Kitabı oku: «Bürger und Irre», sayfa 5

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c) Ausgriffe auf die Unvernunft

Ist so die Unvernunft der Hysterie in die bürgerliche Öffentlichkeit nicht nur integriert, vielmehr sogar fast mit ihr identifiziert, so bleibt doch auch die Ausgrenzung der Unvernunft – der Armut und des Irreseins – keine absolute mehr. Dem Publikum der Subjekte erscheint auch diese Grenze nicht mehr als objektive und haltgebende. Dieser Prozeß beginnt sehr allmählich. Die »poor lunaticks« werden zunächst kaum für die Medizin sichtbar, eher an ihrer theoretischen und praktischen Peripherie. Aber auch hier ist es eine Bewegung der gleichzeitigen Differenzierung und Identifizierung. Locke sieht sich hierzu gelegentlich seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand (1690) veranlaßt, zu der er sich bezeichnenderweise dadurch freies Feld schafft, daß er die Frage nach den körperlichen Bedingungen (»animal spirits« o. ä.) für das Zustandekommen der Empfindungen und Ideen ausklammert. Erst durch diesen Verzicht kommt er zu einer repräsentativen Definition des eigentlichen Wahnsinns und zu dessen Unterscheidung vom Blödsinn. Danach gilt für Irre, Madmen: »having joined together some Ideas very wrongly, they mistake them for Truths« ; und es liegt »the difference between Idiots and mad Men, that mad Men put wrong Ideas together, and so make wrong Propositions, but argue and reason right from them: But Idiots make very few or no Propositions, but argue and reason scarce at all.«30 Frei von einem somatischen Erklärungsschema kommt Locke aber auch zu der identifizierenden Annahme, daß sein Begriff der »madness«, die falsche Ideenverknüpfung, auf alle Menschen gelegentlich anzuwenden sei. Sie sind dann in dieser Hinsicht von Bedlam-Insassen nicht zu unterscheiden. Solche falschen Assoziationen kommen vor allem durch Fixierung von Gewohnheiten zustande, wodurch Anti-und Sympathien entstehen. Nur für diesen Vorgang läßt Locke eine Erklärung durch die »spiritus animales« gelten. Insofern wird Unvernunft, »something unreasonable«, in die menschliche Vernunft hineingenommen. Bei andauernder falscher Verfestigung, »when this Combination is settled«, wird die Vernunft ohnmächtig, da die Ideen nun eine eigene Natur entfalten; hier kann nur noch die Zeit heilen.31

Defoe (1697) unterscheidet Irre und Idioten danach, ob sie die Vernunft verloren haben oder ohne sie geboren sind. Hier ist die Absicht indessen praktisch. Seinem reinen Vernunftglauben sind die Idioten (»Fools«, »Naturals«), also der abstrakte Gegensatz der Vernunft, gleichsam näher als die Irren. So fordert er in einer Zeit, in der noch keineswegs für die Irren gesorgt war, ein »Fool-House«. Die Verwirklichung dieses Plans benötigte exakt 150 Jahre. Schöne utopische Aufklärung ist auch seine Vorstellung über die Träger der laufenden Kosten: es sollen die sein, denen die Natur oder Gott nicht weniger, sondern mehr Vernunft als den übrigen Menschen gegeben hat. Gerade diese sollen ihres Vorteils (und ihres damals hohen Ansehens und Einkommens) wegen für die Vernunftlosen sorgen wie für jüngere Brüder, denen kein Erbe zuteil wurde, »tho’ they are useless to the Commonwealth«. Durch Parlaments-Act soll das notwendige Geld »be very easily rais’d, by a Tax upon Learning, to be paid by the Authors of Books«.32 Freilich gehört Defoe auch zu den ersten, die gegen die »private Mad-Houses« protestieren, gegen die unkontrollierte Art, wie hier Menschen als Zahlende und als Arbeitskräfte ausgebeutet und geschlagen werden konnten, und gegen die Benutzung dieser Häuser durch Bürger »among the better Sort« mit dem Zweck, hier ihre mißliebigen Ehefrauen auf Zeit oder für immer verschwinden zu lassen. Daher fordert Defoe 1707 und 1728 von der »Civil Authority« daß »all private Mad-Houses should be suppress’d at once. [...] For the cure of those who are really Lunatick, licens’d Mad-Houses should be constituted in convenient Parts of the Town, which Houses should be subject to proper Visitation and Inspection, nor should any Person be sent to a Mad-House without due Reason, Inquiry and Authority«.33 Gleichsam die Gegen-Utopie liefert J. Swift. Gegen damals allzu abstrakte Projekte wie die Idiotenanstalt Defoes mag in Gullivers Reisen Laputa geschrieben sein, das Reich der Raumverteiler, Projektemacher und der die Menschen überfordernden Rationalisten, die dabei die Wirklichkeit verkommen lassen.34 Dagegen ist Swift gegenüber Defoes bloßem Plan der Unterhaltszahlung für die Idioten durch die Literaten wirklich praktisch: er läßt sich nicht nur 1714 zu einem der »Governors of Bethlem« wählen, sondern stiftet auch sein Vermögen zur Errichtung einer ersten Irrenanstalt in Irland, mit deren Bau in der Tat 1746, ein Jahr nach seinem Tod, begonnen wurde. Er schrieb hierfür – in Anspielung auf die Ansichten Blackmores und Cheynes – seinen eigenen Epitaph:

