »armen Irren« an.

I. Einführung
1. Absicht der Untersuchung: Selbstaufklärung der Psychiatrie

Seit Einstein und Heisenberg quälen sich die Naturwissenschaftler mit der Frage nach der Legitimität, nach der Berechtigung ihrer Tätigkeit angesichts der grenzenlosen Möglichkeiten, aber auch Gefahren der modernen Naturwissenschaft. Und es ist gut möglich, daß unser aller Leben mehr von der Ehrlichkeit und Stetigkeit dieses »Sich-Quälens« abhängt als von dem sonstigen Tun der Naturwissenschaftler. In diesem Zusammenhang definieren sie die »klassische« Naturwissenschaft als Einzelfall der modernen Naturwissenschaft, stellen Fragen nach der Rolle des Subjekts im naturwissenschaftlichen Kalkül, nach der ethischen Begründung der Machbarkeit des Machbaren, nach ihrer eigenen Geschichte, dem historischen Warum und Wozu ihres Handelns und nach den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingtheiten und Auswirkungen ihrer Arbeit. Kurz, nachdem die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts die Erkämpfung der Eigenständigkeit ihrer Wissenschaft durch Sprengung der Fesseln der Philosophie gefeiert hatten, bemühen sie sich im 20. Jahrhundert um die Wiederherstellung der handlungsorientierenden Bindungen des philosophischen Denkens. Sie quälen sich mit ihrer eigenen Selbstaufklärung.

Die Psychiater bzw. psychiatrisch Tätigen aller Berufe haben allen Anlaß, diesem Beispiel der exakten Naturwissenschaften zu folgen. Gegenüber der »klassischen Psychiatrie« können auch sie von schier grenzenlosen Möglichkeiten – z. B. der Psychotherapie, der Chemotherapie oder der soziotherapeutsch-gemeindepsychiatrischen Lokalisierung von Menschen – sprechen, aber auch von grenzenlosen Gefahren, wenn man nur an die Opfer der Gehirnoperationen seit den 30er Jahren oder der Euthanasieaktionen während der 40er Jahre denkt. Was die Atombombe von Hiroshima für die Physik ist, sind die Gaskammern von H adamar für die Psychiatrie.

Dennoch tun sich die Psychiater schwerer als die Physiker, obwohl es in beiden Fällen um dieselbe Frage geht, die nach der Grenze zwischen erlaubten und unerlaubten Beziehungen zwischen Menschen. Erst in der jüngsten Zeit nimmt die Bereitschaft der psychiatrisch Tätigen zu, sich angesichts der eigenen Geschichte der Aufgabe der Selbstaufklärung zu stellen. Diese Untersuchung möchte die Bereitschaft hierzu fördern, die Bereitschaft, das alltägliche Handeln mit dem Nachdenken über die Wahrheit dieses Handelns zu begleiten.

