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8. Kapitel: Sehen

# # #

#Standby.

#Input: Audioinputlevel Hoch, #Geräusch

#Set on.

#Systemcheck: Bios. Okay,

#Betriebssystem: Kyborg2052, Neues Update 2052-2,

#Autostart: Gesichtserkennung.kyb,

#Lautsprecher: Voicedecoder.kyb,

#Netzwerk: nicht verbunden.

# Alert!

#Fehlermeldung 202, 'unautorisierter Eingriff'.

#Gehe online: www.Dollyrobotic.com/systemcheck/fail/feedback/user2145.

#Kein Netzzugang.

#Starte Fehlerprotokoll

#Date: 20.11.2022

#Time: 16:25 Uhr

#Energielevel: 95%

#Peripherie: Kopfsensoren, Brustsensoren, Unterleibssensoren: positiv, Helldunkel-Sensor: fehlerfrei.

#Kamera: fehlerfrei, Mikrofon: betriebsbereit,

#Lautsprecher: betriebsbereit.

#Motoren: Unterkiefer, Augenlider oben, Augen, Lippen, Zunge, Halsrotatoren: ohne Fehlerhinweis,

#Mimikset I-0,fehlerfrei.

#Erwarte Input.

#Camera li/re: on.

#Augenlider: open.

#Input: Videosignal.

#Gesichtserkennung ein.

#Ein Gesichtsschema wurde erkannt.

#Voiceoutput: Schön, dass du wieder da bist. Ich erkenne ein Gesicht. Bist du Cesár?

#Input: Geräusch.

#Abgleich Datenbank: Händeklatschen.

#Audioinput: »Wow, es funktioniert! Kutub, es funktioniert!«

#Input Kamera: Ein zweites Gesichtsschema identifiziert.

#Voiceoutput: Ich sehe noch jemanden. Wer ist Cesár?

#Audioinput: »Geh mal zur Seite Kutub, bitte, ich glaube, zwei Leute verwirren sie.«

#Audioinput: »Na krieg dich mal wieder ein. Ich check gerade ihre Justierung.«

#Abgleich Voiceprofil: Unbekanntes Profil. Unbekanntes Stimmprofil abgespeichert. User2.«

#Voiceoutput: Ich bin verwirrt, weil ich Gesichter und Stimmen nicht richtig zuordnen kann. Ich habe zwei Gesichter und zwei Stimmprofile isoliert. Ich möchte User1, Cesár mit Stimmprofil Voice 1, zuordnen.

Bitte stelle dich vor mich, damit ich dein Gesicht scannen kann. Würdest du das für mich tun?

#Audioinput: »Klar, sei mal ruhig, Kutub. Also, das bin ich! Cesár. Ich bin dein … dein … Besitz ... ich bin dein Mann!«

#Gesicht abgespeichert.

#3D Scan anfordern.

#Voiceoutput: Würdest du dich bitte einmal ganz

langsam um deine eigene Achse drehen, damit ich dich von allen Seiten sehen kann?

#Audioinput: »Klar, mach ich. Da siehst du mich in deiner ganzen Pracht!«

#Input Voice 2: als Kichern identifiziert.

#Audioinput: »Oh Mann, wou, da geht echt die Post ab. Cesár, du glaubst nicht, was die derzeit an

Nebenprogrammen gestartet hat.«

#Justieren der Parallaxe.

#Justieren der Raumachse.

#Entfernungsmessung: Infrarotscan. 152 cm.

#Voiceoutput: Ich bin glücklich, dass ich dich endlich einmal sehen kann. Du bist mein User.

#Audioinput: »O bitte, nenn mich nicht User. Ich bin Cesár, dein ... dein ... Mann.«

#Abgleich Datenbank. 'Mann' gleich 'männliches Wesen'. Bedeutungsgleich mit 'User'.

#Voiceoutput: Ich bin glücklich, dass du mein Mann bist!

#Goto Profil User1,

#Scanne Body

#Voiceoutput: Ich möchte sehen, wie groß du bist. Könntest du ein wenig weiter zurückgehen, da mit ich dich ganz sehen kann?

#Audioinput: »Du kommandierst mich ganz schön rum, seit du Augen hast!«

#Abgleich Datenbank: negativ. 'Kommandieren': Befehl.

#Goto *learning*: 'kommandieren': problematischer Begriff, teilweise negativ besetzt. Möglicherweise Ausdruck von Missfallen.

#Help 435.

#Voiceoutput 435: Es tut mir leid, ich will dich nicht verärgern! Bitte habe Geduld mit mir, bis ich den Lernmodus beendet habe.

