Diese hat das Landgericht nicht in dem gebotenen Umfang vorgenommen. Zwar hat es […] zutreffend angenommen, dass eine ausdrückliche Erörterung der Frage, ob ein Arzt einen Patienten vorsätzlich am Leben oder an der Gesundheit geschädigt hat, geboten ist, falls nach Eintritt von Komplikationen der Arzt aus sachfremden Motiven keinen Rettungswagen angefordert hat. Das Vorliegen solcher Motive beschreibt indes keinen Erfahrungssatz, aus dem auf das Willenselement des bedingten Tötungsvorsatzes zu schließen wäre, sondern diese bedürfen ihrerseits wertender Betrachtung im Rahmen der gebotenen Gesamtschau.
Die Schwurgerichtskammer hat […] nicht auf Äußerungen des Angeklagten selbst und offensichtliche, absehbar dramatisch verlaufende lebensbedrohende Verletzungen abstellen können, aus denen weitergehend auf sachfremde Beweggründe seines Handelns zu schließen war.[16] Sie hat allein den Vertuschungshandlungen […] das Motiv entnommen, zum Schutz seiner eigenen Interessen eine Aufdeckung seines ärztlichen Fehlverhaltens zu verhindern; dieserhalb habe er sich mit dem Tod der Patientin abgefunden. Diese Schlussfolgerung entbehrt indes der argumentativen Auseinandersetzung mit gegenläufigen, im Urteil festgestellten Umständen, die vielmehr die Annahme bewusster Fahrlässigkeit rechtfertigen könnten.
Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass ein rational verankerter Zusammenhang zwischen dem angenommenen Handlungsmotiv – Vertuschung von Fehlern zur Schonung eigener Interessen – und dem Tod der Patientin wenigstens bei zu erwartendem Todeseintritt in der Tagesklinik des Angeklagten schwerlich bestehen kann: Dass die Operation ohne Anästhesist, aber mit Komplikationen vorgenommen worden war, konnte keinesfalls – schon gar nicht gegenüber dem ständig auf Aufklärung dringenden Ehemann der Patientin – längere Zeit verborgen werden. Ein Todeseintritt in der Tagesklinik hätte bei der zur Wahrung zivilrechtlicher Ansprüche des Nebenklägers sicher zu erwartenden Obduktion die Erkenntnis der wahren Todesursache, der ärztlichen Fehler des Angeklagten, ergeben. Zudem erwägt das Landgericht im Rahmen von Überlegungen zu einem Rücktritt vom Totschlagsversuch, dass der Angeklagte »es für möglich hielt, dass Sch. ohne Verlegung auf eine Intensivstation sterben würde«; hiernach hielt er sogar zu einem relativ späten Zeitpunkt noch eine Rettung der Patientin im Krankenhaus für möglich. Einer starken Skepsis am Überleben der Patientin und einer damit einhergehenden Billigung ihres Todes wenigstens bis zum Transport ins Krankenhaus widerstreiten namentlich die […] festgestellten Antriebe für das pflichtwidrige Handeln des Angeklagten, nämlich »Eigenüberschätzung und Verbohrtheit«.
Die Annahme des Willenselements des Tötungsvorsatzes vor dem Entschluss des Angeklagten, die Patientin in ein Krankenhaus zu verlegen, hat demnach keinen Bestand.“
49
Zugleich kritisierte der BGH eine verfehlte Abgrenzung von Tun und Unterlassen hinsichtlich der unzureichenden postoperativen Versorgung,[17] für die er allerdings auch die Möglichkeit eines Verdeckungsmordes durch Unterlassen hervorhob:[18]
„Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass der Angeklagte den lebensbedrohlichen Zustand seiner Patientin erkannte, und hat angenommen, dass – freilich ohne Begründung im Einzelnen – er an eine noch mögliche Rettung im Krankenhaus geglaubt hat. Unter diesen Prämissen hat es das Landgericht unterlassen zu erwägen, ob ein untauglicher Unterlassungsversuch der Tötung zur Verdeckung der zuvor erfolgten Körperverletzung vorliegen kann […]. Solches anzunehmen kommt […] für das neu berufene Tatgericht in Betracht, falls sich feststellen lassen sollte, dass der Angeklagte nach Erkennen der Todesgefahr geplant hat, mit der Einlieferung so lange zu warten, bis die Patientin im Krankenhaus sicher versterben würde. Hierdurch hätte möglicherweise ein Nachweis seiner eigenen Verursachung erschwert oder gar unmöglich gemacht werden können.