Die Untersuchung beschäftigt sich nur mit einer der oben angedeuteten lebensnotwendigen Fragen: der Frage nach der Entstehung der Psychiatrie als Institution und Wissenschaft. Angesichts der Tatsache, daß die europäischen Nationen auf einem bestimmten Stand ihrer gesellschaftlichen Entwicklung ein spezielles psychiatrisches Versorgungssystem und eine ebensolche Wissenschaft ausgebildet haben, ist die Frage berechtigt: Warum ist überhaupt Psychiatrie und nicht vielmehr keine Psychiatrie? Es ist dies eine Frage nach dem Grund der Psychiatrie, nach ihren Ursachen, Bedingungen und damit auch nach ihren Aufgaben und ihrem Zweck. Der Titel Bürger und Irre besagt, daß das Verhältnis zwischen den Irren und der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, deren auf die Irren professionell bezogene Stellvertreter die Psychiater sind, erörtert wird. Dabei muß jedoch gleich eingeschränkt werden, daß das Verhältnis zwischen Bürgern und Irren mehr in der Sicht der Bürger bzw. Psychiater und weniger in der Sicht der Irren dargestellt wird, da mir zum Zeitpunkt der Niederschrift der Studie für eine gleichgewichtige Beschreibung des Wechselverhältnisses zwischen Bürgern und Irren die erforderlichen Quellen und methodischen Voraussetzungen noch fehlten. Erst 1980 hat der Historiker Blasius den ersten schüchternen Versuch unternommen, die Geschichte der Psychiatrie aus der Perspektive der Irren, also der Betroffenen darzustellen. Hier wartet noch viel Arbeit. Sind im Selbstverständnis der Psychiater die Irren »Gegenstand« der Psychiatrie, so macht diese Untersuchung immerhin Irre und Psychiater-Bürger zugleich zu ihrem »Gegenstand« und sucht die sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen zu ermitteln, unter denen im Zusammenhang mit der politischen und industriell-kapitalistischen Revolution der bürgerlichen Gesellschaft auch jenes Verhältnis von Bürgern und Irren entstand, das die Institution und Wissenschaft Psychiatrie begründete. In diesem Rahmen lenkt die Untersuchung die Aufmerksamkeit vor allem auf drei Probleme, die ihr ein über den Fall der Psychiatrie hinausgehendes, allgemeines Interesse verleihen könnten. Erstens wird die Dialektik aller modernen Wissenschaft verfolgt, die Dialektik zwischen ihrem Anspruch auf Emanzipation des Menschen als Einlösung des Versprechens der Aufklärung einerseits und ihrer oft entgegengesetzten Wirkung der Rationalisierung, Integration und Kontrollierbarkeit des je bestehenden Gesellschaftssystems andererseits. Zweitens zwingt die Tatsache, daß die Bürger die Psychiatrie gerade zur Domestizierung der armen Irren eingesetzt haben, dazu, in diesem Vorgang auch ein Moment des Klassenkampfes und eine der ersten Lösungen der aufkommenden »sozialen Frage« zu sehen, so daß die Untersuchung nicht nur zur Selbstreflexion der Psychiatrie beiträgt, sondern zugleich über eine bisher vergessene Wurzel und Vorform der Soziologie berichtet. Drittens endlich steht zur Diskussion das Wechselverhältnis von Vernunft und Unvernunft – u. a. als Gesundheit und Krankheit –, in der äußeren Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie in der inneren Ökonomie ihrer Mitglieder.

2. Zum Vorverständnis der Beziehung zwischen Psychiatrie und Soziologie

Thema und Absicht der Untersuchung verlangen es, zugleich sozialhistorisch und soziologisch vorzugehen, wobei Soziologie als historische und vergleichende Disziplin sowie als Wissenschaftssoziologie anzuwenden ist. Da Psychiater und Soziologen – namentlich im deutschsprachigen Bereich – weitgehend verschiedene Sprachen sprechen, mögen einige vorklärende Ausführungen für das gegenseitige Verständnis nützlich sein. Der Leser, dem dies überflüssig erscheint, kann dieses Kapitel ohne großen Verlust überschlagen und bei I, 3 weiterlesen.

Jede der beiden Wissenschaften Psychiatrie und Soziologie hat sich daran gewöhnt, sich auf die begriffliche Autorität der jeweils anderen zu stützen. Wie die Psychiatrie soziologische – besser: epidemiologische, sozialstatistische und sozialfürsorgerische – »Gesichtspunkte« berücksichtigt, so bedienen sich fast alle soziologischen Schulen, namentlich seit Freud, psychiatrischer Begriffe, die vielerorts nachgerade die Analyse in ökonomischen Kategorien ersetzen. Hieraus resultierte für die Soziologie ein bedenklicher Irrtum: sie identifizierte unbesehen Psychoanalyse mit Psychiatrie überhaupt. Verdeckt blieb dabei, daß die Psychoanalyse ein wie immer bedeutendes, aber eher spätes Produkt des zur Zeit Freuds hundert- bis hundertfünfzigjährigen wissenschaftlichen psychiatrischen Denkens ist. Verdeckt blieb die bereits lange in Gang befindliche Ablösung der Psychiatrie von der Philosophie und von der ursprünglich ganzheitlichen Medizin, ähnlich die ebenso problematische Emanzipation der Soziologie von Philosophie und Ökonomie. Diese unhistorische, verengte Sicht leistete einem soziologischen Verständnis der Gesamtrealität der Psychiater Vorschub, das die beiden Symbole, Anstalt und Couch, entweder beziehungslos nebeneinanderstellt oder naiv den Sieg der Couch über die Anstalt feiert.