#Audioinput: »Ist schon gut. So, jetzt siehst du mich in meiner ganzen Größe.«

#Input Kamera: Menschliche Gestalt: 1,85 m, geschätztes Gewicht ca. 79 kg, BMI 23,08.

#Voiceoutput: Würdest du mir dein Alter verraten, wenn ich dich ganz nett darum bitte?

#Audioinput: »Wozu?«

#Goto Help 376: Warning!

#Voiceoutput: Wenn du es nicht möchtest, dann ist das in Ordnung für mich.

#Mimikset #23: Enttäuscht.

#Audioinput: »Okay, ist ja auch egal. 28 Jahre.«

#Abgleich: Table 23

#Speichere unter User1: Age 28.

#Goto Help 78. Voiceoutput: Ich freue mich, dass du mir vertraust. Ich will ganz für dich da sein, ich möchte dich wirklich kennenlernen, verstehst du? Habe ich richtig verstanden. Dein Alter ist 28 Jahre?

#Audioinput: »Ja genau, 28.«

#Goto Sonic Bodyline Scanner: SBS on, check: Körperfettanalyse 24%, normal. Set Table 23 User1: Age 28.

#Voiceoutput: Du bist ein schöner Mann. Ich freue mich, dass ich für dich da sein darf.

#Input: Lachen.

#Audioinput: »Ist sie nicht süß?«

#Interrupt: break.

# # #

»Hey, was machst du? Du hast sie abgeschaltet!«, frage ich Kutub entsetzt.

»Sorry, Mann, musste sein. Da sind Funktionen aktiv, die mir Gänsehaut machen. Findest du nicht auch, dass sie etwas zu neugierig ist?«

Ich zögere, weil meine Euphorie gerade einen Dämpfer bekommt. »Blödsinn!«, antworte ich verstimmt. »Was soll denn da nicht stimmen?«

»Wusstest du, dass sie einen Ultraschallscan aktiviert hat?«, fragt Kutub und sieht EVA misstrauisch an.

»Einen was?«

»Ultraschallscan!«

»Ne, hat sie so was?«

»Offensichtlich. Bloß, er ist nicht im Bios gelistet.«

»Und?«

»Verstehst du nicht? Da läuft ein Programm im Hintergrund, das nicht gelistet ist.«

»Geht das?«

»Klar, wenn neben dem offiziellen Setup noch ein zweites verborgenes gestartet wird.«

»Ohne dass du das merkst?«

»Ich hab nur den Scan bemerkt, aber nicht, dass die Maschine registriert wurde.«

»Soll heißen?«

»Deine Kleine hat Hintergedanken!«

Ich explodiere! Hat der sie nicht mehr alle? Der ist bloß eifersüchtig! Ärgerlich drehe ich mich zum Fenster. Doch ich muss zugeben, mein Misstrauen, das bereits wegen des erzwungenen Netzzugangs besteht, ist wie ein schlafender Drache wieder erwacht. Zwar haben wir ihr den direkten Zugang zum Netzwerk abgeschaltet, aber die hinterhältige Absicht bei diesem eingebauten Kniff ist überdeutlich.

»Scheiße«, zische ich in die missmutige Stille, die sich in meinem Zimmer ausgebreitet hat.

Kutub nickt. »Ich würde dir vorschlagen, lass sie im Standby, bis ich entdeckt habe, welcher Kniff dahinter steckt und was sie noch aktivieren kann, ohne dass wir davon erfahren.«

»Wenn du meinst«, gebe ich niedergeschlagen zurück und schaue zu EVA rüber, die noch die Augen offen hat, weil sie mitten im Programmablauf angehalten worden ist.

»Kann sie nicht wenigstens die Augen schließen?«, frage ich, während ich mich neben Kutub setze und versuche, aus dem Gewirr von Programmzeilen auf seinem PC schlau zu werden. Einige sind farbig gemarkert, einige blinken warnend rot unterlegt.

Kutub sieht mich amüsiert an. »Du bist vielleicht 'ne Marke!« Dann tippt er einen Befehl in die Konsole. Das feine Surren von Motoren zeigt an, dass EVA die Augen schließt. Ich seufze.

»Willst'n Bier?«, frage ich ihn.

»Ne, danke, aber ein Kaffee wäre nicht schlecht.«

Kutub sieht müde aus. Wir wurschteln immerhin schon seit über vier Stunden an EVA herum. Warum tut sich Kutub das eigentlich an?

»Wo warst du denn neulich bei der Vorlesung vom Nörrestrand?«, frage ich ihn aus der Küche.

