Kitabı oku: «Arztstrafrecht in der Praxis», sayfa 7

Yazı tipi:
2. Die Verletzung der im Verkehr erforderlichen (objektiven) Sorgfaltspflicht

a) Behandlungsmisserfolg nicht gleichbedeutend mit Behandlungsfehler

63

Nicht schon das Misslingen einer Operation, das Scheitern eines Eingriffs oder ein Operations- bzw. Narkosezwischenfall begründen die strafrechtliche Haftung, vielmehr müssen eine Vielzahl von Voraussetzungen kumulativ zusammenkommen, ehe der Schuldvorwurf zu bejahen ist. Zu Recht hat deshalb schon das Reichsgericht gegenüber der vorschnellen Annahme von Fahrlässigkeit darauf hingewiesen, „dass auch der geschickteste Arzt nicht mit der Sicherheit einer Maschine arbeitet, dass trotz aller Fähigkeit und Sorgfalt des Operateurs ein Griff, ein Schnitt oder Stich misslingen kann, der regelmäßig auch dem betreffenden Arzt selbst gelingt“.[14] Es gibt „eine Grenze der vom Menschen auch beim besten Wollen und Können zu gewährleistenden Sicherheit, vor der auch alle zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Ahndung Halt machen muss,“[15] eine „Grenze der Toleranz gegenüber menschlichem Versagen“, die umso höher liegt, „je größer das Risiko und damit die Gefahr einer Sorgfaltspflichtverletzung ist“.[16]

64

Auch der BGH hat wiederholt gegenüber weit verbreiteten gegenteiligen Annahmen hervorgehoben: „Gerade wegen der Eigengesetzlichkeit und weitgehenden Undurchschaubarkeit des lebenden Organismus kann ein Fehlschlag oder Zwischenfall nicht allgemein ein Fehlverhalten oder Verschulden des Arztes indizieren“.[17] „Die Vorgänge im lebenden Organismus lassen sich nicht so sicher beherrschen, dass ein Misserfolg der Behandlung bereits den Schluss auf ein Verschulden zuließe“.[18] „Die Kausalverläufe bei ärztlichen Eingriffen sind, weil ein jeweils anderer Organismus betroffen ist, dessen Zustand und Reaktion nicht sicher berechenbar ist, weder vorausschauend noch rückwirkend eindeutig feststellbar. Misserfolge und Komplikationen im Verlauf einer ärztlichen Behandlung weisen deshalb nicht stets auf ein Fehlverhalten des behandelnden Arztes hin“.[19] „Allein der ausbleibende Heilerfolg“ ist noch kein Indiz für eine fehlerhafte Behandlung und ein ärztliches Verschulden.[20] Die Verwirklichung eines eingriffsspezifischen (methodenimmanenten) Risikos wie die Darmverletzung beim Einstich des Trokars im Rahmen eines laparoskopischen Eingriffs muss deshalb kein Verstoß gegen den gebotenen Sorgfaltsstandard sein.

b) Objektiv-typisierender Sorgfaltsmaßstab

65

Grundlage jeder Fahrlässigkeit ist die Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 BGB), deren Inhalt im Strafrecht ebenso wie im Zivilrecht nach herrschender Ansicht auf der Tatbestandsebene nach einem objektiv-typisierenden (nicht individuellen) Maßstab bestimmt wird[21] (siehe allerdings zu der in jedem Einzelfall [!] kumulativ zu prüfenden individuellen Schuld Rn. 589 ff.). Dies bedeutet für den Arzt und abgewandelt für andere Heilberufe konkret:

aa) Der Facharztstandard

66

Bei der Prüfung der Frage, welche Maßnahmen zu welchem Zeitpunkt objektiv geboten waren, stellt die Rechtsprechung auf das Leitbild des besonnenen und umsichtigen Angehörigen des betreffenden Verkehrskreises[22] und damit konkret auf den „Standard eines erfahrenen Facharztes“[23] des jeweiligen Fachgebietes ab. Dabei wird der „Standard“, synonym mit dem früher oft gebrauchten Terminus „Stand der Wissenschaft“, inhaltlich als das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis und Erfahrung bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, von einem durchschnittlich befähigten Facharzt verlangte Maß an Kenntnis und Können umschrieben.[24] Mit den Worten des Mediziners: als die gute, von Verantwortung getragene ärztliche Übung. Der Standard des jeweiligen Fachgebiets beruht also auf zwei Säulen: auf wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen und Erfahrungen einerseits und auf der Anerkennung dieses Wissenstandes in der Praxis des Medizinbetriebs andererseits. Beide Voraussetzungen – Begründung durch die Wissenschaft und Akzeptanz der maßgeblichen Fachkreise – müssen erfüllt sein, damit eine ärztliche Maßnahme, Methode, Diagnose oder Therapie zum „Standard“ avanciert. Wissenschaftliche Erkenntnisse allein ergeben noch keinen Standard![25] Der Standard bezieht sich dabei auf die Praxis im Inland.[26] Dass eine indizierte Maßnahme schon ganz allgemein in vergleichbaren Fällen zur möglichen Tatzeit durchgeführt wird, verlangt die Rechtsprechung nicht.[27]