Warum nun griff die Soziologie zwar die Psychoanalyse, nicht aber die früheren psychiatrischen Ansätze auf? Da ist einmal der Anspruch der Psychoanalyse, eine lückenlose Erklärung menschlichen Leidens (von der Ätiologie bis zur Therapie) möglich zu machen. Sodann sind die Freudschen Begriffe und Sprachbilder deshalb so faszinierend, weil ihr psychologischer Gehalt kaum von anatomischen, physiologischen und neurologischen Vorstellungen1 einerseits, sowie von soziologischen Vorstellungen andererseits zu trennen ist. Dem entspricht methodologisch, daß Freud die Grenze zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, zwischen der Konstruktion zu prüfender Hypothesen und dem hermeneutischen Vorgriff unscharf hält.2 Da alle psychiatrischen Probleme entsprechend der Natur des Menschen nur in dieser doppelten, natur- und geisteswissenschaftlichen Sichtweise zu denken sind, ist dies ein angemessenes Vorgehen, jedoch nur, solange die Spannung zwischen beiden Sichtweisen aufrecht erhalten und nicht um einer scheinbaren Vereinfachung willen zur einen oder anderen Seite hin aufgelöst wird. Diese Gefahr bestand schon bei Freud selbst, da er sich durchaus als naturwissenschaftlich verfahrender Mediziner verstand, und mehr noch bei seinem Zeitgenossen Kraepelin, dem Schöpfer der klassischen psychiatrischen Krankheitssystematik. Es gehört zu den schrecklichsten Versuchungen der Psychiatrie, Meinungen, Wahrnehmungen und Erfahrungen im Umgang mit leidenden Menschen nicht nur zu typisieren, sondern ihnen eine pseudonaturwissenschaftliche Weihe zu geben, die es scheinbar erlaubt, diese Meinungen für die »objektive Realität« zu nehmen. Merkwürdigerweise scheint diese Verführung für Mediziner und insbesondere Psychiater weit größer zu sein als für exakte Naturwissenschaftler. Der Gefahr sind auch nicht so sehr Freud bzw. Kraepelin selbst erlegen als vielmehr ihre Nachfolger. Zwei Beispiele für die Gefahren der Auflösung dieser Spannung: Es sind Annahmen der klassischen Kraepelinschen Psychiatrie (z. B. von der Heilbarkeit bzw. Unheilbarkeit psychischer Krankheiten) gewesen, die vor und während der Zeit des Dritten Reiches für sozialdarwinistische Zielsetzungen die naturwissenschaftliche Legitimation lieferten, so daß die Psychiater, die die Sterilisierungs- und Euthanasie-Aktionen organisierten und durchführten, sich im Recht und im Schutze wissenschaftlicher Wahrheit glaubten.3 Das andere Beispiel: In den USA wurde der naturhaft-biologische Aspekt der Freudschen Psychoanalyse mehr oder weniger hinwegkastriert. So konnte sie nur noch in dieser entschärften Form der »kulturalistischen Schule« (Sullivan, Horney, Thompson, Fromm) auf die Soziologie und namentlich auf deren strukturell-funktionale Theorie wirken. Und in der »Mental Health«-Bewegung verkehrt sich der kritische Impuls Freuds nachgerade in Begeisterung für selbstverantwortliche Anpassung.4

Diese Entwicklung entsprach der einer Soziologie, die ihrerseits zwischen Durkheim, Max Weber und Mannheim einen Prozeß der Repsychologisierung durchlief, sich zur Theorie der zwischenmenschlichen Beziehungen formalisierte und insbesondere in den USA den »subjektiv gemeinten Sinn« mit dem agierenden gesellschaftlichen »System« zu harmonisieren verstand.