»He gave the little Wealth he had,

To build a House for Fools and Mad;

And shew’d by one satyric Touch,

No Nation wanted it so much.«35

Swifts Gegen-Utopie geht aber weiter. Er verkehrt die Ansichten seiner Zeit über psychische Leiden in ihr Gegenteil. In Gullivers Reisen leidet ein Yahoo am Spleen. Er wird nur durch harte körperliche Arbeit geheilt, nicht durch angenehme Bewegungen (Reisen, Baden, Reiten usw.), wie dies zu Swifts Zeit üblich war: »Diese Erzählung stimmte mich nachdenklich, da ich nun einmal von einer eigensinnigen Parteilichkeit für die Gattung ›Mensch‹ besessen bin. Ich sah auf einmal klar die wirklichen Hintergründe des Spleens, der einzig die Unbeschäftigten, im Luxus Lebenden befällt. Diese möchte ich ums Leben gern ärztlich behandeln, wenn man sie nur zwingen könnte, meine diesbezügliche Verordnung zu befolgen.«36 Umgekehrt vollzieht Swift mit den damals wirklich harter körperlicher Arbeit ausgesetzten Irren eine utopische Identifizierung. In A Tale of a Tub (1697) findet sich ein Abschnitt über »the use and improvement of madness in a commonwealth«. Hier werden Könige, Eroberer, Minister, Philosophen und religiöse Fanatiker auf ihre Genialität hin untersucht und mit dem damaligen Begriff von Wahnsinn in Beziehung gebracht. Es ist dann »solcher Wahnsinn Vater all der mächtigen Revolutionen, die im Staat, in der Philosophie und in der Religion stattgefunden haben«. Dies wendet Swift ironisch auf sich selbst an: »Auch ich selbst, der Verfasser dieser gewaltigen Wahrheiten, bin eine Person, deren Einbildungen hartnäckig und sehr darauf angelegt sind, mit ihrer Vernunft davonzulaufen, die – wie ich in langer Erfahrung beobachtet habe – ein sehr leichter Reiter und einfach abzuwerfen ist, aus welchem Grunde meine Freunde mich nie allein lassen, ohne ein feierliches Versprechen, meinen Spekulationen in dieser oder ähnlicher Weise nur für das allgemeine Wohl der Menschheit freien Lauf zu lassen.«37 Dies wird geschrieben, während Defoe mit gleichem Recht peinlichste Sorgfalt und zuverlässigste öffentliche Kontrolle fordert für genaue Differenzierungen – zwischen Irren und Idioten wie zwischen Irren und Normalen. Und als 1733 eine neue Differenzierung eingeführt wird – das Bedlam richtet eine besondere Abteilung für Unheilbare ein38 – überbrückt Swift auch diese problematische Trennung durch eine Identifizierung. In »A serious and useful scheme to make a hospital for incurables« hält er sich neben den verschiedensten anderen Menschengruppen auch für aufnahmeberechtigt in einer solchen Einrichtung – als »incurable scribbler«.39 – Die Selbstaufklärung der Psychiatrie kann auf Defoe so wenig wie auf Swift verzichten.