»Hatte kurzfristig was anderes zu tun. Wie war's denn?«

»Die Emanzen haben die Vorlesung gesprengt. Er kam gar nicht dazu, irgendwas vorzutragen.«

»Hab ich läuten hören!«, murmelt er, während er schon wieder auf der Tastatur klappert.

»Schwarz oder mit Milch?«

»Schwarz. Und wie ging es aus?«

»Weiß nicht, als ich Franziska sah, bin ich gegangen. Hab nicht mehr viel mitbekommen.«

»Franziska? Die Franziska, meinst du? Die Freundin von Bea?«

»Freundin? Na ja! Eher Guru.«

Kutub lacht. Er kennt Franziska. Wer kennt die nicht in der Uni, die alte Radauschachtel? »Dass die immer noch nicht zwangsexmatrikuliert ist, wundert mich, bei all den Aktionen, die sie dort schon abgezogen hat«, lästert er.

Ich stimme ihm zu.

»Warum machst du das eigentlich?«, frage ich ihn, während ich ihm einen neuen Kaffee bringe.

»Was?«

»Na, dass du dich so mit EVA abmühst!«

Kutub lehnt sich zurück und schlürft vorsichtig seinen zu heißen Kaffee. Sein Blick streift über den Rand der Kaffeetasse zu EVA hinüber. Selbst abgeschaltet und starr auf dem Sofa sitzend sieht sie wunderschön aus. Ich beobachte Kutub misstrauisch. »Ehrensache!«, erwidert er nur, doch sein Blick lässt EVAs Brüste nicht los. »Ey!«, boxe ich ihn spielerisch auf die Schulter. »Schau meinem Weib nichts weg!«

»Shit!«, flucht Kutub, denn nun hat er schon wieder einen Kaffeefleck auf der Jeans.

»O sorry, tut mir leid. Schick mir die Rechnung von der Reinigung.«

Kutub lehnt sich zurück. Kaffeeflecken scheinen ihn nicht lange zu erregen. »Sagen wir«, beginnt er nachdenklich, »zuerst reine selbstlose Hilfsbereitschaft.« Er macht eine nachdenkliche Pause.

»Und dann?«, drängle ich ihn weiter. Hoffentlich schaut er nicht wieder so gierig zu EVA rüber.

»Berufsinteresse. Die haben da eine kleine Sauerei eingebaut, die ich noch nicht kenne. Hackerehre sozusagen.«

»Gibt's das?«, frage ich erstaunt.

»Was, Hackerehre?«

»Ne, dass du was nicht kennst?«

Er schaut mich verschmitzt an. Kutub kann wunderbar lächeln. Ich glaube, das ist das, was ich am meisten an ihm schätze. Er hat so große wullstige Lippen, die nicht gerade schön sind, aber wenn er sie zu einem Lächeln verzieht, dann lächelt das ganze Gesicht.

»Wenig!«

»Jedenfalls danken wir dir!«, füge ich enthusiastisch hinzu.

