Kitabı oku: «Bürger und Irre», sayfa 4
II. Großbritannien
1. Ausgrenzung der Unvernunft und Öffentlichkeit
a) Begriffe der politischen Öffentlichkeit
Es war bereits die Rede davon, daß die soziale Bewegung der Ausgrenzung der Unvernunft zwar auch für England gilt, hier sogar besonders früh nachweisbar ist, sich aber nicht in dem Maße durchsetzte, wie es in Frankreich und Deutschland der Fall war. Bereits das erste Drittel des 18. Jahrhunderts zieht jenes soziale Institut der geometrischen Raumverteilung zwischen Vernunft und Unvernunft in eine Diskussion, die seine Auflösung vorbereitet. Es erfolgte in England schon frühzeitig eine Differenzierung, die weniger nach der moralischen und erziehenden Absicht solcher Einrichtungen fragte als vielmehr nach ihrem unmittelbaren Nutzen für die Gesellschaft und für die Internierten selbst, die gerade dadurch in ihrer Unterschiedlichkeit sichtbar werden konnten. So richteten die Manufakturen Proteste gegen die billige Konkurrenz der »workhouses«, und Daniel Defoe kritisierte, daß durch Erziehung der Zöglinge zur Arbeit die Arbeitslosigkeit und Armut nur in andere Gegenden verschoben werde. Freilich war auch in England die Wirtschaft noch keineswegs soweit entwickelt, daß sie die Massen der bettelnden oder vagabundierenden Armen hätte aufnehmen können. Andererseits nahm die Zahl der Unternehmer nicht nur für »workhouses«, sondern auch für die schon damals davon unterschiedenen privaten Irrenhäuser (»lunatic asylums«) ständig zu. Diese nahmen zwar vornehmlich begüterte Irren auf, doch wurden auch Verträge mit den entsprechenden Gemeinden zur Kostenbeteiligung für die Übernahme von »armen Irren«1 geschlossen. Diese »pauper lunatics« sind erstmals 1714 Gegenstand eines Act of Parliament »for the more effectual punishing such rogues, vagabonds, sturdy beggars, and vagrant«; es wird hier nicht nur ihre Internierung, sofern sie gefährlich, »furiously mad« sind, gefordert, sondern die Irren werden hier überhaupt zum ersten Mal getrennt von den übrigen Adressaten solcher Gesetze definiert, und zwar sogleich als »arme Irre«. Ihre Sonderstellung wird dadurch unterstrichen, daß sie als einzige vom Auspeitschen (»whipping«) ausgenommen werden.2 Selbst das Bedlam, die größte Internierungseinrichtung Londons, differenziert seine Insassen und hat, trotz der mit ihm verbundenen Schauergeschichten, viel stärker Krankenhauscharakter als das ihm sonst vergleichbare Hôpital général von Paris. Doch gab es freilich im Bedlam noch Schaustellungen der Irren, als dies im Frankreich nach der Revolution schon undenkbar geworden war. Gerade insofern war das Bedlam seit seinem monumentalen Neubau (1676) ständiger Gegenstand der öffentlichen Diskussion und wurde immer wieder zum kritischen Ansatzpunkt sozialer Reformversuche.