So scheint es, daß die Annäherung von Soziologie und nach-Freudscher Psychiatrie um den Preis einer Sichtverengung, der teilweisen Ausblendung von Wirklichkeitsbereichen erfolgte, besonders solcher Bereiche, die der rationalen und sinngebenden Naturbemächtigung den größten Widerstand entgegensetzen. In der Psychiatrie gilt das vor allem für die Psychose-Patienten, die Kerngruppe der früheren »Irren«, für hirnorganisch kranke Leute, für »unheilbar« hirnorganisch abgebaute Alkoholiker, für »Persönlichkeitsstörungen« (früher Psychopathen, jetzt Soziopathen), Menschen mit Sexualstörungen und psychisch kranke alte Leute. All diese Gruppen, bei denen auch der körperliche Anteil der menschlichen Natur eine wesentliche Rolle spielt, bilden zusammengenommen die Hauptklientel der psychiatrischen Alltagspraxis. So befinden wir uns in der paradoxen Lage, daß die modernen psychologisierenden oder soziologisierenden psychiatrischen Theorien einzig der Minderheit der weniger psychisch kranken Patienten gelten, während für die kränkere Mehrheit nur die allenthalben als überholt erachtete »klassische« psychiatrische Krankheitslehre mit ihrem Pseudo-Objektivitätsanspruch sowie die als »angewandte Psychiatrie« bezeichnete körpermedizinische Technik und Administration der Anstaltspraxis zur Verfügung stehen. Hinzu kommt die Bestimmung der Therapiefähigkeit der Menschen nach sozialem Status, Einkommen und Intelligenz.5