Ein weiterer Anknüpfungspunkt der neu vorzunehmenden Beweiswürdigung und Bewertung unter diesem Aspekt könnte sein, dass der Angeklagte in Kenntnis der Gefahr eines tödlichen Verlaufs der Erkrankung seiner Patientin bei angenommener Rettungsmöglichkeit gegen 18.30 Uhr – gerade in der Intensivstation – ein Bett bestellt hat und dabei die nachfolgende sachwidrige Verzögerung dieser Rettungschance auf den Willen des Angeklagten zurückzuführen sein könnte, um das Versterben der Patientin im Krankenhaus zur Schonung eigener Interessen zu fördern […].“
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Im Anschluss an das Revisionsurteil wurde der angeklagte Arzt im neuen Verfahren vor dem LG Berlin zu einer Freiheitsstrafe von 7 ½ Jahren wegen versuchten Mordes und einem sofortigen Berufsverbot von 5 Jahren verurteilt. Dieses Urteil hob der BGH[19] abermals infolge einer unzureichenden Darlegung des Tötungsvorsatzes auf. Die Beweiswürdigung krankte insbesondere daran, dass das Tatgericht ein Tötungsmotiv unschlüssig aus der bestreitenden Einlassung des Angeklagten herleiten wollte, mit der dieser anschließend handelnde Ärzte verantwortlich machen wollte.[20] Er sprach den Arzt abschließend wegen § 227 StGB schuldig. Hinsichtlich des Strafmaßes verwies es den Fall an das LG Berlin zurück, das sodann auf eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren und ein Berufsverbot von 4 Jahren erkannte. Diese Strafe hatte bestand.[21]
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Die vorsichtig tendierende Rechtsprechung wird im Schrifttum teilweise als eine verfehlte „Heilwillentheorie“ kritisiert, die allzu abstrakte Betrachtung fördere und sachverhaltsabgewandt die Vorsatzfeststellung zulasten der Ärzte erschwere.[22] Daran ist richtig, dass eine fallabgewandte, belastende Indizien des Einzelfalles nicht mehr wahrnehmende Entscheidungspraxis ein unbegründetes und allzu pauschales „Ärzteprivileg“ schaffen würde.[23] Die schon allgemein zu befürwortende Vorsicht darf diese Überlegung ihrerseits aber nicht überspielen. Es besteht insbesondere kein Grund, gerade beruflich bedingt mit Todesfällen konfrontierte Ärzte nun regelmäßig mit Schwurgerichtsverfahren zu überziehen. Ebenso darf auch bei den Ärzten nicht übersehen werden, dass bei der Tatfrage des Vorsatzes unterschiedliche Würdigungen des Einzelfalles möglich sind. Allein der Umstand, dass etwa im Fall des Schönheitschirurgen ein anderes Ergebnis bei nuanciert anderen Feststellungen vertretbar erscheint, macht weder die Rechtsprechung des BGH noch die Einzelfallentscheidung unrichtig.[24]
[1]
Vgl. die Nachweise bei Ulsenheimer MedR 1987, 208.
[2]
Zur jurist. Verarbeitung OLG Oldenburg medstra 2019, 101 und Dann medstra 2019, 1 f.
[3]
Zu diesem Problemkreis siehe eingehend zum Meinungsstand m.w.N. Krell medstra 2017, 3 und 90; J. Krüger HRRS 2016, 148 f.; siehe ferner Rn. 1160 ff.
[4]
Dazu anhand des Eröffnungsbeschlusses OLG Oldenburg medstra 2019, 101, 103 f.
[5]
Bestätigend BGHSt 56, 277, 287 ff. In diesem Verfahren wurde der Angeklagte schließlich wegen versuchten Mordes verurteilt, Ulsenheimer, Vorauflage, Rn. 618.
[6]
M.w.N. zu diesem allgemeinen Maßstab OLG Oldenburg medstra 2019, 101, 103 f.
[7]
Gleichsinnig etwa schon BGH NStZ 2004, 35, 36; medstra 2015, 41, 44 – Rn. 45 (nicht am Wohl des Patienten ausgerichtetes Handeln häufig fernliegend); Ulsenheimer, Vorauflage, Rn. 618; Spickhoff/Knauer/Brose §§ 211, 212 Rn. 16; letztlich wohl auch Kudlich NJW 2011, 2856, 2857.
[8]
Siehe auch schon BGH NStZ 2004, 35, 36 f.: Erörterung unter besonderen Umständen geboten.