Woher kommen nun diese Elemente des Differenzierens und Diskutierens, der Nützlichkeitserwägungen und der Kritik nährenden Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in einer Gesellschaft, in der die Bewegung der Ausgrenzung der Unvernunft kaum erst in Gang gekommen war? Wir finden sie keineswegs im Frankreich dieser Zeit, von Deutschland zu schweigen. Diese Sichtweisen, die auch für die ärztliche Tätigkeit des Jahrhundertbeginns konstitutiv sind, sind nur durch ihre Lokalisierung in einem größeren historischen Rahmen zu erklären. Koselleck hat den Beginn des klassischen absolutistischen Staates auf dem Kontinent als das Ergebnis der religiösen Bürgerkriege, sein Ende mit dem anderen Bürgerkrieg, der Französischen Revolution, bestimmt. Demgegenüber bringt er »die Sonderstellung Englands« auf die bündige Formel, »daß auf der Insel beide Geschehnisse gleichsam zusammenfallen. Hier wurde der entstehende absolutistische Staat bereits im religiösen Bürgerkrieg zugrunde gerichtet, die Glaubenskämpfe bedeuteten schon die bürgerliche Revolution«.3
Diese These erweist erst dann ihre Fruchtbarkeit, wenn sie auch das hartnäckige Nebeneinander alter und neuer Strukturen, aber in einem neuen, nachrevolutionären »Milieu« erklärt, das die Auseinandersetzung zwischen ihnen institutionalisiert. So ist die Herrschaft des Adels nach der Revolution in England nicht schlechthin am Ende; vielmehr paßt er sich – besteuert und ohnehin mehr vom Grundbesitz als vom Blut abhängig – den neuen Formen der Machtverteilung (Partei und Parlament) an, beteiligt sich am Handelsgeschäft und vermittelt sich mit dem Bürger auch in der Literatur, wie Hauser das am Stil und Lesepublikum des Tatler Steeles (1709) bezw. des Spectator Addisons (1711) nachweist.4 Auch die alten Glaubenskämpfe finden ihre modifizierte Fortsetzung in neuen Konflikten zwischen Konfessionen und Sekten. Der aristokratisch-großbürgerliche skeptische Intellektualismus entwickelt sich ebenso weiter, wie er bald seinen Widerpart im mittel- und kleinbürgerlichen Gefühlsüberschwang findet.
Nicht anders ergeht es den Institutionen der Ausgrenzung der Unvernunft. Wir mußten sie verstehen als absolutistisches Erziehungs- und Zwangsinstrument, adressiert an ein Publikum, das als Objekt dieses belehrenden Aufklärungsprozesses angesehen wurde. Zwar setzt sich auch diese Struktur durch das ganze 18. Jahrhundert fort. Es etabliert sich aber ihr gegenüber ein anderes Publikum, das sich als Subjekt versteht und das diese wie alle anderen vorgegebenen Strukturen diskutiert, differenziert, sie auf ihren Nutzen für das Individuum wie für die Nation befragt und entsprechend zu verändern sucht. Dieses nunmehr selbst räsonnierende Publikum wird jenes Belehrungsinstrument in dem Maß abbauen, wie es sich einerseits selbst für belehrt hält, seine Lehren – die Pflicht zur Arbeit und zur bürgerlichen Moral – verinnerlicht, und wie es andererseits zu der Überzeugung kommt, daß die ausgegrenzte Unvernunft nach verschiedenen Richtungen hin einer angemesseneren und nützlicheren Vernunft »zugeführt« werden könnte.
Die Einheit eines Publikums als Subjekt und eines »Milieus«, in dem dieses Subjekt sein Selbst gegenüber dem anderer der Diskussion aussetzt, konstituiert das, was Habermas als »politische Öffentlichkeit« in dieser Zeit entstehen sieht. Er stellt die Frage Kosellecks konkreter und sucht »zu klären, warum in England soviel früher als in anderen Ländern, Konflikte heranreifen, die derart unter Anteilnahme des Publikums ausgetragen werden. Als anrufbare Instanz besteht eine literarische Öffentlichkeit auch auf dem Kontinent. Dort wird sie indessen politisch erst wirksam, als unter der Obhut des Merkantilismus die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise soweit fortgeschritten ist wie in England schon nach der Glorreichen Revolution.«5 An den Beginn dieser Entwicklung, deren Basis durch einen neuen Interessengegensatz zwischen restriktivem Handels- und expansivem Manufakturkapital bestimmt wird, stellt Habermas drei Ereignisse aus den Jahren 1694/95: die Gründung der Bank von England, wodurch England zugunsten der Entfaltung neuartiger Produktionsweisen zum Weltfinanzzentrum wird; die erste Kabinettsregierung als entscheidender Schritt auf dem Weg zur Parlamentarisierung der Staatsgewalt; und den Licensing Act, wodurch die Vorzensur aufgehoben ist und wodurch vor allem sich eine noch eher schöngeistig-aristokratische literarische Öffentlichkeit in eine politische verwandelt, in der durch eine uneinheitliche Presse politische Entscheidungen vor das Forum eines breiten räsonnierenden Publikums gebracht werden.6 Kaffee- und Teehäuser, Klubs und Straße werden ebenso zu Institutionen dieses neuen »public spirit« wie die zum Teil von den Parteien bzw. der jeweiligen Regierung bezahlten politischen Zeitschriften und Journalisten, so Defoe, Swift, Pope, Bolingbroke und Gay. Das Institut der öffentlichen Opposition gegen eine Regierung als räsonnierende »Dauerkontroverse« an Stelle der Gewaltanwendung früherer Jahrhunderte wurde von Tories (Bolingbroke, Swift, Pope, Gay) gegen Walpoles Regierung der Whigs (1721–42) zum ersten Mal praktiziert. Seit der kritischen und satirischen Kommentierung, mit der diese Journalisten den Zusammenbruch der Südseekompanie aufgrund von Aktienspekulationen (1720) der Öffentlichkeit darboten, gelang es der Opposition mehrfach, durch Hinweis auf die moralische Macht des »sens of the people«, »public spirit«, »common voice« oder »common sense« die offiziellen Wahlresultate zu überspielen und die parlamentarische Whig-Mehrheit zum Nachgeben zu bewegen.7 Der Whig Defoe und der Tory Swift wurden die repräsentativen Pole der großen öffentlichen Diskussion, die Tagespolitik und Philosophie umspannte: dem vernunft-optimistischen Robinson Crusoe (1719), der durch Aneignung der Natur aus nichts alles macht, steht die pessimistische Welt des Gulliver (1726), die sarkastisch die Kehrseite der Aufklärung zeigt, gegenüber.