67

Solange diejenige Sorgfalt eingehalten wird, die man von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs[28] in der konkreten Situation erwarten darf, solange ist rechtlich nichts einzuwenden (zur möglichen Individualisierung aber Rn. 120 ff.). Eine ärztliche Betreuung ist also nicht schon dann mangelhaft, „wenn sie nicht optimal ist“ bzw. nicht einer weltweit ermittelten „best practice“ entspricht; denn der „anerkannte juristische Maßstab ist von jeher – und nicht nur in der Medizin! – der Durchschnitt“.[29] Gefordert wird nicht jede erdenkliche, sondern nur, aber auch stets, gleichgültig ob im Krankenhaus oder in der Arztpraxis, bei ambulanten oder stationären Eingriffen, bei Privatpatienten, gesetzlich oder gar nicht Versicherten,[30] die Wahrung der berufsspezifischen Sorgfalt. Deren Maß und Umfang bestimmen sich nach dem Gewicht der jeweiligen Gefahr aus der Sicht ex ante und den in der einschlägigen ärztlichen Fachrichtung zu erwartenden Kenntnissen und Fähigkeiten.[31] Zusammenfassend lässt sich also formulieren: Sorgfaltswidrig handelt derjenige Arzt, der die Anforderungen, die an einen besonnenen und pflichtbewussten Kollegen in der konkreten Situation „bei einer Betrachtung der Gefahrenlage ex ante gestellt werden, nicht erfüllt“.[32]

bb) Die gebotene Sorgfalt

68

Dabei werden die Sorgfaltsanforderungen, deren Erfüllung vom Arzt im Einzelfall verlangt wird, von der Rechtsprechung bewusst hoch angesetzt.[33] „Der Arzt schuldet dem Patienten die Beachtung der gebotenen Sorgfalt, nicht nur der üblichen. Da der Patient darauf vertrauen darf, dass der Arzt alle, auch entfernte, Verletzungsmöglichkeiten in den Kreis seiner Erwägungen einbezieht und sein Verhalten bei der Behandlung danach einrichtet, ist der Arzt zur Beachtung der größtmöglichen Vorsicht verpflichtet. Die Gebräuchlichkeit eines Verfahrens reicht zur Vermeidung eines Behandlungsfehlers nicht aus, wenn nicht zugleich alles getan wird, was nach den Regeln und Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft zur Bewahrung des Patienten vor körperlichen Schäden getan werden muß […]. Mit dem Grad der Gefährlichkeit einer Behandlung steigt das Maß der erforderlichen Sorgfalt […]. Eine gewichtige Rolle für den Sorgfaltsmaßstab spielt auch das vom Patienten abzuwendende Risiko. Grundsätzlich gebietet es deshalb die ärztliche Sorgfaltspflicht, von vermeidbaren Maßnahmen abzusehen, wenn diese auch nur ein geringes Risiko in sich bergen […], d.h. der Arzt muss bei gravierenden Risiken für den Patienten auch unwahrscheinliche Gefährdungsmomente ausschließen“.[34]

cc) Erlaubtes Risiko als Grenze

69

„Eine Unsitte, welche den durch die allgemeinen Verkehrsrücksichten auferlegten Pflichten zuwiderläuft, kann ihre Berechtigung nicht darin finden, dass sie in einem mehr oder minder großen Kreis geübt wird“.[35] Deshalb kommt es – und insoweit herrscht Einigkeit – nicht darauf an, „ob eine medizinisch zur Abwendung eines erheblichen Gesundheitsrisikos für erforderlich gehaltene Behandlungsmaßnahme in der Praxis allgemein durchgeführt wird, sondern nur darauf, ob von dem behandelnden Arzt“ das entsprechende Wissen verlangt und die ärztliche Maßnahme mit den vorhandenen technischen Mitteln vorgenommen werden konnte.[36] Auch eine langjährige Übung ohne Zwischenfälle, die von dem bestehenden medizinischen Minimalstandard nachteilig abweicht, vermag nicht zu entlasten, wenn eine Komplikation eintritt und zu schweren gesundheitlichen Schäden führt.[37]