2. Industrielle Revolution, Romantik, psychiatrisches Paradigma
a) Sozioökonomische Konstellation

Dieser Abschnitt betrifft den Zeitraum zwischen 1750 und 1785. In diese Zeit fallen die Geburt des Industriekapitalismus, der erste Gipfel der Romantik, ein erster Ansatz der Soziologie in der schottischen Moralphilosophie und die Entstehung der Psychiatrie – für England und damit für das ganze Europa. Wir können uns nicht unterstehen, dieser Gleichzeitigkeit in ihrer Breite gerecht zu werden, sehen aber auch nicht, daß dies von irgendeiner Disziplin aus bisher gültig geschehen ist. Vielmehr haben wir nur dafür den Nachweis zu liefern, daß in dieser Epoche etwas zustande gekommen ist, das man erstmals Psychiatrie zu nennen berechtigt ist, und daß dies nur in Zusammenhang mit den übrigen aufgeführten epochalen Bewegungen zu begreifen ist.

Schon vor der Jahrhundertmitte hatten sich in England einige für eine Industrialisierung entscheidende Vorbedingungen entwickelt. Einerseits hatte die Expansion des Handels – durch koloniale Eroberungen und Merkantilpolitik der Krone bzw. der Regierungen – zur Ansammlung bedeutender Kapitalien geführt. Andererseits hatten die frühzeitig einsetzende Ausdehnungstendenz des Landadels und die wissenschaftliche Rationalisierung der Landwirtschaft (Fruchtwechsel, Stallfütterung) sowohl die Größe und damit die Marktleistungsfähigkeit der agrarischen Betriebe erhöht, als auch große Teile der bisherigen Kleinbauern zur Abwanderung in die Städte gezwungen.40 Hinzu kam, daß um 1750 die Gewerbefreiheit weitgehend hergestellt war, was u. a. die Wirkung hatte, daß zunächst zahlreiche Gewerbetreibende zur Arbeitslosigkeit »befreit« wurden. Der unmittelbare Anstoß der folgenden Bewegung muß wohl auch in den Kriegen gegen Frankreich und seine Verbündeten zwischen 1744 und 1763, die nahezu in der gesamten kolonial erschlossenen Welt geführt wurden, gesehen werden. Der Frieden von Paris (1763) offenbarte Englands politische und koloniale Führungsrolle in der Welt.

Die damit verbundene Ausdehnung des äußeren wie des inneren Marktes für den Handel verlangte aber ein gleiches für die Produktion. Hierdurch wurde ein Widerspruch offenkundig. »Die alten Produktionsmethoden und Werkzeuge begannen jetzt zu einem Hindernis für den sich ausdehnenden Markt und die entsprechende Erweiterung der Produktion zu werden.«41 Diese Situation erst stellt die Konstellation für die industrielle Revolution dar. Hier haben drei Prozesse ineinanderzugreifen: 1. Die nun unzureichenden Werkzeuge der Manufakturbetriebe müssen durch Maschinen mit potenzierter Produktivität ersetzt werden. England wird in den 60er Jahren das Land der technischen Erfindungen; es sei nur an die Dampf-, Spinn- und Webmaschinen erinnert und an den technischen Fortschritt für den Bau des ersten ökonomisch bedeutenden Kanals. 2. Bau und Inbetriebnahme der neuen Maschinen und Transportmittel sind nur durch Anlage größerer – meist aus dem Handel stammender – Kapitalien, als »konstantem fixem Kapital«, möglich. Gerade dieses unterscheidet den Industriebetrieb von der Manufaktur, und erst ab der Zeit der ersten Massenanlage solchen konstanten fixen Kapitals kann man – bei gleichzeitig herrschender freier Konkurrenz – von der eigentlichen kapitalistisch-industriellen Revolution sprechen. Die Vorbereitungs- und Mobilisierungsperiode hierfür erstreckte sich in England auf die Periode zwischen den 50er und den beginnenden 80er Jahren. 3. Diese Umstellung auf eine neue, leistungsfähigere Produktionsform zerstörte zwar auf der einen Seite die Existenzgrundlage für viele unter den alten Bedingungen Beschäftigte, war mit Not und Verunsicherung verbunden. Auf der anderen Seite war sie aber angewiesen auf die Rekrutierung einer weit größeren Zahl von Arbeitern, als sie die bisherige Wirtschaftsform beschäftigen konnte. Sie führte zur Massenanlage nicht nur von konstantem Kapital, sondern auch von variablem Kapital, d. h. sie bedurfte der massenhaften Mobilisierung möglichst billiger und kalkulierbarer menschlicher Arbeitskraft und ihre Einbeziehung in die kapitalistisch organisierte Wirtschaft.42