In Bolingbrokes Wort: »if all men cannot reason, all men can feel«, mit dem er die Untrüglichkeit der Volksmeinung, die Zuverlässigkeit des »common sense« begründet, steckt jenes Moment der Unmittelbarkeit, dem schon Locke vertraute, als er der Meinung der Privatleute als »Law of Opinion« gleichen Rang mit dem göttlichen und dem staatlichen Gesetz zugestand; sie kommt »by a secret and tacit consent« zustande, und insofern sie »measure of virtue and vice« ist, bezeichnet Locke sie sogar als »Law of Private Censure«.8 Es ist dies dasselbe Selbsbewußtsein und Vertrauen, mit dem Locke die Eigentumsordnung der bürgerlichen Gesellschaft, das Aneignungsrecht des tätigen Individuums an den Produkten der Natur, einerseits »zur Naturbasis der vertraglich begründeten Staatsgewalt«9 macht, andererseits mit dieser Verfügung über privates Eigentum die Autonomie des Menschen als Menschen fundiert, die »sich in der Sphäre der bürgerlichen Familie als solche darstellen, in Liebe, Freiheit und Bildung, mit einem Wort: als Humanität sich innerlich verwirklichen möchte.«10 Die hier unterstellte Identität des Publikums der »Eigentümer« mit dem der »Menschen« konnte sich bewähren im Kampf gegen absolutistische Ansprüche des Staates. Sie mußte sich freilich als fiktiv erweisen, als die »natürliche Ordnung« in Kategorien der Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft selbst begriffen werden konnte.11
So sind von Locke divergierende Entwicklungen beeinflußt worden. Mandeville auf der einen Seite machte das Naturrecht der Aneignung zur Selbsterhaltung in seiner Bienenfabel (1714) zum Motor des Gemeinwesens: »private vices made public benefits«.12 Auf der anderen Seite knüpft Shaftesbury an jenes unmittelbar-menschliche Element und an die reflektierend auf Innerlichkeit gerichtete Bildungstätigkeit der Subjektivität an. Shaftesbury betont am »common sense« den »tacit consent«, die »humanity«, »oblingingness« und die Wahrnehmung der Beziehungen zwischen den Dingen, die der diskursive Verstand getrennt hat, durch »sympathy«: »Es ist also nicht so sehr eine naturrechtliche, allen Menschen verliehene Ausstattung, als eine soziale Tugend, eine Tugend des Herzens mehr als des Kopfes, die Shaftesbury meint«13 und die die schottische Philosophie als »moral sense« bestimmen wird. Diese soziale Dimension idealistisch überhöhend, beginnt Meinecke mit Shaftesbury seine Entstehung des Historismus, sieht hier »eine erste Anerkennung des Individualitätsprinzips«, gemäß dem alle besonderen Formen ihre »eigenartige Selbsttätigkeit«, ihren »innewohnenden Genius« haben. So konnte Shaftesbury rationale Gegenstände in einem inneren harmonischen Zusammenhang, in ihrer »inward constitution«, sehen, Lust und Schmerz, selbstische und gesellige Neigungen, das Zuwidersein und die Schönheit wilder Tiere; ähnlich faszinierte ihn die Nähe zwischen dem Befreier und dem Unterdrücker bzw. zwischen dem Narren und dem echten Propheten, da beide sich aus Enthusiasmus speisen, äußerlich nicht zu unterscheiden sind und die Grenze zwischen gesundem und hybridem Zustand nur schwer zu bestimmen ist.14