Zum Teil heißt es in der Rechtsprechung auch, der Arzt schulde „dem ihm anvertrauten Patienten die schnellstmögliche Anwendung der wirksamsten Therapie“,[38] doch ist vor einer Überspannung der Sorgfaltspflichten zu warnen, „insbesondere dort […], wo die Vornahme einer riskanten Handlung der Befriedigung oder Erhaltung wichtiger sozialer Interessen dient“.[39] Sorgfaltswidrig ist vielmehr auch nach dem Maßstab der Rechtsprechung nur die Überschreitung des erlaubten Risikos.[40] Die §§ 222, 229 StGB bedeuten keine Totalvermeidegebote, die jedes gefährliche Verhalten bei Strafe untersagen. Die Rechtsprechung bemüht sich im Strafrecht verstärkt, aber noch deutlich ausbaufähig,[41] die Situation des Handelnden ernsthaft nachzuvollziehen und die Pflichtwidrigkeit seines Handelns nicht ex post aus einem eingetretenen Schadensfall herzuleiten (sog. Rückschaufehler).[42] Beispielhaft führt der Gedanke des erlaubten Risikos dazu, dass Ärzte im Maßregelvollzug nicht schlechthin jedes Tatrisiko ausschließen können müssen, wenn sie für eine Lockerung votieren.[43] Regelmäßig liegt aber ein unerlaubtes Risiko vor, wenn sich jemand auf Handlungen einlässt, deren Gefahren er nicht zu beherrschen weiß (sog. Übernahmeverschulden).[44]

dd) Normativität des Standards

70

Begründet wird der strenge Maßstab zum einen damit, dass bei der ärztlichen Berufsausübung „höchste Güter des Menschen“ – Leben und körperliche Unversehrtheit – „auf dem Spiele stehen“,[45] und zum anderen damit, dass der Patient dem Arzt quasi schutzlos ausgeliefert ist und daher „Fehler des Arztes und seiner Hilfspersonen nur in seltenen Ausnahmen rechtzeitig erkennen und selbst Gegenmaßnahmen treffen kann“.[46] Deshalb gelten z.B. die „schon grundsätzlich hohen Sorgfaltsanforderungen für den besonders gefahrenträchtigen Bereich der Transfusionsmedizin erst recht“.[47] Standard ist daher „nicht nur eine Beschreibung tatsächlich geübten ärztlichen Verhaltens, sondern auch eine normative Kategorie in Gestalt von anerkanntem, auch in der juristischen Praxis für richtig und erforderlich angesehenem Verhalten“[48] und gilt deshalb – grundsätzlich unabhängig von den „Versicherungsverhältnissen“ – für alle Patienten in gleicher Weise (zum Problem siehe aber auch Rn. 75 f. und 81 ff.).[49]

c) Standard und Leitlinien

71

Im jüngeren medizinischen Schrifttum wird der Begriff des „Standards“ teilweise als zu streng empfunden, weshalb man zunehmend von „Leitlinien“ spricht, „um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen“.[50] Aus haftungsrechtlicher Sicht ist dies jedoch ein Irrtum oder Missverständnis. Denn die Rechtsprechung stellt zur Bestimmung des gesetzlichen Terminus „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ (§ 278 BGB) auf den „Facharztstandard“ oder den gleichbedeutend verstandenen Begriff des „Standes der Wissenschaft“ ab. Ausdrücklich betont der BGH,[51] dass „Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen medizinischen Standard gleichgesetzt werden“ dürfen. Denn dieser wird „nicht, jedenfalls nicht allein“ durch Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen der zuständigen medizinischen Fachgesellschaft oder sonstiger Gremien wie der Bundesärztekammer geprägt. „Vielmehr beurteilt sich die – bei der regelgerechten Behandlung – zu beobachtende Sorgfalt nach dem medizinischen Wissensstand zur Zeit der Behandlung“.[52] Derartige Richtlinien, Leitlinien oder Empfehlungen „können diesen Erkenntnisstand […] nur deklaratorisch wiedergeben, nicht aber konstitutiv begründen“,[53] sie haben keine Rechtsnormqualität.[54] Leitlinien sind zwar „regelmäßig eine zu beachtende Erkenntnisquelle“, doch fügt etwa das OLG Köln mit Recht einschränkend an, „allerdings nur dann, wenn sie den maßgeblichen Facharztstandard für den zu begutachtenden Fall mit seinen individuellen Gegebenheiten wiedergeben“.[55] Der Arzt muss deshalb, „um den erforderlichen Erkenntnisstand zu erlangen, die einschlägigen Fachzeitschriften des entsprechenden Fachgebiets, in dem er tätig ist, regelmäßig lesen“[56] und sich stetig zeitnah[57] fortbilden.