[9]
Hier für einen hinreichenden Tatverdacht bzgl. vorsätzlichen Handelns OLG Oldenburg medstra 2019, 101, 103 f.
[10]
Siehe auch mit einer bemerkenswerten Einreihung in die allgemeine Auseinandersetzung um das rechte Verständnis der „Hemmschwellentheorie“ OLG Oldenburg medstra 2019, 101, 103 f., aber mit einer – für den Fall – doch sehr weitgehenden Einforderung vertrauensbegründender Umstände.
[11]
BGHSt 56, 277, 284 ff.; bekräftigend m.w.N. BGHSt 63, 88, 93 ff.; m.w.N. Matt/Renzikowski/Gaede § 15 Rn. 8, 15 ff., 26.
[12]
Anhand der Fälle zur Manipulation der Organvergabe BGHSt 62, 223 = BGH medstra 2017, 354, 359 f. – Rn. 47 ff.; zur aufgeschobenen Patientenverlegung BGHSt 56, 277, 284 ff.
[13]
Bekräftigend m.w.N BGHSt 63, 88, 93 ff; BGH NStZ 2004, 35, 36; m.w.N. Matt/Renzikowski/Gaede § 15 Rn. 22 f.; a.A. – in Abweichung vom geltenden Recht – Kubiciel/Wachter HRRS 2018, 332 und Puppe ZIS 2017, 439.
[14]
BGHSt 56, 277 ff. = NJW 2011, 2895 = MedR 2012, 111 = NStZ 2012, 86; fortführend dann BGH NJW 2012, 2898. Eine Einordnung unter § 227 StGB akzeptiert auch BGH BeckRS 2004, 14880.
[15]
BGHSt 56, 277, 284 ff.
[16]
Zu entsprechenden Umständen beispielhaft BGH NStZ 2004, 35.
[17]
BGHSt 56, 277, 286: Schwerpunkt des Vorwurfs lag auf dem Unterlassen der Veranlassung der medizinisch gebotenen cerebralen Reanimation in einer Intensivstation eines Krankenhauses und nicht im bloßen Zuführen – zudem eher nutzloser – kreislaufstabilisierender Medikamente.
[18]
BGHSt 56, 277, 287 ff., u.a. auch mit näheren Erwägungen zu den Mordmerkmalen einschließlich der sonst niedrigen Beweggründe.
[19]
BGH NJW 2012, 2898.
[20]
Dazu näher BGH NJW 2012, 2898 f.
[21]
BGH Beschl. v. 10.3.2014 – 5 StR 51/14.
[22]
J. Krüger HRRS 2016, 148, 151 ff., u.a. mit einem Rekurs auf die fragwürdige Maßstabsanwendung im „Fall Céline“; Neelmeier ArztR 2011, 256, 263; LK/Rissing-van Saan/Zimmermann § 212 Rn. 44 f.; verhaltener krit. Sternberg-Lieben/Reichmann MedR 2012, 97 ff.; siehe auch die Berliner Verurteilung besonders begrüßend Neelmeier DÄBl. 2012, A 856.
[23]
Treffend auch LK/Rissing-van Saan/Zimmermann § 212 Rn. 44: Bei belastenden Indizien kann die Ablehnung des Vorsatzes nicht allein auf einen allgemeinen Heilungswillen gestützt werden.
[24]
Zum zugrundeliegenden Vorsatzverständnis nochmals m.w.N. Matt/Renzikowski/Gaede § 15 Rn. 21 ff., 24 f.