Die körperliche Seite der menschlichen Natur ist und bleibt ein anstößigprovozierendes Kernproblem der Psychiatrie. Es wird vermieden und verdrängt entweder durch die mehr oder weniger gewalttätigen Versuche der bloß technischen Naturbeherrschung oder – moderner – durch die Leugnung seiner Existenz. Nachdem etwa 80 Jahre lang die psychiatrische Theoriebildung von den psychiatrischen Universitätskliniken ausging, ist es wahrscheinlich, daß eine umfassende, den Körper nicht ausblendende und in einer philosophischen Anthropologie fundierte psychiatrische Theorie am ehesten von den Anstalten, den heutigen psychiatrischen Krankenhäusern – schon wegen der praktischen Problemkonfrontation dort – zu erwarten ist. Dagegen verrät die beliebte Erklärung, die psycho- und soziologi-sierende Tendenz der gegenwärtigen psychiatrischen Theoriebildung sei nur eine Gegenreaktion auf die biologistische Einseitigkeit der medizinischen und psychiatrischen Sichtweise des 19. Jahrhunderts, die ihre schreckliche Zuspitzung im Dritten Reich erfahren habe, ein falsches Verständnis sowohl der Geschichte als auch der Naturwissenschaft und bleibt als bloße Gegenposition von der bekämpften Position abhängig. Vergessen wird dabei, daß dies nur ein Beispiel des universalen Prozesses der Vergesellschaftung der Wissenschaft überhaupt ist, ablesbar z. B. an der Neigung, »geistige Gesundheit« (»mental health«) zum umfassenden Zweck zu erheben.6 Die Aufspaltung von Theorie und Praxis sowie die Vergesellschaftung der Wissenschaft zeigen, wie sehr die Psychiatrie in der Dialektik steht, zugleich der Freiheit und Sicherheit, der Emanzipation leidender Menschen und der reibungslosen Integration, also der Bändigung sprengender, auflösender und destruktiver Kräfte zu dienen, d. h. in der »Dialektik der Aufklärung«. Diese Dialektik von Emanzipationsversprechen und Stabilisierungsverlangen beherrscht freilich auch die Entstehungsgeschichte und die seitherige Entwicklung der Soziologie. Soziologie und Psychiatrie nahmen gemeinsam ihren Ausgang von dem Bild, das der vernünftige Bürger sich von der Unvernunft, ob diese nun als Armut, als Irresein oder als beides zugleich sich äußerte, machte. Beide Wissenschaften begannen als Bewältigungsversuche der durch die bürgerlichen und industriellen Revolutionen bedingten sozialen Krise, sind insofern Krisenwissenschaften. Diese Gemeinsamkeit legen wir unserer Untersuchung zugrunde, da es nichts nützen würde, wenn wir uns bei der soziologischen Analyse der Psychiatrie lediglich auf deren gesellschaftliche Bedingtheiten stützten. Vielmehr benötigen wir statt eines solchen reduktionistischen Konzepts einen historisch und philosophisch reflektierten soziologischen Ansatz. Wir glauben ihn in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung gefunden zu haben. Aufklärung wird dort kritisch verstanden als »Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt«7, die Materie, der »Illusion waltender oder innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften« beraubt, als Chaos und daher der bemächtigenden Synthese bedürftig erkannt.8 Werden Herrschaft und Selbstbeherrschung, zwanghafte Selbsterhaltung, »Beherrschung der Natur drinnen und draußen zum absoluten Lebenszweck«, dann erscheint alles, was dem ordnenden und verfügenden Zugriff sich entzieht, was außerhalb bleibt, als »absolute Gefahr« für die Gesellschaft, als Quelle der Angst und wird deshalb mit dem Stigma der Irrationalität, der Unvernunft versehen und ausgegrenzt9: »die unerfaßte, drohende Natur«; »die rein natürliche Existenz«; Instinkte, Phantasie und theoretische Einbildungskraft; »Promiskuität und Askese, Überfluß und Hunger [...] als Mächte der Auflösung«; das Unverbindbare, der Sprung, die Vielheit, das Inkommensurable, weggeschnitten von »der universalen Vermittlung, dem Beziehen jeglichen Seienden auf jegliches«; »das Unbekannte«, das »in der vorwegnehmenden Identifikation zum Altbekannten gestempelt wird«; »noch die letzte unterbrechende Instanz zwischen individueller Handlung und gesellschaftlicher Norm«, die der Positivismus beseitigt; »der Selbstvergessene des Gedankens wie der der Lust«; die allgemeine »Angst, das Selbst zu verlieren«, die besteht, solange Selbsterhaltung, Identitätsfindung das allein herrschende gesellschaftliche Prinzip sind.10 Allen diesen Ausdrucksformen des bürgerlich Unvernünftigen werden wir als Äußerungen der Unvernunft des Irreseins wiederbegegnen. Jedenfalls markieren sie den Gegenstandsbereich der Psychiatrie, jene als inkommensurable und daher als unvernünftig bezeichneten ›Abfallprodukte‹ und Korrelate des fortschreitenden Aufklärungs-, Rationalisierungs- und Normierungsprozesses. Genau dies kennzeichnet die Dialektik der Psychiatrie. Hat sie das Irrationale der Rationalisierung zuliebe zu verdecken oder es aufzudecken, es einzuordnen oder es aufzuklären? Denn verdankt sie sich selbst auch dem sich totalisierenden Prozeß der Aufklärung sowie dessen Gegenbewegung, der Romantik, so steht sie doch zugleich unter dem unaufhebbaren Anspruch der Aufklärung: »Einlösung der vergangenen Hoffnung«11; Freilegung des Unbekannten selbst, auch gegen die rationale Angst, die dies erzeugt; »die Herrschaft bis ins Denken hinein als unversöhnte Natur zu erkennen« und so die »Verwechslung der Freiheit mit dem Betrieb der Selbsterhaltung« zu lockern12, indem die »Frakturen von Sinn«13 durchgehalten und einbegriffen und nicht als unvernünftig ausgeblendet werden.

Innerhalb dieses beiden Wissenschaften gemeinsamen Rahmens ist unsere Untersuchung notwendig, wenn immer es stimmt, daß »das gesellschaftliche Selbstverständnis der Wissenschaft [...] im Begriff der Wissenschaft selbst als Forderung enthalten«14 ist, und sie hat ihr Wahrheitskriterium am dialektischen Begriff von Aufklärung.