aa) Maßgeblichkeit des Standards

72

Deutlich und zutreffend kommt in diesen Urteilen die mögliche inhaltliche Verschiedenheit von Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen einerseits und dem fachspezifischen Standard andererseits zum Ausdruck, was vielfach von Juristen und Ärzten nicht beachtet wird. Der medizinische Standard – und nicht eine Richtlinie, Leitlinie oder Empfehlung – ist und bleibt im Haftungsprozess der entscheidende Maßstab. Ein besonders instruktives Beispiel für diese Tatsache ist folgende Entscheidung des OLG Düsseldorf.

Beispiel:

Konkret ging es um die Behandlung einer Patientin, die sich gegen Röteln impfen lassen wollte. Der daraufhin durchgeführte Röteln-Test ergab einen Wert, der nach den damals (1978) geltenden Mutterschaftsrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen in der Fassung vom 16.12.1974 eine Impfung nicht erforderlich machte. Da die 1980 geborene Tochter der Patientin jedoch die typischen Zeichen einer schweren Rötelnembryopathie aufwies, klagte sie gegen den Frauenarzt mit der Begründung, er hätte im Rahmen der Schwangerenbetreuung weitere Maßnahmen ergreifen, insbesondere den Testwert weiter abklären müssen.

Landgericht und Oberlandesgericht gaben der Klage statt und auch die Revision des beklagten Arztes zum Bundesgerichtshof hatte keinen Erfolg. Übereinstimmend erklärten die Gerichte, der Gynäkologe hätte sich bei der Betreuung der Patientin nicht auf die schon mehrere Jahre alten Mutterschaftsrichtlinien verlassen dürfen. Denn

„aufgrund der Darlegungen des Sachverständigen ist davon auszugehen, dass es auch nach dem damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisstand eines Facharztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe geboten war, bei dem erhobenen Wert eine Klärung der Immunitätslage herbeizuführen. Für den Fall eines Rötelnverdachts ergab sich daraus die Notwendigkeit, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um eine Gefährdung des Embryos hinreichend sicher auszuschließen“. [58]

73

Obwohl also unter Zugrundelegung der gültigen Mutterschaftsrichtlinien der betroffene Arzt von einer ausreichenden Immunitätslage der Patientin ausgehen durfte, wurde er rechtskräftig zu Schadensersatz verurteilt, weil es auf den zum Zeitpunkt der Behandlung geltenden „Stand der Wissenschaft“ (Facharztstandard), d.h. das in Wissenschaft und Praxis Anerkannte ankommt. Deshalb sind die Anforderungen an die Fortbildungspflicht des Arztes (näher zu ihr Rn. 132 f.) außerordentlich hoch, er muss die wissenschaftliche Diskussion verfolgen und den jeweiligen „state of the art“ kennen. Neue Erkenntnisse und Erfahrungen der Wissenschaft muss er kurzfristig umsetzen.[59] Denn der ständige wissenschaftliche und technische Fortschritt führt zwangsläufig dazu, dass die fachlichen Standards nicht etwas Gegebenes, Erreichtes, Abgeschlossenes sind, sondern einem fortschreitenden Prozess, einem ständigen Wandel und Wechsel unterliegen. Eine dauerhafte Übereinstimmung mit dem medizinischen Standard zu erreichen, setzt stetes Lernen und die Bereitschaft voraus, Neues in die Praxis umzusetzen.[60] „Richtlinien, Leitlinien und Empfehlungen geben im Idealfall“ den Standard lediglich „für einen gewissen Zeitraum wieder“.[61] Hinzu kommt, dass bisweilen selbst sog. evidenzbasierte Leitlinien fragwürdig sind, weil sie auf Studienergebnissen beruhen, die – von pharmazeutischen Unternehmen finanziert – nicht streng objektiv sind.[62] Deshalb muss der haftungsrechtliche Behandlungsstandard auch stets – und nicht nur „notfalls“, wie Ziegler meint[63] – von einem medizinischen Sachverständigen ermittelt und dem Gericht bzw. Staatsanwalt erläutert werden (siehe dazu Rn. 134).