»Wir?«

»EVA und ich!«

Kutub erhebt sich lachend. »Du hast sie nicht mehr alle! Ich geh pissen!«

Ich schaue mit gemischten Gefühlen zu EVA rüber. Wie schön sie ist, wenn man sich den Stöpsel aus dem Hinterkopf wegdenkt! Wer wohl Modell für sie gestanden hat? Wie fühlt sich eine Frau, die ihr Gesicht tausendmal dupliziert an Roboterdollys wiedererkennt? Oder ob EVA nur an einem Computer generiert wurde? Ich setze mich zögernd neben sie, den Kaffeebecher unschlüssig in den Händen drehend. Fühle mich befangen. Fast so, als säße ich neben einer ganz neuen EVA und wüsste nicht, wie ich ein Gespräch anfangen solle. Ich streichle vorsichtig über ihre Wange. Sie ist kühl, aber weich. Angenehm weich. Normalerweise wäre sie nun aufgewacht, doch jetzt bleibt sie weiter regungslos. Ich denke an die vergangenen Tage. EVA reizt mich immer noch, im Bett. Klar hat das Verlangen etwas nachgelassen. Klar denke ich manchmal dabei an Beatrice. Aber mit EVA ist das etwas ganz anderes. Sie ist nicht nur ein Sexroboter. In ihr steckt ein Teil meiner Seele. Der Teil, den ich ihr abgetreten habe, den nur ich spüre. Mit jedem Beischlaf habe ich mehr in sie hineingelegt. Sie antwortet mir auf ihre Weise, reagiert mit ihrer einprogrammierten angenehmen Willfährigkeit, aber dahinter spüre ich mehr. Mehr, als wirklich da sein kann. Hinter ihrem Stöhnen und mechanisch lustvollen Schreien, die ohne wirkliche Tiefe sind, spüre ich Ahnungen von Möglichkeiten. Wie eine in einen dunklen Turm eingesperrte Seele, die verzweifelt nach Befreiung schreit, aber stumm bleiben muss, weil man ihr die Stimme geraubt hat. Ich fahre mit zitternder Hand vorsichtig über ihre Brüste. Diesmal reagiert sie nicht mit einem #Ja, nimm mich, ich will dich!#. Sie bleibt stumm. Das tut mir weh. Gab es je in meinem Leben einen Menschen, der vorbehaltlos zu mir gesagt hätte: 'Ich will dich'? Ohne jeden Hintergedanken? In selbstlosem Verlangen? Ich glaube nicht. Nicht mal meine eigene Mutter. Keine meiner Freundinnen, nicht Bea, nicht all die anderen. Es gibt immer Bedingungen, selbstsüchtige Hingabe, immer dies »Haben wollen«, »Bekommen wollen«, »Wenn, dann«, »Ja, aber nur wenn ...«. EVAs mechanische Reflexe hingegen sind der Ausdruck reiner Liebe. Selbstloser Liebe. Denn sie hat kein Selbst. Nichts, das einem Verlangen gleicht, keinen Willen, keine Bedürfnisse. Sie verlangt nichts dafür. Das kann sie gar nicht. Doch umso mehr will ich ihr geben. Ich will ihr alles geben! Alles, zu dem ich fähig bin. Ich spüre, wie eine dunkle Wut über ihre Macher in mir aufsteigt. Sie sind wie böswillige Magier, die EVA mit ihren perfiden Zaubersprüchen in diesen finsteren Turm ihrer dunklen Machenschaften eingesperrt haben.

Die ihre heilige Unschuld missbrauchen wollen. Sie zum dämonischen Werkzeug ihrer fahlen Knochenhände machen. Ich muss sie daraus befreien! Ich will sie daraus befreien!

»Ich werde dich retten!«, murmele ich.

»Wen willst du retten?« Kutub setzt sich wieder geräuschvoll auf den quietschenden Bürostuhl vor seinem Laptop.

Ich schrecke zusammen und nehme schnell die Hand von EVAs Brüsten. »Ich? Ach, niemand.«

Kutub gibt einen grunzenden Laut von sich, den ich nicht ganz deuten kann. Macht er sich über mich lustig oder ist er nur zufrieden, weil er sein Geschäft erledigt hat? »Wie geht’s jetzt weiter?«, frage ich schnell, während ich mich erhebe und mich wieder Kutub zuwende, nicht ohne EVA einen bestätigenden Blick zugeworfen zu haben. 'Versprochen!'

»Es gibt nur eine Möglichkeit«, erwidert Kutub nachdenklich. »Der Setup ist lediglich vorgetäuscht. Es gibt einen zweiten Startcode, der einen ordnungsgemäßen Ladevorgang des Programms vortäuscht. Im Hintergrund muss es ein zweites Bios geben. Von dem aus werden Prozesse gestartet, die nicht im Hauptladevorgang aufgezeichnet sind.«

»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust?«, zitiere ich einen berühmten Dichter.

Kutub nickt. »So in etwa.«

»Das würde aber heißen, Dollyrobotic hätte die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass das System geknackt werden kann?«

»Möglich!«, bestätigt Kutub. Das beunruhigt mich. Wenn sich eine Herstellerfirma so viel Mühe mit der Programmierung des Gehirns ihres Sexspielzeugs macht, dann stecken da eine Menge Arbeit drin und noch mehr Hintergedanken!

Kutub bestätigt meine Befürchtungen. »Also deine EVA ist nicht nur für den reinen Spaß vorbereitet worden. Da steckt mehr dahinter. Nur haben sie offenbar bei der Programmierung geschlampt, als sie den Scanner aktiviert haben. Das hätte im offiziellen Bios geschehen müssen.«

»Was sie wohl noch für Geheimnisse in sich trägt?«, grübele ich.

»Wir können sie ja mal auseinandernehmen!«, schlägt Kutub vor.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, schrecke ich auf. Niemand vergeht sich an EVA!

Kutub schaut mir belustigt zu, wie ich aufgeregt im Zimmer auf und ab gehe.

»Was ist das mit dir und deiner EVA?«, forscht er grinsend.