Diese Prozesse – namentlich der letztere – waren von tiefgreifenden Veränderungen in der Struktur der Gesellschaft und der bürgerlichen Öffentlichkeit begleitet. Gegenüber dem Führungsanspruch der aristokratischgroßbürgerlichen Klassen, der »guten Gesellschaft«, entwickelte sich das – wenn auch widersprüchliche – Selbstbewußtsein einer breiten mittel- und kleinbürgerlichen Schicht. Das zeigte sich in ökonomischer Hinsicht. Bei Verarmung eines Teils der Mittelschicht stieg ein anderer Teil – durch Expansion des Warenverkehrs und Industrialisierung, d. h. nicht nur als Kaufmann, sondern auch als Unternehmer, Ingenieur oder Kolonialbeamter – zu neuem Besitz und Ansehen auf, das wenig gemein hatte mit dem des Kaufmanns alten Stils oder des Landadels. Gleichzeitig bringt die »Revolution des Gefühls«, die romantische Stilisierung des Privaten und Innerlichen, der Mittelschicht das Selbstbewußtsein des endgültigen Sieges über aristokratischen Rationalismus und Skeptizismus, und das in dem Augenblick, da ihr die soziale »Nachtseite« sichtbar zu werden beginnt. Dies ist im Zusammenhang mit der Hysterie noch aufzugreifen.

Zugleich findet durch diese Vorgänge eine Dissoziation der bürgerlichen Öffentlichkeit statt. Wo diese sich nicht mehr defensiv gegen den äußeren Zwang absolutistischer Autoritäten zu konstituieren hat, sondern nach ihrem Sieg sich als »Gesellschaft« gleichsam mit sich selbst auseinandersetzt, erweist sich die Fiktivität der Lockeschen Identität des gesellschaftlichen Individuums als Eigentümer und Mensch. Politische und literarische Öffentlichkeit treten auseinander. Es kommt zum Begriff des Eigentums als Aneignungsrecht des für den eigenen Bedarf arbeitenden Kleineigentümers das Recht auf Eigentumswahrung hinzu, das Recht auf systematische Verwertung von Großeigentum an Wirtschaftsgütern.43 Es erfolgt der Schritt zur »Politischen Ökonomie« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die die von Locke immer noch naturrechtlich formulierten Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates »zu Naturgesetzen der Gesellschaft selbst erklärt«.44 Adam Smith tritt seine Professur in Glasgow 1751 an. Dieser Bewegung immanent ist der Widerspruch zwischen ökonomischem und politischem Liberalismus. Zugleich entwickelt sich aus der literarischen Öffentlichkeit die Bewegung auf das Unmittelbare des »rein Menschlichen«. Sie entfaltet sich literarisch in der Romantik, politisch im Anspruch auf die Menschenrechte, und die Naturwissenschaften gewinnen getrennt und doch parallel zu ihrer wachsenden Objektivierung und Neutralisierung eine humanitäre, philanthropische Dimension; dies bezeichnet funktionell den Ort, an dem innerhalb der Medizin die Psychiatrie entsteht. Allen drei Entfaltungsrichtungen wohnt die Gefahr inne, den Menschen als abstrakt Subjektives – unter Kurzschließung seiner gesellschaftlichen und ökonomischen Existenz – auf einen abstrakt objektiv verstandenen Staat zu beziehen. Hier stellt die Moralphilosophie einen Vermittlungsversuch dar, indem sie kritisch die Nützlichkeit des bürgerlichen Wirtschaftens und der staatlichen Autorität in Einklang zu bringen trachtet – im Dienst einer »natural history of civil society«, nach der die Menschengattung von Natur aus dazu disponiert ist, ihre Lebensumstände zu verbessern.45

Konstitutiv für all diese Vorgänge ist indessen ein bisher nur peripher erwähnter Umstand, der wohl am meisten dazu beitrug, daß diese in radikaler Weise die Gesellschaftsstruktur veränderten, und der sie erst als einheitliche Bewegung verständlich macht. Die vom Standpunkt des Absolutismus und der bisherigen sozialen Erscheinungsformen des Naturrechts vernünftige Ausgrenzung der Unvernunft brach zusammen. In doppelter Expansion drang die Unvernunft – im Kern: die Armen und die Irren – in die bürgerliche Gesellschaft ein, und dehnte umgekehrt die Gesellschaft ihren zugleich befreienden und integrierenden Anspruch auf die Unvernunft aus, ohne daß dieser ambivalenten Dynamik widerspruchsfreie Formen zu Gebote standen. Das soziale Sichtbarwerden der Unvernunft vollzog sich in den einzelnen Dimensionen verschieden, überall jedoch mit buchstäblich »gemischten Gefühlen«. In der Wirtschaft stand der Abstiegsangst ruinierter Bauern und Kleinbürger der ständig wachsende Bedarf der Industrie an menschlicher Arbeitskraft gegenüber, und zwar – unter den Bedingungen der beginnenden Kapitalisierung – ein Bedarf an Menschen, gerade insofern sie arm, d. h. bedürftig und frei, d. h. ausgegrenzt aus tradierten sozialen Bindungen, also absolut verfügbar waren. Dem politischen Denken erschien diese Grenzaufhebung unter dem doppelten Aspekt der Ausdehnung des Rechts auf Freiheit auf alle Menschen und des Anspruchs ebenso umfassender Integration und der Verhinderung politischen Aufruhrs. Die Romantik erlebte sie – bedrohlich und faszinierend – als die Macht des Irrationalen. Nicht anders wurde sie von den Kirchen erfahren: zugleich als Bedrohung ihrer Zuständigkeit für die bürgerliche Moral und als Aufruf zu erweiterter caritativer und seelsorgerischer Tätigkeit. Besonders die Medizin wurde hierdurch einer Verflechtung dieser verschiedenen und gegensätzlichen ökonomischen Bedürfnisse, politischen Ansprüche, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Objektivierungen und humanitären Versprechen ausgesetzt, von der sie wohl durch ideologische Verdeckung, aber nie mehr faktisch loskam. Sie erlangte gesellschaftliche Autorität als Wissenschaft, auch unabhängig von dem von ihr jeweils erreichten Stand des Wissens und der Technik. Das gilt von der Medizin im allgemeinen, z. B. im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Seuchenbekämpfung, die Verlängerung der Lebenserwartung, die allgemeine Hygiene (Ernährung, Kleidung, Wohnung) und die Intensivierung der Arbeitsleistung. Aber ebenso bedeutsam war die Arbeitsteilung, die die Medizin vornahm, indem sie die Konstituierung einer eigenständigen Psychiatrie betrieb. Hierdurch erst wurde es möglich, zu einer Differenzierung und Entmythologisierung der klassischen Unvernunft zu kommen, d. h. dem »harten Kern« der Unvernunft, dem Irresein als Krankheit eine rationale Institution zuzuweisen, um der großen Mehrheit der Unvernünftigen – den Armen – viel von der in ihr gefürchteten Gefährlichkeit zu nehmen und sie umso reibungsloser in die neue Vernünftigkeit, die der Ökonomie, eingliedern zu können. Denn umgekehrt war es so, daß nicht so sehr die philosophische Deduktion der Unvernunft, nicht ihre bürgerliche Form, die Hysterie, zur Psychiatrie führten, auch nicht die Existenz der privaten Mad-Houses und die Sorge, die Defoe sich um dorthin exilierte bürgerliche Ehefrauen machte, sondern das gesellschaftliche Sichtbarwerden der Unvernunft, d. h. der Irren als »arme Irre«.

Das gesellschaftliche Interesse an den »armen Irren« hatte sich indessen schon in einigen Hinsichten angekündigt, freilich noch kaum im medizinischen Bereich. Zu diesen vorbereitenden Vorgängen gehört es, daß 1736 durch Act of Parliament alle Gesetze »against Conjurations, Inchantments, and Witchcrafts« aufgehoben wurden, die die Grundlage waren zur Verfolgung von Irren als Besessene, Hexen oder Zauberer.46 In Erweiterung des Gesetzes von 1714 wurde 1744 von Gemeinden nicht mehr nur verlangt, ihre »pauper lunatics« zur Sicherung der Öffentlichkeit an einen festen Ort zu bringen, sondern es sollte auch Sorge für ihre Heilung getragen werden: »curing such Person during such Restraint«.47 In der wissenschaftlichen Öffentlichkeit der Ärzte setzte die Diskussion über die »armen Irren« in nennenswertem Umfang später als in der politischen Öffentlichkeit ein.48

Neben den Gesetzgebern wurden die Kirchen frühzeitig aufmerksam. Namentlich soweit sie politisch machtlos waren, entwickelten sie eine zum Teil enthusiastische gesellschaftliche Aktivität. Das gilt vor allem für die methodistische Bewegung und ihren Führer John Wesley. Hier ist der Staat zwar die Verwirklichung der Legalität, aber nicht der Moralität, die vielmehr erst durch die Tätigkeit der Bürger oder durch die Kirchen in den Staat hineingetragen werden muß. Es gelang John Wesley zusammen mit seinen Mitarbeitern und Nachfolgern, die neuen Massen, welche die Industrielle Revolution hervorbrachte, dem Christentum nahezubringen. Mit Recht ist gesagt worden, daß Wesley mit seinen enthusiastischen und volkstümlichen Bekehrungsmethoden der Notleidenden »eine große politische und soziale Revolution in England verhindert hat«.49 Wesley begann 1738 mit seinen, den Bürger in ihrer doppelten Unmittelbarkeit erschreckenden Predigten für die »freien« Armen und in der »freien« Natur.50 Leiden und Schmerz waren die höchst realen Themen, wenn auch die Arbeiter entpolitisierend. Es waren das dieselben Gefühle, die das Bürgertum alsbald sublimiert in der Romantik zu leiden und zu genießen sich anschickte. Wesleys Interesse betraf aber nicht nur das geistliche, sondern auch das körperliche Heil. Schon 1747 verfaßte er in populärer Form Anweisungen für die Selbstbehandlung. In nichts entsprachen jedoch seine Anschauungen von der Spiritualisierung des Körperlichen zugleich mehr den medizinischen Vorstellungen seiner Zeit als im Phänomen der Elektrizität. Unmittelbar nach den ersten therapeutischen Experimenten Franklins mit einer »electric treatment machine« übernahm Wesley diese Methode – mehr als 10 Jahre, bevor sie Eingang in ein Krankenhaus fand. Nach und nach erwarb er mehrere Apparate, um die Behandlung der Armen kostenlos durchzuführen. 1760 brachte er seine Erfahrungen zu Papier unter dem bezeichnenden Titel The desideratum: or, electricity made plain and useful. By a lover of mankind, and of common sense. Es war für ihn vor allem das billigste »and rarely failing Remedy, in nervous Cases of every Kind«.51 Indem er zeigt, daß Hysterie bzw. Spleen nicht mehr das Vorrecht der guten Gesellschaft waren und sich ihre körperliche Qualität zunehmend in eine psychischmoralische umwandelte, wird deutlich, wie weitgehend es sich hier um gesellschaftliche Bedürfnisse handelt, denen sich die medizinische Wissenschaft zum Teil sekundär anpaßt. In seinem Tagebuch reflektiert Wesley 1759: »Why, then, do not all physicians consider how far bodily disorders are caused or influenced by the mind?«52

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