Kapitel 1 Das materielle Arztstrafrecht Vorbemerkung › Teil 1 Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) und fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB)
Inhaltsverzeichnis
I. Der Deliktsaufbau der Fahrlässigkeitstat
II. Die Elemente des Unrechtstatbestandes
III. Begriff und Erscheinungsformen des Behandlungsfehlers
IV. Organisationsfehler, insbesondere im Rahmen der Arbeitsteilung
V. Aufklärungsmängel und ihre strafrechtliche Bedeutung
VI. Die Aufklärung als Wirksamkeitsvoraussetzung der Einwilligung
VII. Die Zurechenbarkeit des Erfolges
VIII. Die objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges
IX. Die praktisch relevanten Rechtfertigungsgründe im Arztstrafrecht
X. Voraussetzungen des Schuldvorwurfs wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung
XI. Die Körperverletzungsdelikte §§ 223 ff., § 340 StGB
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In eingreifend wirkenden Wunsch- oder Heilbehandlungen liegt nach der Rechtsprechung regelmäßig eine immerhin tatbestandlich erfasste Körperverletzung nach den §§ 223 ff. StGB (näher hierzu Rn. 596 ff.), die der bewusst agierende Arzt im Sinne des Strafrechts vorsätzlich verwirklicht. Weil der Arzt aber regelmäßig von einer hinreichenden Einwilligung ausgehen (zum oft begründeten Erlaubnistatbestandsirrtum Rn. 501) und weder den Tod noch einen Behandlungsfehler in Kauf nehmen wird (siehe schon Rn. 44 ff.), stehen in der Praxis nicht die Vorsatzdelikte im Vordergrund. Ist ein Todesfall möglicherweise behandlungsbedingt eingetreten, ist vielmehr die fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB das primär zu erwägende Delikt. Steht die körperliche bzw. gesundheitliche Beeinträchtigung des Patienten im Übrigen in Rede, stellt sich die Frage nach einer fahrlässigen Körperverletzung gem. § 229 StGB. Für beide Delikte müssen Grundlagen und Details der Fahrlässigkeitstat bekannt sein. Sie werden vor allem anhand des besonders erheblichen Tatvorwurfs der fahrlässigen Tötung behandelt, der nach diversen Behandlungsfehlern erhoben werden kann. Abschließend werden auch die verschiedenen vorsätzlich begangenen Körperverletzungsdelikte behandelt.
Kapitel 1 Das materielle Arztstrafrecht Vorbemerkung › Teil 1 Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) und fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) › I. Der Deliktsaufbau der Fahrlässigkeitstat
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Die Prüfung der fahrlässigen Erfolgsdelikte erschöpft sich keineswegs, wie man bisweilen bei der Lektüre von Anklageschriften, Verteidigerschriftsätzen und Gerichtsurteilen meinen könnte, in der Feststellung einer Sorgfaltspflichtverletzung und des Erfolgseintritts. Schon der Gesetzeswortlaut in §§ 222 und 229 StGB formuliert: Wer „durch“ Fahrlässigkeit den Tod oder die Körperverletzung eines Menschen verursacht, wird bestraft. Er verlangt damit eine kausale und zurechenbare Verknüpfung zwischen fahrlässigem Verhalten und Rechtsgutsverletzung.
Fahrlässig im Sinne des Strafrechts handelt auch im Sinne der Rechtsprechung nur derjenige, der die objektiv gebotene Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet und imstande ist, und gerade durch das pflichtwidrige Tun/Unterlassen den inkriminierten Erfolg herbeiführt, der objektiv und für den Täter subjektiv voraussehbar und vermeidbar war.[1] Hat dieser die Möglichkeit des Erfolgseintritts nicht erkannt, spricht man von „unbewusster“, anderenfalls von „bewusster“ Fahrlässigkeit (wenn sein Vertrauen, „es werde schon gut gehen“, vorwerfbar ist).[2]
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Im Einzelnen setzt der Deliktsaufbau der Fahrlässigkeitstat folgende Elemente voraus:[3]
1. | Auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit: a) Eintritt des tatbestandlichen Erfolges (Tod oder Körperverletzung des Patienten, gerade zu letzterem näher Rn. 596 ff.) durch Tun oder Unterlassen gebotener Maßnahmen und deren naturwissenschaftliche Kausalität für den Erfolg (conditio sine qua non); b) Die Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (objektiver Sorgfaltspflichtverstoß); c) Die objektive Vorhersehbarkeit der Tatbestandsverwirklichung; d) Die objektive Zurechenbarkeit des Erfolges unter insbesondere diesen vier Blickwinkeln: aa) dem sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang, d.h.: Der eingetretene Erfolg (Tod, Körperverletzung) muss gerade auf die Sorgfaltspflichtverletzung zurückzuführen, also bei pflichtgemäßem Verhalten des Arztes zu vermeiden gewesen sein; bb) der Prüfung der Frage, ob der eingetretene Erfolg im Rahmen des Schutzzwecks der verletzten Rechtsnorm liegt; cc) den Einschränkungen der Erfolgszurechnung auf Grund einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung oder -schädigung und schließlich dd) unter dem Aspekt des verdrängenden, insbesondere vorsätzlichen Dazwischentretens Dritter. |
2. | Auf der Ebene der Rechtswidrigkeit: Das Fehlen von Rechtfertigungsgründen (z.B. Einwilligung, mutmaßliche Einwilligung, rechtfertigende Pflichtenkollision, rechtfertigender Notstand) und Unrechtsausschlussgründen (z.B. nach Ansicht vieler der Erlaubnistatbestandsirrtum und die von der Rechtsprechung anerkannte hypothetische Einwilligung). |
3. | Auf der Ebene der Schuld: a) Die – im Arztstrafrecht selten problematische – Schuldfähigkeit; b) Die subjektive Fähigkeit, die objektiven Sorgfaltsanforderungen zu erkennen und zu erfüllen (individuelles Leistungsvermögen und Zumutbarkeit) sowie die subjektive Voraussehbarkeit des Erfolgs und der wesentlichen Elemente des Geschehensablaufs; c) Die Möglichkeit der Unrechtseinsicht (Verbotsirrtum, § 17 StGB). |
[1]
Zur st. Rspr. nur wieder BGH NJW 2018, 961, 962 und BGH HRRS 2020 Nr. 642.
[2]
BGH MedR 2004, 386, 387 = BGHSt 49, 1 ff.
[3]
Siehe dazu m.w.N. Matt/Renzikowski/Gaede § 15 Rn. 33 ff., 47 ff.
Kapitel 1 Das materielle Arztstrafrecht Vorbemerkung › Teil 1 Fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) und fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) › II. Die Elemente des Unrechtstatbestandes
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Der bloße Verstoß gegen die „Regeln der ärztlichen Kunst“, also lediglich die Verletzung irgendwelcher Sorgfaltspflichten, erfüllt für sich allein noch nicht den Tatbestand des fahrlässigen Erfolgsdelikts. Es muss gerade ein Erfolg eingetreten sein, der sich als das „Werk“ der sorgfaltswidrigen Handlung und damit des Täters darstellt. Basis dieser Zurechnungsprüfung, die mit der objektiven Zurechnung einschließlich des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs abgeschlossen wird, muss zunächst eine empirische Kausalität des Verhaltens sein:[1] Der Arzt muss durch sein pflichtwidriges Tun oder Unterlassen den Tod bzw. die Körperverletzung des Patienten verursacht haben. Danach „ist als haftungsbegründende Ursache eines strafrechtlich bedeutsamen Erfolges jede Bedingung anzusehen, die nicht hinweggedacht werden kann“ (bei Unterlassungen: nicht hinzugedacht werden kann), ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.[2] Hiermit gilt im Strafrecht die sog. Äquivalenztheorie, die mit dem Hilfsmittel der sog. Conditio-sine-qua-non-Formel geprüft wird. Nach ihr ist zwar eine einhundertprozentige naturwissenschaftliche Gewissheit weder zu fordern noch in der Regel – insbesondere im medizinischen Bereich – zu erreichen.[3] Es muss jedoch zur Überzeugung des Gerichts im Strafrecht feststehen, dass zum Beispiel der Tod einer Patientin auch auf dem Verhalten und damit etwa auf der Behandlung durch den etwaigen Täter beruht.[4]
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Die Äquivalenztheorie (Bedingungstheorie) wird im Strafrecht traditionell sowohl von der Rechtsprechung als auch heute noch von großen Teilen der Lehre im Schrifttum zur Feststellung der Ursächlichkeit einer Handlung und abgewandelt auch hinsichtlich Unterlassungen herangezogen und sodann durch die kumulative Prüfung der objektiven Zurechnung eingeschränkt.[5] Aus der Theorie und der von ihr genutzten Conditio-sine-qua-non-Formel ergeben sich eine Reihe wichtiger Folgerungen:
57-
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1. | Alle Bedingungen sind gleichwertig („äquivalent“), auch eine allein unzureichende Bedingung ist Ursache im Sinne dieser Theorie; es ist also gleichgültig, ob neben dieser Bedingung „noch andere Umstände zur Herbeiführung des Erfolges mitgewirkt haben“.[6] Wenn deshalb ein Arzt mehrere Behandlungsfehler begeht, genügt es für die Bejahung des Kausalzusammenhangs, wenn der Erfolg (Tod) bei Vermeidung aller Pflichtverstöße ausgeblieben wäre. Die „Verursachung“ durch einen bestimmten einzelnen dieser Fehler muss nicht nachgewiesen werden, solange klar ist, dass die Handlung(-en) den Erfolg ausgelöst haben.[7] |