Daß das Irresein in dieser Zeit als ein im weitesten Sinne politisches Thema gesehen werden muß, zeigt sich darin, daß auch seine medizinische Sicht engstens mit den Begriffen der sich entfaltenden bürgerlichen Öffentlichkeit verflochten ist. »Madness« und »english malady« waren bevorzugte Themen in den Kaffeehäusern. Locke und Mandeville waren selbst Ärzte und beschäftigten sich mit den Irren ebenso wie die Naturwissenschaftler Boyle und Hooke und die politischen Literaten Defoe und Swift. Neben dem Interesse für die inhaltliche Problematik ist eine Voraussetzung hierfür die Nähe zwischen den politischen und den naturwissenschaftlich-medizinischen Vorstellungen und ihre nachgerade materiell-körperliche Bezogenheit aufeinander, die der Analogie noch nicht bedarf. Namentlich Begriffe aus den Gründungsjähren der Royal Society of London wirken in jener Zeit noch in einer zugleich körperlichen und sozial-moralischen Substantialität, die im folgenden Jahrhundert in ihren verschiedenen subjektiven, objektiv-neutralisierenden und metaphysischen Ausformungen zur größten Verwirrung führen, ehe sie sich in der Arbeitsteilung des modernen Wissenschaftsbetriebs scheinbar beruhigen werden. So hängt die Möglichkeit, den doch unsichtbaren »public spirit« als eine politisch reale – empfindende und bewegende – Kraft zu konzipieren, durchaus mit der medizinischen Spirit-Lehre zusammen, und zwar besonders so, wie sie Thomas Willis (1667) zur ersten zusammenhängenden Neurologie auf anatomischer Grundlage ausformulierte. Für ihn werden die »spiritus animales« innerhalb der Organe vom äußeren Gegenstand erschüttert, nach innen getrieben und schaffen so die Empfindung. Schaltstelle dieser in den Nerven wellenartig vor- und rückwärtsgehenden und zugleich mechanisch angestoßenen Bewegungen ist – und hier liegt das Fundament des anderen Zentralbegriffs der bürgerlichen Öffentlichkeit – der »sensus communis«, der Gemeinsinn in der Hirnmitte. Dieser bewirkt nicht nur die Wahrnehmung des empfundenen Dinges; er vermittelt auch den Weg zu Einbildung, Phantasie und Gedächtnis. Weiter werden die »Nervenspirits« reflexiv vom Gemeinsinn von innen wieder nach außen getrieben. Er erweckt also Begehren bzw. eine entsprechende motorische Bewegung sowie bei häufiger Wiederholung ein sich automatisch vollziehendes Kausalverhältnis von Empfindung und Bewegung, d. h. Gewohnheiten.
Willis ist aber nicht nur »the first inventor of the nervous system«, er gibt auch die neurologisch beschriebene Tätigkeit der Nervenspirits wieder als begeistet von der »Corporeal (vital and sensitive) Soul«, ebenfalls als feine und aktive Materie der Hirnmitte und überdeckt von der rationalen Seele vorgestellt; in dieser Hinsicht bringt er die Nervenvorgänge unter den von ihm in die Medizin eingeführten Titel der »Psycheology«.
Dieses neurologisch-psychologische System Willis’ verdrängte die humoral-chemischen Erklärungen der Tradition und prägte das 18. Jahrhundert. Krankheiten ergeben sich aus mechanischen Erschütterungen durch äußere Objekte. Die Formen des Irreseins entstehen, wenn keine materielle Schädigung sichtbar ist, da hier lediglich die nur an ihren Wirkungen erkennbaren Nervenspirits lädiert sind. Damit ist jener Bereich geschaffen, der auch nach Ende der in substantiellen Leib-Seele-Beziehungen denkenden Ära nahezu beliebige psychische, moralische, soziale und politische Phänomene »krank« oder »abnorm« zu nennen erlaubte – gerade wegen der Unsichtbarkeit der gleichwohl postulierten (oder bestrittenen) materiellen Läsion. Das Moment der Macht des Unsichtbaren, das der Lehre von den »spirits« und vom »common sense« eigen ist, gestattete Differenzierung durch Räsonnement für den Arzt wie für den Politiker: ob etwas Strittiges gesund oder krank, günstig oder gefährlich, der bürgerlichen Gesellschaft zugehörig oder von ihr ausgegrenzt sein soll.
b) Hysterie und Identität des Bürgers
Es fällt auf, daß Willis nur die Hysterie und die ihr ähnlichen Störungen fast ganz in seine Nerventheorie einbringt, sie von ihrem altehrwürdigen Sitz im Uterus löst und zu einem »nervösen« Leiden macht. Die Melancholie hingegen wird teils noch traditionell-chemisch, teils in den Nervenspirits (das leere Reden) und teils im Herzen (die traurigen Gefühle) lokalisiert. Dabei knüpft die theoretische Erklärung (»low spirits«) mehr ans Nerven-Modell, die Therapie (traurige »passions« durch angenehme ersetzen) mehr an das Herz an – erste Andeutung späterer Arbeitsteilung zwischen theoretisch-naturwissenschaftlichem und praktisch-romantischem Ansatz. Noch peripherer und nur als Ableitung von anderen Bildern erscheinen bei Willis Manie bzw. »madness«, also die zentralen Formen des Irreseins.
Es ist dies ein genaues Abbild davon, daß die Hysterie in der Öffentlichkeit bzw. in der öffentlichen Diskussion zugelassen ist und hier auch eine bedeutende Rolle spielt, während die Irren weitgehend noch unter dem Verdikt der tatsächlichen und dadurch auch der wissenschaftlichen Ausgrenzung der Unvernunft stehen, weshalb bis zur Jahrhundertmitte auch nicht von einer theoretisch-praktischen psychiatrischen Wissenschaft gesprochen werden kann. Diese Situation kann durch nichts besser beschrieben werden als durch die rationalistisch-dressierende, strafende und grausame Behandlung, die Willis den eigentlich Irren für angemessen hält: »For the curing of Mad people, there is nothing more effectual or necessary than their reverence or standing in awe of such as they think their Tormentors. [...] Furious Mad-men are sooner, and more certainly cured by punishments, and hard usage, in a strait room, than by Physick or Medicines. [...] Let the diet be slender and not delicate, their cloathing course, their beds hard, and their handling severe and rigid.«15
Th. Sydenham, ebenfalls aus der Royal Society und befreundet mit Lokke und Boyle, bringt 1682 mit seiner Beschreibung der Hysterie eine weiterführende Vermittlung von Willis und Glisson16 zustande, die zugleich unter der Hand zu einer Art moralischer Beschreibung der bürgerlichen Öffentlichkeit Englands der Wende zum 18. Jahrhundert gerät. Er identifiziert weitgehend – was das klinische Bild angeht – die bei Frauen vorherrschende Hysterie mit der Hypochondrie, ihrem Äquivalent bei Männern, und mit der Melancholie. Er vervollständigt also hier die bei Willis bemerkte Tendenz. Vom eigentlichen Irresein ist bei ihm um so weniger die Rede. Frei von Hysterie sind fast nur Frauen »such as work and fare hardly«. Umgekehrt sind von den Männern vor allem von dieser Störung befallen solche, »who lead a sedentary life and study hard«17, also Männer mit einer Tätigkeit in kaufmännischen oder sonstigen Büros und in akademischen oder literarischen Berufen. Damit ist mit dem Begriff der Hysterie ziemlich genau der Bereich der ökonomischen und der literarisch-humanen, d. h. für einen Akademiker sichtbaren bürgerlichen Öffentlichkeit gemeint. Der typische Bürger leidet auch an Hysterie bzw. Hypochondrie. Das übrige bleibt mehr oder weniger im Dunkel – eine gesellschaftliche Sichtverkürzung, die (nicht nur) Psychiater immer wieder zu Fehlschlüssen führen wird.