Inwieweit haben nun die neueren historisch-theoretischen Darstellungen der Psychiatrie sich mit den hier beschriebenen Aufgaben beschäftigt? Diese Frage steht im Mittelpunkt des ersten Abschnitts des Anhangs.15 Die Ausbeute ist gering, obschon seit 1969, dem Erscheinen der 1. Auflage dieses Buches, erfreulicherweise größer geworden. Es folgt daraus, daß unsere Untersuchung vorwiegend deskriptiv-historisch vorgehen, psychiatrisches Denken und Handeln und deren Zusammenhang erst ausbreiten und bekanntmachen muß. Außerdem ergibt sich daraus, welche Aspekte der Psychiatrie ausgeblendet, einseitig dargestellt oder ideologisch nicht mit ihrem eigenen Anspruch konfrontiert worden sind, woran umgekehrt deutlich wird, in welcher erweiterten (oder auch beschränkenden) Weise der Gegenstand unserer Untersuchung zu sehen und zu reflektieren ist.

Daß die Kritik des naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses der Psychiatrie nur da berechtigt ist, wo es ideologisch zur Absicherung theoretischer Meinungen und politischer Ziele mißbraucht wird, ist bereits gesagt worden. Die anthropologische Fundierung der Psychiatrie, namentlich der frühen Nachkriegszeit, ist leider mehr oder weniger folgenlos geblieben, zugunsten einer insgesamt technokratisch verkürzten Wahrnehmung psychischen Leidens. Diesen anthropologischen Denkansatz aufzugreifen und zu beerben steht noch bevor. Erst dann wäre die Abgrenzung zwischen dem, was naturwissenschaftlich zu erklären, und dem, was geisteswissenschaftlich zu verstehen ist, möglich. Dasselbe gilt für die Frage, wann Leiden zu verändern und wann es zu akzeptieren ist. Anders formuliert: Wann handelt der Psychiater als Mediziner und wann als Arzt? Wann handelt er therapeutisch, wann pädagogisch? Noch anders: Wird psychiatrisches Handeln nicht erst jenseits von »Therapie«, in der Konfrontation mit »Unheilbaren« interessant?15 Totalitär und menschengefährdend kann beides sein: erklären, wo es nichts zu erklären gibt, und verstehen, wo es nichts zu verstehen gibt.16 Weil das so ist, sind auch die bisherigen Ansätze der Psychiatriegeschichtsschreibung unzureichend, sowohl das ideengeschichtliche Verfahren in der Absicht, »die Tätigkeit des Menschen in der Gesellschaft über die Grenzen des Momentes und des Ortes zu erheben«17, als auch das kulturgeschichtliche (Kirchhoff, Birnbaum). Daher hat nach der Zeit des Nationalsozialismus die Nachkriegs-Sozialgeschichte die Kulturgeschichte als abstraktes Korrelat der Machtgeschichte kritisiert.18 Daher ist auch der Weg der deutschen Wissenssoziologie, wie er von Dilthey gebahnt, von Mannheim beschritten wurde und heute von Gadamer19 fortgesetzt wird, in Frage gestellt worden. Unsere Bedenken entsprechen der in den letzten Jahren geübten Kritik an der Wissenssoziologie, so von Lenk20, Plessner21, Wolff22, Lieber23, Hofmann24 und Habermas25.

Wurde im 18. Jahrhundert die Verhinderung von Erkenntnis der Niedertracht der Herrschenden (Priestertrug-Theorie) bzw. dem subjektiven Vorurteil zugeschrieben, so galt sie im 19. Jahrhundert als objektiv notwendige Ideologie, gemessen an den jeweiligen Schranken des naturwissenschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Fortschritts. Im 20. Jahrhundert führt das zur Selbstunterwerfung der Erkenntnis und des Urteils unter die Sinnkontinuität des geschichtlich gewordenen Vorurteils, zur selbsttätigen Anpassung an die Gegebenheiten.26 »Indem die Philosophie ihren Ausgangspunkt, das ›In-der-Welt-Sein‹ des Menschen, selbst wieder auf seine Existenzialien oder bleibenden Bestimmungen hin abfragt, verliert sie Geschichte und Gesellschaft als je konkreten Prozeß entweder ganz aus dem Blick, oder aber sie gerinnen ihr begrifflich zu so etwas wie ›Geschichtlichkeit‹ und Soziabilität‹.«27 Eine ähnliche Kritik an der Entrückung von Gegenständen in eine phänomenale Begrifflichkeit bzw. in eine je eigene »Welt« trägt Plessner vor: »Die Leiblichkeit als ein Strukturmoment der konkreten Existenz, mit der sie sich auseinandersetzen muß und die sie in den verschiedenen Modi der Zuständlichkeit und Widerständlichkeit durchzieht, wird nicht als Körper zum Problem. Das überläßt man der Biologie und den organischen Naturwissenschaften.«28

Zum Begriff der Wissenschaft gehört aber beides, nicht nur die fortschreitende Stabilisierung ihrer selbst und durch sie ihrer Gesellschaft (in technischer Beherrschung, Systembildung wie in Sinngebung); zu ihr gehört auch die fortschreitende Aufklärung ihrer selbst und ihrer Gesellschaft. Ein solches objektiv sinnverstehendes Denken bleibt nicht bei dem durch das Bewußtsein der handelnden Individuen vermittelten subjektiven Verständnis stehen. Es »scheidet die Dogmatik der gelebten Situation nicht einfach durch Formalisierung aus, freilich überholt es den subjektiv vermeinten Sinn gleichsam im Gang durch die geltenden Traditionen hindurch und bricht ihn auf«.29 Solche Soziologie ist nur als auch historische möglich. »Im grundsätzlichen Unterschied zur Wissenssoziologie erhält sie ihre Kategorien aus einer Kritik, die zur Ideologie nur herabsetzen kann, was sie in deren eigener Intention erst einmal ernstgenommen hat.« Objektiv und nicht subjektiv sinnverstehend ist sie, insofern sie es »mit Frakturen von Sinn, in Hegels Sprache: mit dem Mißverhältnis des Existierenden und seines Begriffs zu tun hat«.30

Die Psychiatrie hat es in ganz besonderer Weise mit »Frakturen von Sinn« im menschlichen Denken und Handeln zu tun. Daher und im historischen Zusammenhang mit der »sozialen Frage« stellt Psychiatrie gewissermaßen eine Soziologie noch vor der Etablierung der Soziologie als Wissenschaft dar. Unsere wissenschaftssoziologische Frage kann also nicht mehr bloß formal lauten, wie bestimmte Extreme menschlichen Denkens und Handelns als besondere gesehen und damit zum Gegenstand einer Wissenschaft werden konnten, sondern sie muß heißen: Wie konnten diese Extreme zu einem bestimmten Zeitpunkt als konkrete gesellschaftliche Not und Gefahr – bedrückend und bedrohlich-faszinierend – sichtbar und wichtig werden? Wie war die Gesellschaft beschaffen, ihre Öffentlichkeit, ihr ökonomisches Entwicklungsstadium, ihre moralischen Normen, ihre religiösen Vorstellungen, der Anspruch ihrer politischen, juristischen und administrativen Autoritäten, damit hier ein (Ordnung und Aufklärung) forderndes Problem hervortreten konnte? Welche gesellschaftlichen Bedürfnisse waren derart zwingend, daß man mit einem Mal bereit war, viel Geld auszugeben, um ein mehr oder weniger umfassendes Versorgungssystem, die Institution Psychiatrie, zu schaffen? Und wie argumentierten das wissenschaftliche und das philosophische Denken zur selben Zeit, um diesem sichtbar gewordenen Bedürfnis und Anspruch zu genügen, um teils aus der Praxis dieser neuen Institution, teils ›freischwebend‹ dem Kanon der wissenschaftlichen Disziplinen ein neues Element einzufügen? Alle weiteren Fragen folgen aus diesen.

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