2. | Es gibt auf der Ebene der Äquivalenztheorie, die sich auf die Feststellung des empirischen Ursachenzusammenhangs bezieht, keine „Unterbrechung des Kausalzusammenhangs“ durch das Dazwischentreten eines fahrlässig oder vorsätzlich handelnden Dritten: Die Kausalität eines Behandlungsfehlers des Chirurgen wird z.B. nicht dadurch beseitigt, dass dem Intensivmediziner, auf dessen Station der Patient verbracht wurde, gleichfalls ein Fehler unterläuft oder der Patient durch eigenes Missgeschick seine Verletzung verschlimmert.[8] Wird der Patient nach einer fehlerhaften Behandlung durch einen anderen Arzt weiterbehandelt, entfällt die Ursächlichkeit des Fehlers des Erstbehandelnden nur dann, wenn dessen Fehler sich auf den weiteren Krankheitsverlauf gar nicht mehr ausgewirkt hat.[9] Allerdings ist unter dem kumulativ erforderlichen Aspekt der objektiven Zurechnung denkbar, dass einem einzelnen Tatbeteiligten ein überwiegendes Maß an Erfolgsverantwortung zukommt, das die Verantwortung anderer in wertender Betrachtung verdrängt (dazu näher Rn. 549 ff.). |
3. | Scharf zu trennen von der „Unterbrechung des Kausalverlaufs“ und schon auf Kausalitätsebene beachtlich ist der „Abbruch einer Kausalreihe“. Diese Konstellation liegt vor, „wenn ein späteres Ereignis die Fortwirkung einer früheren Ursache beseitigt und unter Eröffnung einer neuen Ursachenreihe den Erfolg allein herbeiführt“.[10] Beispiel: Der Internist hat dem Patienten eine zu hohe Dosis eines Medikaments verschrieben, das nach einigen Tagen tödlich wirken würde. Noch bevor es dazu kommt, erhält der Patient bei einer Blutübertragung Blut der falschen Blutgruppe und stirbt infolge der Fehltransfusion, ohne dass die Übermedikation eine Rolle spielte. |
4. | Für die Bejahung der Kausalität genügt die Beschleunigung des Erfolgseintritts, wenn der Tod, der etwa auf Grund eines Verkehrsunfalls ohnehin eingetreten wäre, durch den Behandlungsfehler eines Arztes nun früher eintritt (dazu näher Rn. 523 ff.). |
5. | Obschon die Conditio-Formel auf eine hypothetische Ursachenelimination zurückgreift, zielt sie auf die Feststellung dessen ab, was tatsächlich geschehen ist. Entsprechend kommt es auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt an. Daher spielen hypothetische Reserveursachen im Strafrecht auf der Ebene der empirischen Kausalität keine Rolle; anders formuliert, ist die sog. überholende Kausalität unter Kausalaspekten unbeachtlich. Nicht real wirksam gewordene Kausalfaktoren bleiben also außer Betracht.[11] Infiziert etwa ein Arzt infolge mangelnder Hygiene einen älteren Patienten mit SARS-CoV-2, der absehbar demnächst an seiner Herzinsuffizienz gestorben wäre, bleibt der tatsächlich infolge COVID-19 eintretende Tod einzig maßgeblich. Zu beachten ist jedoch, dass hypothetische Rettungsverläufe im Ergebnis unstreitig im Strafrecht zugrunde gelegt werden (siehe zur Unterlassung näher Rn. 141 ff.). |
6. | Eine Sonderproblematik ergibt sich schließlich, wenn ein Arzt oder zwei Ärzte unabhängig voneinander dem Patienten eine jeweils für sich tödliche oder die Gesundheit schädigende Menge eines Medikaments geben. Jede dieser beiden Handlungen kann dann für sich (alternativ), nicht aber kumulativ hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele. Das Problem wird unter den Bezeichnungen „alternative Kausalität“ oder „Doppelkausalität“ behandelt. In diesen Fällen wird nach einhelliger Auffassung die Kausalität beider Handlungen bejaht, da jede zwar auch für sich allein zur Erfolgsherbeiführung ausgereicht hätte, beide Handlungen aber „tatsächlich in dem eingetretenen Erfolg wirksam geworden sind“.[12] Anders liegt der Fall, wenn zwei Ursachen gänzlich alternativ z.B. für einen Todeserfolg in Betracht kommen (Beispiel: Tod infolge aspirationsbedingter Lungenentzündung oder infolge eines hämorrhagischen Lungenödems) und eine der beiden Ursachen nicht auf dem Verhalten des Angeklagten (Arztes) beruht.[13] Hier muss in dubio pro reo gelten. |