Erklärt wird die Hysterie zunächst durch Unordnung, Ataxie der Spiritus animales. Es bedeutet aber eine Verinnerlichung des Prinzips Willis’ – jetzt auch methodisch –, wenn Sydenham dann differenziert: »As the body is composed of parts which are manifest to the senses, so doubtless the mind consists in a regular frame or make up of the spirits, which is only the object of reason. And this being so intimately united with the temperament of the body, is more or less disordered, according as the constituent parts thereof, given us by nature, are more or less firm.«18 Man darf wohl der Interpretation Foucaults folgen, daß hier die neutralisierende naturwissenschaftliche Beobachtung Willis’ durch eine innere Sicht ersetzt ist, die durch Beziehung der Spirits auf die Dichte der Konstitution die innerlichkörperliche Dimension mit der moralischen zusammenbringt, die Schwäche der Konstitution mit der Schwäche des Herzens.19 Denn Sydenham begründet gerade aus diesem Zusammenhang die größere Disposition der schwächeren Frauen für die Hysterie und damit kulturkritisch den inkonstanten, weiblichen Charakter der neuen bürgerlichen Gesellschaft: »Hence women are more frequently affected with this disease than men, because they have receiv’d from nature a finer and more delicate constitution of body, being designed for an easier life and the pleasure of men, who were made robust, that they might be able to cultivate the earth, hunt and kill wild beasts for food, and undergo the like violent exercises.«20
Als Therapie kennt Sydenham zunächst reinigende Entleerungen des Körpers, sodann zur Stärkung der Spirits Eisenmittel und zu ihrer naturgemäßen Regulierung vor allem tägliches Reiten.21 Dies letztere Therapeutikum kann als Beginn der Tendenz angesehen werden, die gesamte Verhaltensordnung des Patienten in den Heilungsplan einzubeziehen; denn da die Symptome der Hysterie als Bewegungsunordnung sowohl der Nervenspirits als auch der sozialen Verhaltensweisen aufgefaßt werden, hat auch die Therapie eine Neuausrichtung dieser sozio-somatischen Bewegung anzuzielen.
Ein Beispiel wird Sydenham zugeschrieben, das, selbst wenn es Legende sein sollte, besonders instruktiv ist. Als der Arzt bei einem besonders hartnäckig leidenden »Nobleman« mit seiner Kunst am Ende war, gab er ihm eine Empfehlung für einen nicht existenten hochberühmten Kollegen, der im hohen Schottland wohne. Als der Patient nach langer und vergeblicher Reise und voller Vorwürfe zu Sydenham nach London zurückkehrte, war er geheilt. Erklärung: Die Verwirklichung der beschwerlichen Reise (Reise als Selbstzweck, »Reisen ohne anzukommen«) und der anschließende Affekt gegen den täuschenden Arzt hatten dem Patienten vermittelt »a motive of sufficient interest to divert the current of his ideas from the cherished theme« und ihm dadurch eine gesunde Bewegungsordnung zurückgegeben.22
Das Modell der Medizin für nervöse bzw. psychische Krankheiten ist somit das, was in der bürgerlichen Öffentlichkeit sichtbar wird: die Hysterie.23
Die Theorien, die anläßlich dieser repräsentativen Störung von Willis und Sydenham entwickelt werden, bestimmen bis zur Jahrhundertmitte das ärztliche Denken und Handeln. Wie die armen Irren weitgehend außerhalb der Öffentlichkeit und damit außerhalb dessen, was die Bürger als Gesellschaft verstehen, aber auch außerhalb des Interesses des Staates stehen, so beherrscht die Hysterie den Markt des Interesses an sich selbst. Sie wird zu einem Instrument, durch das der Bürger sein menschliches Selbst und sein gesellschaftlich-nationales Selbst zur Deckung bringen kann. Eine Bedingung dafür ist, daß den Ärzten im Enthusiasmus der öffentlichen Diskussion über alles ihre traditionelle Autorität abhanden gekommen ist, zumal sie sich selbst nur als Diskutanten unter anderen verstehen. Von den vier bedeutendsten Krankenhäusern Londons rechnen sich zwei zu den Whigs und zwei zu den Tories. So entsteht das Bild des Arztes, der sich zwar viel mit Politik, Ökonomie und Literatur beschäftigt, aber von der Medizin nicht viel mehr versteht, als daß er ein gutes Geschäft daraus zu machen weiß. Die Sprechstunde fand zu einem guten Teil im »coffee-house« statt; und auch der Teil der medizinischen Tätigkeit, der später die Psychiatrie ausmacht, war Sprechstunde – für hysterische Patienten, also »Sprechstundenpsychiatrie«.24
Aus dieser wechselseitigen gesellschaftlich-ärztlichen Verflechtung wird nicht nur verständlich, daß alle Welt – Ärzte und Nicht-Ärzte – über Hysterie schrieb, sondern auch, daß die Mehrzahl dieser Bücher und Zeitschriftenaufsätze von der Beschreibung der eigenen Krankengeschichte des Autors ausgingen und daß sie – an die Gesamtheit der gebildeten Öffentlichkeit gerichtet – nicht an die ärztliche Autorität verwiesen, sondern durch Mitteilung eines umfassenden Heilungsplans zur Selbsthilfe aufforderten. Das Bemühen, aus einer als gefährlich empfundenen »instability« zu einer stabilen Ordnung, zur Identität, zu einem Selbst zu finden, das selbsttätig funktioniert und nicht durch eine äußere Autorität oktroyiert wird, war der Kern aller öffentlichen Diskussion – auf der politischen Ebene, so bei Locke25, wie auf der individuellen.
Mandeville kann in seiner Lebensweise und in seinen medizinischen Schriften vielleicht als idealtypisch für den Arzt dieser Zeit gelten. Er betrieb seine Praxis nur lässig, bezog von einigen holländischen Kaufleuten eine Pension. Seine Interessen waren literarisch, politisch, ökonomisch eher als medizinisch. Vornehmlich in literarischen Zirkeln verkehrend, kannte er Addison ebenso wie Benjamin Franklin. 1711 schrieb er einen Treatise of the Hypochondriack and Hysterick Passions, verbunden mit der Darstellung der »real art of physick itself«, d. h. »writ by way of information to patients« und nach einer »method entirily new«: als Dialog zwischen Arzt und Patient. Auch hier wird die eigene Krankheit – als Angst, an Syphilis zu leiden – eingeschoben. Therapeutisch ist ihm keine eigene Theorie, sondern die erleichternde und über die Irrtümer des Patienten und der ärztlichen Kollegen satirisch aufklärende Diskussion selbst wichtig. Eingedenk seiner Vorliebe für die Funktion der »selfishness of man« läßt er den Patienten seine Aggressionen gegen ihn abreagieren – und läßt sich dafür nach Zeit bezahlen. Zugleich schreibt Mandeville – hier am Beispiel der hysterischen Tochter eines Patienten – einen »course of Exercise« vor, der den ganzen Tageslauf genau skandiert und ausfüllt; u. a. werden verlangt: frühes Aufstehen, mehrere Stunden Reiten, heftiges Hautbürsten durch eine Bedienstete und ein mehrstündiger Spaziergang. So etabliert sich das Hygieneideal der höheren Bürgerstochter.
Auch wird es in der ersten Jahrhunderthälfte Mode, über die Hysterie das individuelle und das gesellschaftliche Selbstbewußtsein unmittelbar zu identifizieren, gleichsam aus einem Mangel für die Individuen die Besonderheit und Größe der bürgerlichen Gesellschaft und Nation zu erklären, während Sydenham hier noch eher eine unerfreuliche Instabilität sah. Der »medical journalist« Blackmore verfaßte 1725 einen Treatise of the Spleen and Vapours: or, Hypocondriacal and Hysterical Affections. Auch er hält die Störungen der Männer und Frauen für Formen derselben Krankheit. Die Konstitution der Milz, der »spieen«, bestimmt, wie lasziv oder träge eine Person in sexueller und jeder anderen Aktivität ist. Zudem wird ihm der »English Spleen« zu einer Art Individuationsprinzip, das die Verschiedenheit des individuellen Genius und die Besonderheit der Nation bewirkt. Gegenüber den anderen Völkern »the temper of the Natives of Britain is most various, which proceeds from the Spleen, an Ingredient of their Constitution, which is almost peculiar, at least in the Degree of it, to this Island. Hence arises the Diversity of Genius and Disposition, of which this soul is so fertile. Our Neighbours have greater Poverty of Humour and Scarcity of Originals than we. [...] An Englishman need not go abroad to learn the Humours of these different Neighbours; let him but travel from Temple-Bar to Ludgate, and he will meet [...] in four and twenty hours, the Dispositions and Humours of all the Nations of Europe.«26
The English Malady: or, a Treatise of Nervous Diseases of all Kinds... with the Author’s own Case at large von G. Cheyne erschien 1733. Hier ist die nationale Krankheitsbezeichnung als stolzes Bekenntnis zu den unter diesem Begriff vorgetragenen Angriffen des Auslands gewählt. Denn für Cheyne sind die Gründe der Häufigkeit dieser Krankheit in England gegenüber allen anderen Nationen u. a. »the Richness and Heaviness of our Food, the Wealth and Abundance of the Inhabitants (from their universal Trade) the Inactivity and sedentary Occupations of the better Sort (among whom this Evil mostly rages) and the Humour of living in great, populous and consequently unhealthy Towns«. Außerdem werden von der Krankheit gerade nicht »Fools, weak or stupid Persons, heavy and dull Souls« befallen, sondern solche »of the liveliest and quickest natural Parts [...] whose Genius is most keen and penetrating, and particularly where there is the most delicate Sensation and Taste, both of Pleasure and Pain«. Und dies ergibt sich »from the animal Oeconomy and the present Laws of Nature«.27 Auch für Cheyne kann diese Krankheit nur eine körperliche sein. Es liegt eine Schwäche oder Tonusstörung der Nerven vor, doch ist auch hier wieder der zugrunde liegende »Character and Temper of the Patient« entscheidend, so daß die »English Malady« als »Nervous Distemper« zu bezeichnen ist. Daher sind die Symptome dieser Krankheit auch nicht einheitlich, sondern entsprechen den Eigenheiten der jeweils befallenen Körperteile; jedes Organ hat ein ihm eigenes »sentiment«.
Mit dieser Entwicklung der Hysterielehre ist nun ein Teil der ausgegrenzten Unvernunft – namentlich der der Leidenschaften – als wesentlicher Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft akzeptiert, und zwar nicht mehr nur als von der Rationalität zu beherrschendes gefährliches Übel, sondern als durch innere Sicht erkennbare körperlich-sozial-moralische und eigenständig wirkende Kraft. Vom rationalen Aspekt der englischen Aufklärung ist dieser romantische seit der Revolution kaum zu trennen (Sydenham, Shaftesbury).27a Die »hysterical passions« sind ein körperlicher Indikator für Genius und Originalität des Individuums wie für handelskapitalistischen Reichtum – bald auch für Freiheit – der Gesellschaft, aber zugleich für den Grad an Labilität und körperlich-moralischem Leiden, der als Preis dafür zu zahlen ist. Die Spekulationen und der Zusammenbruch der Südsee-Kompanie von 1720, der »South Sea Bubble«, wurde zum paradigmatischen Ereignis. Es brachte die rational schwer erklärbare ärztliche Erfahrung, daß mehr Patienten zur Behandlung kamen, »whose heads were turned by the immense riches which fortune had suddenly thrown in their way, than of those, who had been completely ruined by that abominable bubble. Such is the force of insatiable avarice in destroying the rational faculties.«28 Ähnliches besagt das Staunen Montesquieus darüber, daß die Engländer – im Vergleich zu den Römern – ohne einleuchtenden Grund Selbstmord begehen, selbst auf dem Gipfel des Glücks. Es ist die soziosomatische Gesetzmäßigkeit der Hysterie, die verlangt, ihr mit therapeutischen Mitteln zu begegnen, die denselben Gesetzen entsprechen; denn die Zeiten sind vorbei, in denen hier eine zu sühnende religiöse Schuld vermutet wird. Hysterie und Spleen sind aber ebensowenig vom Körper bzw. von der Gesellschaft abtrennbare »imaginary Whims or Fancies«: es ist hier schlechterdings unmöglich, durch Reden einen Irrtum rational aufzuklären, »to counsel a Man [...], tho’ never so eloquently apply’d«.29 Die Hysterie zeigt dem Individuum wie der Gesellschaft an, daß es nun möglich, aber auch notwendig ist, reflexiv sich selbst zu behandeln, die Stabilität der Bewegungen selbst zu regulieren. Die Stabilität kann nur relativ sein, da sie nicht durch äußere Autorität verliehen wurde, sie darf es nur sein, da von dem Maß garantierter Labilität individuelle Originalität auf der einen Seite, das Bewegungsspiel der Öffentlichkeit, Handel und Reichtum auf der anderen abhängen. Nur so kann es zu befriedigender Stärke und Lebendigkeit der »animal spirits« wie des »public spirit« kommen in der sich modernisierenden Gesellschaft.