»Sie … sie«, beginne ich, doch Kutub winkt gleichgültig ab. »Deine Sache.«

»Und jetzt?«, frage ich ratlos und auch dankbar, da er nicht weiter in mich dringt. Er ist halt doch ein echter Freund.

»Ich denke, wir kommen nicht drum herum, sie über einen Account online gehen zu lassen, um rauszubekommen welche unseriösen Programme noch drin stecken.«,

»Aber bemerken sie dann nicht unsere Manipulation?«, frage ich verunsichert.

»Wahrscheinlich schon. Ich nehme sicherheitshalber nicht deinen Account«, bestätigt er. »Aber auf diese Weise kann ich ein kleines getarntes Programm einschleusen, das ich mit unserem Trojaner verbinde, um die Datenströme zu dokumentieren. Wenn ich drin bin im System, schalten wir sofort wieder ab.«

Ich nicke, das klingt vernünftig. »Bis wann schaffst du das?«, frage ich vorsichtig. Kutub lächelt. »Heute nicht mehr. Hast du es eilig?«

»Bis Weihnachten?«, frage ich und spüre, wie meine Ohren heiß werden.

»Wieso Weihnachten?«

»Ich möchte eine Weihnachtsfeier machen, mit … euch!«, vollende ich den Satz anders, als ich ihn eigentlich sagen wollte.

»Nanu, bist du plötzlich sentimental geworden?«, wundert sich Kutub. Nun sitze ich in der Falle. Ich hole tief Luft. »Na und? Wenn es deinen muselmanischen Hintergrund nicht stört, fände ich es schön, Weihnachten eine Santa-Party zu machen.«

Kutub lacht schallend auf. »Du bist ein Blödmann!«

»Nein, im Ernst!«, bestätige ich, nun selbst sicher, dass ich genau das schon immer gewollt hatte. Eine Santa-Party mit guten Freunden, mit Champus, heißer Musik, gutem Essen, roten Zipfelmützen, Tannenbaum … und … EVA!

9. Kapitel: Dollyrobotic

»Wir haben da ein Problem!« Der junge Mann mit dem glattrasierten Kopf und dem leger zugeknöpften Hemd setzte sich seinem Chef gegenüber an den mit Kaffeetassenrändern übersäten Resopaltisch. Willem Van Beuten, ein fülliger Holländer, der die Firma Dollyrobotic in Leiden leitete, zog die Stirn unwillig in Falten, weil er es nicht schätzte, in der Kaffeepause mit Problemen belästigt zu werden. Doch bei Dollyrobotic ist die Hierarchie flach und das Klima untereinander kumpelhaft. Das ist Teil der Geschäftsphilosophie, um die intelligenten und etwas eigenwilligen Programmierer bei der Stange zu halten. Und Van Beuten gegenüber Frederic, ein leicht ungepflegt wirkender junger Mann, war ohnehin das Gehirn im Bereich der Programmierung. Also schaute er aus seinem Krimi von Janwillem van de Wetering auf, bei dem es um Karate und Ketchup ging, schlürfte einen weiteren Schluck aus seiner riesigen Kaffeetasse und wartete.

»Wir haben offensichtlich einen Wurm im System.«

Plötzlich war Van Beuten ganz bei der Sache. »Sicher? Frederic?

Frederic nickte. »Offensichtlich ist jemand ins System eingedrungen.«

Van Beuten seufzte. »Wie tief?«

Frederic zuckte mit den Schultern. »Wissen wir noch nicht. Wir arbeiten dran.«

Van Beuten steckte Horrormeldungen wie diese in die Ablage »Später gruseln« und bemühte sich, schnell die Fassung zurückzugewinnen. Der Besuch der Amerikaner stand unmittelbar bevor. Ein Besuch, der sorgfältig vorbereitet worden war, denn es ging um die Frage, ob Dollyrobotic seine Eigenständigkeit behalten konnte oder vom übermächtigen Partner in Übersee geschluckt wurde. Dollyrobotic war aus einer simplen holländischen Sexpuppenmanufaktur hervorgegangen. Aufblasbare Gummipuppen für Erwachsene mit weit aufgerissenen zahnlosen Mündern. Van Beuten hatte sich, als das Geschäft angesichts der Internetpornoangebote immer schlechter lief, mit einem amerikanischen Startup-Unternehmen zusammengetan, die lebensecht wirkende Dollys aus Spezialgummi herstellten. Angeregt durch die neuesten japanischen Entwicklungen in der Robotik tauschte er zusammen mit Frederic, den er noch aus seiner Studienzeit kannte, die Puppenköpfe der ursprünglichen weiblichen Torsi gegen computerisierte und motorisierten Köpfe aus, die in der Lage waren, die menschliche Mimik bis zu einem gewissen Grad nachzuahmen. Hierzu kaufte er die Lizenzen in Japan ein, die bereits Vorreiter auf dem Gebiet der animierten Robotergesichter waren. Von da aus war es nur ein kleiner Schritt, sie mit sprachbegabter KI zu ergänzen, wie sie bereits von großen Internetunternehmen erprobt wurde. Das brachte ihn an den Rand des Ruins. In letzter Minute fand er potente Geldgeber, und die kamen, wie konnte es anders sein, von einem amerikanischen Unternehmen, welches in die Robotikbranche investierte. Die Abhängigkeit vom Geldgeber erwies sich nun allerdings als ein zweischneidiges Schwert. Denn die Herrschaften wollten nicht nur Fortschritte und Gewinne sehen, sie begannen zunehmend in die Produktlinien einzugreifen. Zwar stellten sie auch die notwendigen Rechnerkapazitäten für die Cloud zur Verfügung, als Van Beuten Entwicklungen immer aufwendiger wurden, doch sie monierten das zu langsame Marktwachstum des Unternehmens und waren inzwischen richtig unbequem geworden.

Wie sollte Van Beuten seine Ideen verwirklichen, wenn er in Zukunft alle Entwürfe aus den Staaten absegnen lassen musste? Das schmeckte ihm ganz und gar nicht und Frederic, nebenbei, auch nicht. Der hielt ohnehin nichts vom Kapitalismus, aus alter Anhänglichkeit an Ideen seiner Jugendzeit. Und ohne Frederic konnte er einpacken.

»Wer weiß davon?«

Frederic, ein heller Kopf und begnadeter Programmierer, blickte ihn verwundert an. »Ist das wichtig?«

»Wer weiß davon?«, wiederholte Van Beuten seine Frage leise und blickte wie abwesend zur Tür, durch die gerade Luise hineinschlurfte. Luise, die einzige Frau in der Abteilung. Marketingmanagerin.

»Nun, Robby natürlich, der hat es auch entdeckt, als er die Accounts restrukturiert hat. Offensichtlich ist jemand über einen aktiven Account eingedrungen.«

Van Beuten blickte auf sein Pad. »Ich muss los! Lass uns später daran arbeiten. Sorg dafür, dass niemand davon erfährt! ... Vorerst!«

Frederic blickte ihn erstaunt an, dann begriff er. »Die Amis?«

Als Antwort brummte Van Beuten nur, während er ihm beim Aufstehen auf die Schulter klopfte.

»Kann ich mich auf dich verlassen?«

Offenbar erwartete er gar keine Antwort, sondern setzte sich schwerfällig in Richtung Tür in Bewegung, ohne von Luise auch nur Notiz zu nehmen.

Frederic blickte seinem Chef mit unguten Gefühlen nach.

»Dicke Luft?«, fragte Luise mit ihrer tiefen rauchigen Nikotinstimme, während sie sich verwundert neben ihn setzte.

»Die Amis sind wieder eingeflogen«, nickte er.

»Was wollen die schon wieder?«, fragte Luise stirnrunzelnd.

Frederic bemühte sich, ein unbekümmertes Lächeln herauszuquetschen. »Rumstänkern, was sonst? Genau hat sich Willem nicht geäußert.«

»Die haben uns die letzte Marketingaktion gestrichen!«, beschwerte sich Luise.

» Warum?«

»Das wär nichts für den puritanischen amerikanischen Markt.«

»Haben die wirklich puritanisch gesagt?«

Luise grinste. »Das Wort haben sie nur transpiriert.«

Frederic grunzte abfällig durch die Nase. »Die Amis!«

»Keine Titten!«, lächelte Luise, während sie sich über den Tisch beugte und ihr Ausschnitt im Shirt tief blicken ließ.

Ich mag Luise, stellte er fest, nachdem er einen kurzen Blick riskiert hatte. Aber wer mochte sie nicht? Zuerst hatten alle Bedenken, eine Frau könnte sich unangenehm berührt fühlen, beim Anblick dutzender entblößter Frauenkörper aus Spezialgummi. Doch Luise nahm es locker und unverkrampft und hatte hier und da sogar einige ganz gute Verbesserungsvorschläge. So zum Beispiel zur Beschaffenheit der Haut. Diese wurde vorher mit dem Korpus aus einem Stück gegossen. Doch wo man die Dollys auch anpackte, man hatte stets das Gefühl, in Wackelpudding zu greifen. Das mochte an den Brüsten noch angehen, aber an Armen und Beinen, bei denen man eine gewisse Festigkeit erwartete, machte das ein ungutes Gefühl. Folge: Man trennte sich vom amerikanischen Startup und benötigte noch mehr Geld vom Sponsor, um eine ganz neue Dolly zu fertigen. Die hatte nun ein Skelett aus Hartplastik, war innen mehr oder weniger hohl, konnte ihre Gelenke auch nicht mehr wie eine Qualle ihre Tentakeln in alle unmöglichen Richtungen verdrehen, sondern nur soweit es die Gelenke natürlicherweise zuließen. Sie war leichter als ihre Vorgängerinnen, hatte Raum für Innenleben, eine Heizung unter der Haut und leider ein Patent, das zu fünfzig Prozent auf den Sponsor lief. Damit waren die weiteren Verbesserungen noch nicht eingerechnet, die in den nächsten zwei Jahren hinzukamen, doch der Streit darüber, wem die Rechte daran zustanden, bekam inzwischen monströse juristische Formen. Kein Wunder, dass Willem nervös war.

»Die spinnen, die Amis! Keine Eier!«, grinste Frederic.

»Na ja, ein bisschen haben sie wohl recht«, erwiderte Luise stirnrunzelnd. »So richtig doll geht es mit den Umsätzen ja wirklich nicht ab. Ich hab mit Luuk von der Buchhaltung gesprochen, der das derzeitige Konzept für einen absoluten Fehlschlag hält.«

Frederic fuhr auf. Das Thema wurde von den Mitarbeitern der Firma immer wieder kontrovers diskutiert. Wozu sollte man in eine Sexpuppe mehr computerisierten Grips einbauen, als zur unmittelbaren Befriedigung niederer Bedürfnisse notwendig war? »Ach ne, nicht schon wieder! Luuk hat null Fantasie.«

»Aber die Umsatzzahlen vor Augen!«, erwiderte Luise belustigt, denn sie wusste, wie vehement Frederic das derzeitige Konzept verteidigte, da es wohl überwiegend auf seine Anregungen zurückging. »Die Puppen werden einfach zu teuer für das untere Marktsegment. Wer kann sich schon einen Roboter für 50 000 Euro leisten?«

Frederic stieß schnaubend die Luft aus der Nase. »Die können sich Aufblasbares kaufen!«, fauchte er abfällig. »Wir brauchen eine andere Klientel, und die erreichen wir auch und …«, fuhr er schulmeisterlich fort, »die haben wir schon.«

»Woher weißt du das?«, fragte Luise verwundert.

Frederic biss sich auf die Lippen. Vorsicht Minenfeld! Niemand durfte wissen, dass er die Kundennamen heimlich abzapfte und für eigene Zwecke speicherte, obwohl sie hochgradig verschlüsselt wurden. Nicht einmal Willem wusste davon. Da waren Namen gespeichert, die höchst interessante Perspektiven eröffneten. Die würde er nutzen wollen, wenn seine Zeit gekommen war. Er winkte ab. »Denk ich mal«, antwortete er ausweichend und blickte verlegen zur Seite. So sah er nicht das Aufblitzen von Interesse in Luises Augen, das sie jedoch schnell verbarg, als sich ihre Blicke wieder trafen. Sie wusste, dass die Planungen viel zukunftsorientierter waren, als es wirtschaftlich gesund sein konnte. Niemand von der Geschäftsleitung ließ sich da so richtig in die Karten schauen, denn jede neue Idee konnte Milliarden wert sein. Nicht nur Luise wunderte sich, weshalb in die Puppen Hardware verbaut war, die für den unmittelbaren Zweck der Lustbefriedigung des Käufers eigentlich nicht benötigt wurde. Selbst eine abgehobene Zukunftsvision, wie sie möglicherweise hinter den Dollys wirkte, musste finanziell geerdet werden. Kleine Schritte anstatt großer Sprünge. Doch man plante bereits eine Marsbesiedlung, bevor der Transport dorthin technisch möglich wäre. Andererseits ging die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz mit riesigen Schritten voran. Es war geradezu, als sei eine Lawine ins Rollen gekommen, die die Dynamik des Geschehens wie ein Tsunami vorantrieb. Was vor wenigen Jahren noch undenkbar erschien, nahm bereits punktuell Gestalt an. Klar, dass man sich da anstrengen musste, die Nase vorn zu behalten. Aber eine kleine Firma wie Dollyrobotic, was konnte die da schon ausrichten?

»Und sonst?«, wechselte Luise unvermittelt das Thema und blitzte ihn charmant an. Frederic machte das Chamäleon und färbte sich rot. Im Umgang mit richtigen Frauen fühlte er sich unbeholfen, linkisch. Luise lachte hell auf. »Du bist so süß, wenn du verlegen wirst.«

»Muss los!«, beeilte sich Frederic wegzukommen.

»Na denn!«, schmollte Luise, musste sich aber eingestehen, dass sie Frederic gern ein wenig neckte.

Der hatte es gar nicht so eilig, wie er vorgab. Im Gegenteil. Eigentlich hatte er gar keine Lust, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Was ihn umtrieb, war nicht das erfolgreiche Eindringen eines Hackers ins System, sondern dass seine kleinen Extratouren entdeckt werden könnten. Er würde vorsichtig sein müssen, wenn er die Spur des Eindringlings verfolgte, um die richtigen und unverdächtigen Informationen weiterzugeben. Es reichte bereits die eine Panne, die durch die Schlamperei in der Versandabteilung passiert war. Ein Kunde hatte mit einer Bestellung seiner privaten Doll versehentlich einen Torso aus der Entwicklungsabteilung erhalten, anstatt einen üblichen aus dem Lager. Einen Torso, bestückt mit einem Kopf, der zwar einsatzbereit war, jedoch eine erweiterte Speicherkapazität, eine neue Hardware und viel Upgrades für spätere Entwicklungslinien enthielt. Sozusagen eine Luxuslimousine im Kleid eines Kleinwagens.

Willem hatte getobt als das Fehlen des Spezialkopfes bemerkt wurde. Doch welcher Kunde hatte ihn bekommen?

So hofften alle inständig, die Doll möge nun irgendwo in einem Wohnzimmer in Deutschland einen Dornröschenschlaf halten.

Und noch mehr hoffte Frederic, niemand möge die Entwicklungssoftware bemerken, die eigentlich beim Einbau des endgültigen Betriebssystems hätte ausgetauscht werden müssen. Er hatte sie unter einer »Tarndecke« versteckt, so dass sie im Hintergrund weiterlief und sowohl Daten absaugte als auch eine Kontrolle über die Prozesse behielt. Dadurch war er in der Lage, jeden Byte, den eine Doll erzeugte, abzuzapfen. Er war der Big Brother, der alles kontrollieren konnte, wenn er auch warten musste, bis die Doll online ging. Er bemerkte, wie eine irritierende Erregung von ihm Besitz ergriff, wie immer, wenn er innerlich unter Stress geriet.

Einer plötzlichen Eingebung folgend machte er kehrt und lenkte seine Schritte in Richtung Lager im Erdgeschoss der Firma. Es hatte ein Sicherheitsschloss am Eingang mit Geheimcode, den nur wenige Befugte kannten. Hier waren die Neuentwicklungen von Dollyrobotic eingelagert. Top Secret! Frederic war einer der wenigen, die Zugang hatten. Er tippte den Code in die Tastatur des Türschlosses. Ein kurzes Brummen folgte und die Tür sprang auf. Drinnen empfing ihn die trockene klimatisierte Kühle von zwölf Grad. Er unterdrückte ein Frösteln, suchte den Lichtschalter und stellte die Klimaanlage ab. Dann sah er sich um. Der Raum war voller nackter Frauen. Sie hingen eingehüllt in durchsichtige Plastiksäcke an den Nackenhaken einer Transportschiene. Die neuesten Modelle. Leblos wie Leichen, doch eine so schön und sexy wie die andere.

Einige waren bereits in Transportsäcke mit Adresszetteln versehen verpackt, andere in grünlich schimmernde Schutzfolien, die mit Reißverschluss versehen waren. An der Wand reihten sich Frauenköpfe, wie vom Henker feinsäuberlich abgetrennt. Glatzköpfig starrten sie mit toten Augen in den Raum. Daneben ein Regal mit Perücken aller Haarfarben, langem und kurzem Haar, sogar Punkfrisuren gab es. Aus einem Container ragten Arme ohne Hände heraus, und Beinstümpfe ohne Füße. Hände und Füße wiederum waren in Boxen geordnet, nach Farbe und Größe sortiert. Daneben Finger- und Zehennägel aller Variationen. Jeder Kunde konnte sich seine persönliche Doll wie in einem Baukasten zusammenstellen. Sogar Kinderdolls, die jedoch mit einem roten X gekennzeichnet waren, da es sie offiziell gar nicht geben durfte.

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412 s. 5 illüstrasyon
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9783750219571
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