74

Bei alledem wird nicht verkannt, dass die strukturierende Wirkung der verschiedenen Regelwerke die Qualität der Krankenbehandlung nicht selten fördern wird. Sie hilft, Über-, Unter- und Fehlversorgung zu vermindern. Indem sie Transparenz schafft, macht sie das Handeln des Arztes medizinisch messbarer und berechenbarer. Zu achten ist jedoch in jedem Fall darauf, dass sich nicht gesundheitsökonomische Ziele mit der lex artis vermischen.[64] Auch wenn nach wie vor die sog. best practice nicht sogleich der Standard sein kann, darf ein medizinisch längst als wissenschaftlich unstreitig überlegen und allgemein praktizierbar erkanntes Vorgehen nicht verdeckt zurückgesetzt werden; vielmehr wäre die Abschwächung aus rein wirtschaftlichen Gründen offen zu legen, damit ggf. eine Debatte um die notwendigen Mittel stattfinden kann. Ferner sollten alle Empfehlungen, Richtlinien und Leitlinien auf die haftungsrechtlichen Konsequenzen mangelnder finanzieller Mittel hinweisen, was derzeit aber leider nicht oder kaum geschieht.

bb) Prozessuale Bedeutung der Leitlinien

75

Richtig ist daher die in den Leitlinien der AWMF, der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., routinemäßig abgedruckte – oftmals überlesene – Anmerkung, dass weder die Befolgung noch die Abweichung von einer bestehenden Leitlinie stets – und hierauf liegt die Betonung – eine haftungsbefreiende bzw. haftungsbegründende Wirkung hat. „Das bedeutet, dass eine medizinische Behandlung, die nicht den Leitlinien entspricht, nicht zwingend behandlungsfehlerhaft ist“.[65] „Ärztlichen Leitlinien sind somit in der konkreten Behandlungssituation und damit auch in deren haftungsrechtlicher Beurteilung Grenzen gesetzt“.[66] „Vor einer Überbewertung der Leitlinien im Arzthaftungsprozess ist deshalb zu warnen“.[67] Es muss immer im konkreten Fall geprüft werden, ob insoweit Richtlinien, Leitlinien oder Empfehlungen bestehen (zur ggf. verteidigungsfördernden Wirkung Rn. 82), ob sie dem medizinischen Standard entsprechen und, wenn ja, ob der Arzt ihnen folgen muss oder sachliche Gründe für ein abweichendes Vorgehen sprechen bzw. es sogar erfordern. Dies gilt, wie ein Urteil des OLG Düsseldorf zeigt,[68] auch für die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Sie sind zwar nach § 91 Abs. 6 SGB V und nach der Rechtsprechung des BSG[69] für die gesetzlich Versicherten, die Krankenkassen, die an der ambulanten Versorgung teilnehmenden Leistungserbringer und für die zugelassenen Krankenhäuser als „untergesetzliche Normen“ rechtlich verbindlich und deshalb auch im Bundesanzeiger bekannt zu machen (§ 94 Abs. 2 SGB V). Entgegen der Ansicht des BGH[70] sind sie aber nicht notwendigerweise der „ärztliche Standard“[71].

cc) Differenzierung der Leitlinien

76

Nach der erwähnten Rechtsprechung haben die Richtlinien des GBA gem. § 92 Abs. 1 SGB V eine Sonderstellung, die auf der „Legitimation und Intention der regelschaffenden Institution[72] beruht. Sie sind von den Körperschaften der Krankenkassen und Ärzte auf Grund gesetzlicher Ermächtigung gemeinsam zu dem Zweck erlassen worden, eine den Vorgaben des Gesetzes entsprechende ambulante ärztliche Versorgung der Versicherten zu gewährleisten“.[73] Insofern wirken sie „nicht unerheblich auf das Entstehen eines medizinischen Standards“ ein,[74] da sich eine nach diesen Richtlinien nicht abrechnungsfähige Behandlung in Deutschland „schwerlich zum Standard wird entwickeln können“.[75]

77

Dagegen haben die Richtlinien der Bundesärztekammer grundsätzlich keinen Normcharakter, da die Bundesärztekammer „als privatrechtlicher Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Ärztekammern keine durch ihre Mitglieder (die Kammern) begründete Rechtssetzungsgewalt“ hat.[76] Sie sind deshalb „für den Richter, der in eigener Verantwortung über das Vorliegen“ eines Behandlungsfehlers zu urteilen hat, „zwar eine Entscheidungshilfe, sie entbinden ihn aber nicht von der Verpflichtung, auch unter Berücksichtigung abweichender Stellungnahmen der ärztlichen Wissenschaft in jedem Einzelfall zu prüfen“, ob ein Sorgfaltspflichtverstoß zu bejahen oder zu verneinen ist.[77]

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
2510 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783811406421
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip