Kitabı oku: «Emscher Zorn», sayfa 3
Kapitel 5 – Jakob
Jakobs Kopf dröhnte, als er erwachte und durch seine verquollenen Augen linste, um zu erkennen, wo er sich befand.
Der gestrige Tag rauschte wie verschwommener Brei durch sein Gehirn und ließ sich nicht fassen. Er richtete sich auf, setzte sich auf die Pritsche, auf der er gelegen hatte, und blickte irritiert um sich.
Es dauerte einige Zeit, bis er zuordnen konnte, dass er sich in einer Gefängniszelle aufhielt.
Er starrte auf seine Hände, an denen getrocknetes Blut klebte. Hoffentlich hatte er den anderen wenigstens gut erwischt, dachte er und sah sich um.
Er kannte diese quadratischen, winzigen Räume nur zu gut. Er stand auf, machte einen großen Schritt und erreichte die gegenüberliegende Wand, wo sich eine Toilette und ein im Boden fest verankertes Waschbecken befanden, und begann, sich kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen. Das Becken verfärbte sich rot. Vorsichtig betastete er mit der Hand sein Gesicht, die frisch verschorfte Wunde und die riesige Beule an seinem Hinterkopf.
Er zuckte vor Schmerz zusammen, stellte aber erleichtert fest, dass seine Verletzungen nicht weiter schlimm waren. Manche seiner Schlägereien waren übler ausgegangen. Er konnte sich bewegen und schien keine Knochenbrüche zu haben. Es gelang ihm, ohne Schwierigkeiten zu atmen, und er hatte noch alle seine Zähne im Mund. Alles in Ordnung. Jetzt musste er nur noch hier raus. Er ging zur Tür und hämmerte mit den Fäusten dagegen.
»Hallo?«, rief er, »kann mich vielleicht mal irgendwer rauslassen? Ich habe noch was anderes zu tun, als hier abzuhängen.«
Es dauerte eine Ewigkeit, bis er trottende Schritte und das Geklirre eines Schlüsselbundes vor der Tür hörte.
Typisch, die Bullen mussten einem mit jeder kleinen Geste klarmachen, dass sie am längeren Hebel saßen. Arme Schweine eigentlich, wenn sie so was nötig hatten.
Ein Riegel wurde zur Seite geschoben, und ein dickes Bullengesicht schaute durch das kleine vergitterte Fenster, das in der Tür eingebaut war.
»Na. Schon wach?«, brummte der Mann draußen.
»Ne, ich liege eingekuschelt auf eurer verfickten Pritsche und schlafe wie ein Baby«, schrie Jakob ihm durch die Tür zu und sprang ungeduldig auf und ab.
»Ich mein ja nur. Wundert mich, dich so ausgeschlafen zu sehen, so wie du letzte Nacht geschrien hast. Wir waren kurz davor, den Arzt zu rufen, und der mag es gar nicht, wenn er nachts gestört wird. Hast uns ganz schön auf Trab gehalten«, erklärte der Wärter.
Diese verdammten Albträume. Sie würden nie aufhören, Jakob zu verfolgen.
»Ist mir scheißegal, was mit eurem Arzt ist. Ihr könnt das Wohnzimmer hier für den nächsten Gast fertig machen, ich bin bereit abzureisen.«
»Immer langsam, junger Mann«, sagte der Bulle beschwichtigend, »ich werde nachfragen, ob du gehen kannst.« Er schlurfte davon.
Jakob begann, durch den Raum zu laufen, von einer Ecke in die andere, und wartete. Nervös wischte er sich seine feuchten Handflächen an der Jeans ab. Endlich kam der Bulle zurück, schloss umständlich die Zellentür auf, händigte Jakob in einem langen Prozedere Schuhe, Gürtel, Wertsachen und seinen Ausweis aus und ließ ihn irgendein Dokument unterschreiben. Dann durfte er gehen.
Von der Sonne geblendet, trat er durch die Glastür der Polizeiwache auf die Straße, wo ihn ein heißer Sommervormittag empfing. Er blinzelte und wollte gerade den Weg nach Hause antreten, als er mitten in der Bewegung innehielt und abrupt stehen blieb.
Auf dem Rand eines Betonkübels, in den, bei einem vergeblichen Versuch, das Nordstadtbild zu verschönern, von einem der vielen alternativen Gutmenschen ein traurig aussehendes Bäumchen gepflanzt worden war, saß Nelu, rauchte eine Zigarette und blickte zu ihm hinüber.
Zögernd machte Jakob einen Schritt auf ihn zu, blieb dann wieder stehen.
Was wollte der Typ von ihm? Hatte er auf ihn gewartet?
War er ein Stalker oder so was?
Entschlossen wandte er sich ab und begann, die Straße in die entgegengesetzte Richtung entlang zu laufen.
»Was ist los? Hast du Angst vor mir?«, rief Nelu hinter ihm her und lachte heiser.
Seine Stimme zog Jakob magisch an. Er gab sich einen Ruck und ging mit klopfenden Herzen auf ihn zu.
Er fühlte sich schäbig in seiner blutverschmierten, zerknitterten Kleidung, die er schon gestern getragen hatte, er roch nach Schweiß und hatte seine Zähne nicht geputzt.
Nelu verströmte einen frischen Duft nach teurem Parfüm. Er bot Jakob schweigend eine Zigarette an. Sie rauchten wortlos.
»Du kannst gut kämpfen. Hab dich vor dem Stadion gesehen.« Anerkennend sah Nelu ihn an, während Jakob verärgert spürte, wie er rot anlief.
»Außer natürlich, wenn du abgelenkt und von so Weicheiern hinterrücks mit einer Flasche k.o. geschlagen wirst.« Nelu lachte. »Das hätte echt nicht sein müssen. Los komm, wir gehen.«
Als wäre es das Natürlichste auf der Welt, spazierten sie nebeneinander los. Schweigend schlugen sie den Weg Richtung Stadtkern ein und überquerten den Burgwall.
Nelus Gang hatte etwas Tänzelndes. Jede seiner Bewegungen verströmte Energie. Die Aura, die ihn umgab, war so stark, dass sie zu leuchten schien und Jakob sich sicher war, sie sehen zu können.
Die Straßen füllten sich, als sie sich dem Brückstraßenviertel näherten. Selbst an einem Sonntag herrschte hier reges Treiben. Früher als Treffpunkt der Drogen- und Rotlichtszene bekannt, hatte sich das Viertel inzwischen zu einem bunten Szenequartier entwickelt. Fressbuden, Kinos und Kneipen reihten sich dicht aneinander. Menschen, verschiedenster Kultur und Herkunft, kreuzten ihren Weg. Frauen, die ihnen entgegenkamen, starrten Nelu mit bewundernden Blicken an. Er wurde offen angehimmelt. Leidenschaftliche Blicke verfolgten sie.
Der seltsame Mann lungerte an einer der Hauswände herum. Jakob bemerkte ihn schon von Weitem. Er starrte ihnen entgegen, gekleidet in seinem klassischen, braunen Anzug, mit seinem Lederkoffer in der Hand, wirkte er wie ein Bankangestellter, seine gebeugte Körperhaltung allerdings sah irgendwie schräg aus. Er krümmte sich zusammen, als hätte er heftige Schmerzen. Er kam ihnen mit schnellen Schritten und gesenktem Kopf entgegen, blickte ab und zu auf und strahlte Nelu mit verzerrtem Gesicht an. Er schwitzte stark und strich sich ruckartig feuchte Haarsträhnen aus der Stirn.
Sein verkrampftes Grinsen sah nicht normal aus, stellte Jakob angewidert fest, als er sich ihnen näherte.
Kriecherisch griff der Mann nach Nelus Hand und verbeugte sich beim Händeschütteln mehrmals vor ihm. »Vasile, wie schön, dich zu sehen. Es bleibt bei heute Abend, ja? Es geht doch alles klar, oder?« Er klang nervös und bettelnd, wie ein Kind, das unbedingt Süßigkeiten haben will.
»Klar«, bestätigte Nelu knapp, ohne das kranke Lächeln des Mannes zu erwidern.
Der Mann blieb einen Moment unschlüssig stehen, nickte immer wieder hektisch und lief dann hastig davon, ohne sich zu verabschieden.
»Ich dachte, du heißt Nelu«, murmelte Jakob und blickte dem Mann irritiert hinterher.
»Ein richtiger Rumäne hat viele Namen.«
Jakob sah ihn an. »Du bist Rumäne?«
»Scheiße gelaufen, was? Jetzt rennst du hier mit ’nem Ausländer durch die Stadt. Wie peinlich für dich, du strahlender Sohn deutscher Helden.«
Jakob wollte widersprechen, doch Nelu ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich verstehe dich schon«, er klang versöhnlich, »ich bin ganz deiner Meinung. Meine Landsleute sind der letzte Dreck, strohdumm und nicht in der Lage, was aus ihrem Leben zu machen. Hilflose, verblödete Irre sind das. Und sie sind faul. Sie stinken wie Abfall, weil sie zu faul sind, sich zu waschen.« Er lachte.
Jakob starrte ihn ungläubig an.
»Ich meine das völlig ernst«, versicherte ihm Nelu, »ich werfe mich selbst nicht mit denen in einen Topf. Ich habe mit den Menschen meiner Nationalität nichts, rein gar nichts gemein.«
Er wurde ernst, richtete sich auf und reckte das Kinn nach oben. »Ich bin anders.«
Jakob nickte, das glaubte er ihm aufs Wort. Schweigend setzten sie ihren Weg fort.
Unweit der Fußgängerzone hockte eine Gruppe Afrikaner auf einer Bank vor dem Pylon, einer 49 Meter hohen Konstruktion aus Stahl und Glas, die wohl Kunst darstellen sollte. Die Männer machten Scherze und unterhielten sich angeregt.
»Schlimmer noch als Rumänen ist dieser schwarze Dreck«, brüllte Nelu plötzlich aus vollem Hals in ihre Richtung. »Neger, Syrer, Türken, Mulatten. Alle so viel wert wie der Dreck, der unter meinen Schuhsohlen klebt. Ich scheiß auf Dortmunds multikulturelles Gehabe.«
Jakob war von Nelus rasantem Stimmungswechsel hingerissen. Seine Wut kam aus dem Nichts, strömte aus ihm heraus, sprühte schillernde Funken und flimmerte in leuchtenden Farben durch den öden, stickigen Sonntagnachmittag.
Nelu fixierte die afrikanischen Männer mit hasserfülltem Blick. Seine Augen glühten.
Der Klingelton von Nelus Handy durchbrach die angespannte Stimmung. Genervt zog er das Gerät aus seiner Hosentasche und entfernte sich. Beim Telefonieren lief er weiter den Gehsteig entlang. Jakob folgte ihm.
»Natürlich, Margarete«, zwitscherte Nelu mit sanfter Stimme, »bitte beruhige dich. Es gab gute Gründe dafür, dass ich dich gestern versetzt habe. Mein kranker Bruder hatte wieder einen Rückfall. Wie bitte? Es kann doch nicht sein, dass du so etwas von mir denkst. Bitte mach mich nicht traurig.« Seine Stimme klang kläglich, aber er grinste Jakob von der Seite an und verdrehte dabei die Augen.
»Natürlich habe ich dein Geld für seine Therapie verwendet. Es ging ihm ja auch schon wieder besser. Aber was soll ich sagen, die Ärzte meinten, ein Rückfall könne immer wieder vorkommen, genau dann, wenn man es am wenigsten erwartet.«
Er stöhnte theatralisch auf.
»Jetzt geht das Ganze wieder von vorne los. Ich werde neues Geld in seine Behandlung stecken müssen. Was?« Er zögerte.
»Ich komme nur, wenn du mir versprichst, mir nie wieder zu unterstellen, dass ich nur auf dein Geld scharf bin. Ich habe auch Gefühle. Margarete, he Engelchen, hör auf zu weinen.« Er wartete einen Moment.
»Ich komme vorbei, dann können wir in Ruhe reden. Bin schon unterwegs.« Er machte albernde Kussgeräusche in den Hörer und steckte das Handy weg.
Jakob starrte ihn entgeistert an. Nelu zuckte entschuldigend mit den Achseln.
»Dumme alte Pute«, erklärte er trocken und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Also, Jakob«, er wirkte abgelenkt, »ich hab was Geschäftliches zu tun. War nett, dich kennenzulernen.«
Jakob spürte eine Leere in seinem Inneren, die wehtat.
Nelu überlegte einen Augenblick.
»Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte er dann.
Jakob nickte stumm. Nelu wies ihn mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen.
Sie bogen in eine Seitenstraße ein und gingen auf einen alten, verrosteten VW zu. Nelu deutete mit der Hand auf das Fenster des Wagens, das wegen der Hitze einen winzigen Spalt geöffnet war.
»Gut. So ist es am einfachsten«, murmelte er zufrieden.
Er schaute sich kurz nach allen Seiten um, langte dann in seine Schultertasche und zog eine platte, biegsame Eisenstange hervor, die vorne an der Spitze einen kleinen Haken hatte. Mit einem geübten Griff fuhr er mit der Stange durch den Fensterspalt und hebelte professionell in Sekundenschnelle von innen die Tür auf. Er schwang sich auf den Fahrersitz, riss mit einem Ruck unter dem Lenkrad die Kabel aus der Armatur, rieb sie aneinander und startete den Wagen.
»Worauf wartest du? Steig endlich ein«, rief er ungeduldig nach draußen, »geht’s ein bisschen schneller oder bist du eingeschlafen?«
Jakob riss sich zusammen und setzte sich zu ihm in den Wagen.
»Du klaust so einfach ein Auto?«, stammelte er unbeholfen.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich Rumäne bin. So was lernt man bei uns schon als Kleinkind.« Nelu lächelte versonnen.
»Wo müssen wir denn hin?«
Jakob erklärte stockend, wo er wohnte.
»Wir treffen uns morgen Abend um acht Uhr auf dem Hansaplatz. Sei pünktlich«, befahl Nelu.
Jakob nickte wie eine Marionette, deren Fäden ein anderer zog.
Als sie die Innenstadt hinter sich ließen und Richtung Norden fuhren, er den Fahrtwind durch das Fenster auf seinem Gesicht spürte und sich langsam entspannte, begann ein Gefühl von Freiheit sein Herz zu kitzeln, und das Lachen, das tief aus seiner Brust hervorquoll, war hemmungslos und laut.
Kapitel 6 – Leyla
Leyla Öztürk lehnte in der offenen Tür des kleinen Gemüseladens ihres Vaters und blinzelte in die Sonne. Aus den geöffneten Fenstern ihrer Nachbarn schallte ein wirrer Mix aus Musik durch die Blumenstraße. Türkische Klänge vermischten sich mit deutschem Schlager, aus dem Haus gegenüber dröhnte harter Punkrock. Lelya lächelte. Sie mochte dieses Viertel. Jeder ließ den anderen leben, so wie er war. Zwei Studenten fuhren lachend mit den Fahrrädern an ihr vorbei und winkten ihr zu. In den Getränkehaltern an ihren Rädern steckten Bierflaschen. Auf der anderen Straßenseite malten zwei schmutzige, dünne Kinder mit leidenschaftlicher Energie Kreidezeichnungen auf den Bordstein. Vor der Trinkhalle hatten sich die üblichen Kunden zu einem Schwätzchen verabredet.
Leyla kniff ihre großen, schwarzen Augen zusammen. Den jungen, schlanken Mann, der in seinem eleganten Anzug auf ihren Laden zu schlenderte, hatte sie hier noch nie gesehen. Mit einem herablassenden Lächeln auf seinem schönen Gesicht kam er auf sie zu.
Er strahlte Kälte aus. Leyla kreuzte die Arme vor der Brust und unterdrückte ein Schaudern. Seine dunkelblauen Augen bohrten sich in ihre, als er sich ohne ein Wort zu sagen, an ihr vorbei schob und den Laden betrat.
Leyla folgte ihm misstrauisch, stellte sich hinter die Ladentheke und beobachtete ihn. Verächtlich sah er sich in dem, mit Regalen zugestellten, dunklen Verkaufsraum um. Ein Lichtstrahl fiel durch das Fenster auf die ramponierten Dielen des alten Holzfußbodens und ließ tanzende Staubflocken sichtbar werden. Der fremde Mann passte nicht hierher. Er wirkte in seiner schicken Kleidung und dem perfekt sitzenden, nach hinten gegeelten Haar, zwischen den staubigen Einmachgläsern und den Körben mit Obst, Gemüse und Kräutern wie eine Karikatur. Er nahm einen Apfel in die die Hand und roch daran. Mit einem abfälligen Gesichtsausdruck ließ er ihn von oben zurück in den Korb fallen.
Lelya konnte sich nicht länger zurückhalten. »He, ein bisschen vorsichtiger mit unserer Ware, ja? Die Früchte gehen kaputt, wenn sie so geworfen werden.«
Langsam drehte er sich zu ihr um. Leyla schluckte schwer. Der Mann fixierte sie einen Moment mit kaltem Blick, dann wanderte er weiter durch den Laden und verschwand hinter den Regalen. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Die Stille im Raum war bedrückend. Der Mann tauchte wieder auf und wandte sich der Tür zu.
»Moment mal, Freundchen.« Lelya blickte auf die große Beule in der Sakkotasche des Mannes. »Was hast du da? Hast du was geklaut, oder was?«
»Süße, das würde ich nie tun. Nicht bei einem so bezaubernden Mädchen, wie du es bist. Hab ich auch gar nicht nötig.« Seine melodische Stimme klang angenehm. Sein Gesicht sah hinreißend aus.
Leyla ließ sich nicht täuschen.
Mit schnellen Schritten ging sie zornig auf den Mann zu, bis sie dicht vor ihm stand. Sein Atem roch nach Alkohol.
»Zeig mir, was du in der Tasche hast, sonst rufe ich die Polizei, du Lackaffe«, zischte sie ihn leise an.
Für einen winzigen Moment wirkte der Mann verunsichert, dann verzog sich sein Gesicht vor Abscheu. »Du dumme Schlampe. Das kannst du doch nicht ernst meinen. Weißt du eigentlich, wen du vor dir hast?«
»Das interessiert mich nicht«, sie griff an ihm vorbei und stieß die Tür auf, »gib die Ware zurück und dann hau ab. Du hast hier Hausverbot.« Ihre Stimme wurde lauter.
»Leyla, gibt es Ärger? Brauchst du Hilfe?« Der psychisch kranke Kurt, der dreimal am Tag mit seinen drei kläffenden Pekinesen sein Haus verließ und einen Spaziergang durch das Hafenviertel machte, steckte seinen riesigen, kahlen Kopf durch die Tür.
»Tasche auf«, brüllte Leyla außer sich vor Zorn.
Es ging hier nicht um etwas Obst, es ging um ihre Ehre. Die Stammkunden der Trinkhalle versammelten sich vor dem Eingang des Gemüseladens.
»Tu, was sie sagt!«, schrie Horst, mit dem aufgeschwemmten Gesicht von draußen, als würde es um sein Leben gehen.
Der fremde, junge Mann blickte fassungslos auf die wütende Meute vor der Tür, dann griff er in die Tasche seines Sakkos und zog zwei Orangen daraus hervor, die er auf die Holzdielen fallen ließ.
»Das wirst du bereuen, Bitch«, stieß er zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Als er eilig verschwand und mit großen Schritten die Blumenstraße entlanglief, schallte der Applaus und das Johlen von Leylas Nachbarn noch eine ganze Weile durch die engen Häuserschluchten.
Leyla ahnte nicht, welches Nachspiel ihr Handeln haben würde.
Kapitel 7 – Jakob
Den gesamten Montag war Jakob aufgeregt und fieberte dem Treffen mit Nelu entgegen. Ruhelos spazierte er in der Wohnung auf und ab und wusste nichts mit sich anzufangen.
Jesus auf dem Bild verfolgte ihn mit so erzürnten Blicken, dass Jakob sich sicher war, lodernde Flammen in seinen Augen zu erkennen. »Fick dich«, murmelte er und ging ins Wohnzimmer.
»Hase, heute Abend mache ich uns etwas Feines zu essen. Was meinst du?« Mutters Augen waren von der vielen Fernglotzerei ganz klein und rot unterlaufen.
Jakob würgte, als er an dicke Bohnen mit Speck, Schlodderkappes oder andere westfälische Gerichte dachte.
»Wie siehst du eigentlich aus?« Sie musterte sein Gesicht und die aufgeschürften Knöchel seiner Hände.
»Hab mich beim Sport verletzt«, erklärte Jakob schnell.
Wie immer ließ sie sich schnell beruhigen. In ihrer kleinen rosaroten Welt musste alles in Ordnung sein. Die Seifenblase, in der sie lebte, durfte keine Risse bekommen.
»Ach ja. Bei körperlicher Ertüchtigung kann so was schon mal passieren. Finde ich gut, dass du versuchst, etwas für deine Gesundheit zu tun. Sei nur das nächste Mal ein bisschen vorsichtiger, ja?« Ihr Lächeln wirkte debil. »Und wo warst du Samstagnacht?«, fuhr sie fort und kicherte albern, »bei deiner Liebsten? Hast du die Nacht bei ihr verbracht?« Sie sah ihn erwartungsvoll an.
»Ja, ich habe jemanden kennengelernt«, erwiderte er knapp, »aber mehr erzähl ich dir nicht, das kannst du vergessen.«
Immerhin musste er nicht lügen, auch wenn sie sich wohl etwas anderes unter seinen Worten versprach.
»Oh Hase, wie schön«, sie jubelte, »ich will sie kennenlernen. Bitte tu mir den Gefallen und stell sie mir bald vor. Du hattest schon immer Schwierigkeiten, Kontakt zu anderen zu finden, hattest nie Freunde oder Freundinnen, nicht mal als Kind. Du warst immer so allein, und jetzt hast du endlich ein nettes Mädchen gefunden, das dich versteht. Ich freue mich so.« Euphorisch klatschte sie in die Hände.
»Alles ist in Ordnung, Mutter«, sagte er müde, »ich geh mal unter die Dusche und ich habe keinen Hunger, bin später noch weg.«
Sie kicherte und zwinkerte ihm vielsagend zu, dann tappte sie wie in Trance zurück zum Sofa, ließ sich schwerfällig darauf hinabsinken und widmete sich wieder dem Fernseher.
Endlich saß Jakob mit klopfendem Herzen im überfüllten Bus und lehnte seinen heißen Kopf an die Fensterscheibe. Seine Hände zitterten und eine leichte Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus. Es war lächerlich, aber er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal verabredet gewesen war.
Am von Menschen überfüllten Hansaplatz angekommen, entdeckte er Nelu sofort. Er zog jeden Blick auf sich. Mit undurchdringlicher Miene saß er in seiner maßgeschneiderten Kleidung mittig auf den breiten Steintreppen und musterte mit abschätzendem Blick die Passanten, die einen respektvollen Abstand zu ihm einhielten.
Jakob eilte auf ihn zu. Nelu wirkte angespannt und nervös. Seine Kiefermuskeln zuckten.
»Nicht gut drauf heute?«, fragte Jakob leise und sah ihn von der Seite an.
»Nicht der Rede wert. Nur eine kleine Schlampe, die mich ein bisschen auf die Palme bringt. Keine Sorge, sie wird schon bekommen, was sie verdient.« Endlich lächelte er.
Eine Weile hockten sie nur da und beobachteten die Leute, die an ihnen vorübereilten.
Die Menschen in der Fußgängerzone wirkten wie Drogenabhängige, wie sie mit verklärtem Blick von einem Geschäft ins nächste taumelten, die Arme fest um ihre vollen Einkaufstüten geschlungen. Wie immer war die Innenstadt überlaufen. Das Ballungszentrum Ruhrgebiet. Zu viele Menschen, auf zu wenig Platz.
»Die tun mir leid, diese mickrigen, kleinen Gestalten«, Nelu fuhr sich mit der Hand durch sein glänzendes Haar, »malochen den ganzen Tag von früh bis spät, verbraten dann ihren kümmerlichen Lohn, um sich unnütze Konsumgegenstände zu kaufen, und versuchen sich einzureden, dass sie das glücklich macht. Abends Fernsehprogramm und wenn’s gut läuft ein kleiner Fick mit der Alten.« Er spuckte angewidert auf die Straße. »Das kann doch nicht alles sein. Das Leben ist doch viel zu kurz, oder?«
Er sah Jakob an, der zustimmend nickte.
»Aber nicht mit mir«, stieß Nelu grimmig hervor, »ich werde irgendwann am Strand sitzen, mit einem Drink in der Hand auf das Meer schauen und es mir gut gehen lassen. Warst du schon mal in Italien?«
Jakob druckste herum und sah zu Boden.
»Mallorca«, flüsterte er kaum hörbar.
»Was ist los? Ist doch auch geil. Aber in Italien gibt es das beste Essen der Welt, und die Italiener sind ein echt entspanntes Volk. Was hast du?«
»Kein cooler Urlaub gewesen damals«, Jakob räusperte sich.
Nelu musterte ihn, sagte aber nichts. Die Gesprächspausen waren nicht unangenehm.
Ein etwa 14-jähriges, blasses Mädchen drückte sich seit einiger Zeit neben ihnen herum. Sie rutschte, die Finger um die Treppenstufen gekrallt, als wolle sie sich daran festhalten, näher an Nelu heran.
»Was?«, fuhr Nelu sie plötzlich an, »was zum Teufel ist los, Luisa?« Seine Augen wurden zu engen Schlitzen, als er ihr wütend ins Gesicht starrte.
Das Mädchen schreckte zurück. Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Vadym, ich will heute nicht schon wieder zu Paul gehen«, flüsterte sie mit piepsender Stimme.
Sie schien all ihren Mut gesammelt zu haben, um diese Worte auszusprechen. Dem Mädchen begannen Tränen über das Gesicht zu laufen.
Nelu blickte sie kalt an und zeigte keine Regung.
»Natürlich gehst du«, zischte er gefährlich leise.
»Ich will nicht«, schluchzte sie, »Paul ist gemein zu mir. Er tut mir immer entsetzlich weh. Günther ist viel netter. Kann ich nicht zu Günther gehen?«
»Wenn du nicht zu Paul gehst, siehst du mich nicht wieder. Er hat extra nach dir gefragt.«
Sie riss ihre Augen auf und starrte ihn entsetzt an.
»Wenn du nicht gehst, dann werde ich deine Schwester kennenlernen und mich nur noch ihr widmen«, fuhr Nelu ruhig fort.
»Natalie ist acht«, kreischte Luisa, und ihre Stimme überschlug sich, »die kann dir noch keinen Gefallen tun.«
Nelu lächelte.
»Aber sicher kann sie das. Früh übt sich. Du wirst schon sehen. Überlege dir gut, was du tust, Luisa, sonst gibt es keinen Vadym mehr für dich. Ich hole dich nicht mehr von der Schule ab, und deine dummen Freundinnen werden nicht mehr dämlich aus der Wäsche gucken und sich vor Neid in den Arsch beißen, wenn sie dich mit mir sehen.«
Sie zögerte, schien nachzudenken, nickte dann gequält und schlich, sichtlich verstört, mit hängenden Schultern davon.
»So«, erklärte Nelu gut gelaunt, und Jakob fiel erneut sein schneller Stimmungswechsel auf. »Wir zwei Hübschen gehen jetzt zum Kanal. Ein bisschen was trinken und vielleicht in die kühlen Fluten springen, es ist immer noch schrecklich heiß, oder? Was meinst du?« Jakob zuckte zusammen.
»Ich kann nicht zum Kanal gehen«, stieß er hektisch hervor und bemerkte, dass seine Stimme viel zu laut klang.
Nelu sah ihn irritiert an.
»Warum nicht? Angst vor Wassergeistern, oder was?« Er lachte.
Jakob starrte ihn aus geweiteten Pupillen panisch an.
»Ja, das trifft es«, er versuchte, sich zusammenzureißen und normal zu sprechen, aber es misslang ihm. »Ich kann nicht zu fließenden Gewässern gehen, ich kann auch nicht ans Meer gehen. Alles, was mit tiefem, dunklem Wasser zu tun hat, funktioniert nicht mehr.« Er schluckte krampfartig. »Ist mal was Komisches passiert, weißt du? Am Meer. Damals auf Mallorca.« Seine Stimme versagte.
»Alles gut. Kein Problem«, Nelu unterbrach ihn und klopfte ihm beruhigend mit der Hand auf die Schulter. »Es gibt auch noch etwas anderes als den Kanal und die Emscher, selbst bei diesem Wetter. Komm mit. Du bist der Auserwählte. Der erste Mensch, dem ich meinen Lieblingsplatz zeige. Wir brauchen noch was zu trinken.«
Er packte Jakobs Arm und zog ihn Richtung Westenhellweg. Die zentrale Einkaufsstraße in der Dortmunder Innenstadt gehörte zu den 10 meistbesuchten Einkaufsmeilen Deutschlands. Sie drängten sich durch die Passanten, betraten ein großes Kaufhaus, in dem sich in der unteren Etage ein Supermarkt befand. Im Laden bewegte sich Nelu zielstrebig auf das Spirituosenregal zu, griff nach einer Zwei-Liter-Flasche Wodka und warf sie mit Schwung in seine Umhängetasche.
Jakob linste über Nelus Schulter auf das Preisschild und wurde blass. So teuren Wodka würde er sich nie leisten können.
Nelu hüpfte entspannt durch die Regalreihen, warf zwei Tüten Chips zu der Flasche und zog den Reißverschluss seiner Tasche zu. Er grinste Jakob breit an und machte sich auf den Weg zur Kasse.
Die Kassiererin war verdammt hübsch. Sie sah so gut aus, dass Jakob verlegen nach unten auf seine Schuhe blickte. Die Frau richtete sofort ihre komplette Aufmerksamkeit auf Nelu und ignorierte Jakob. Erleichtert atmete er auf. Als Nelus Schatten wurde er quasi unsichtbar für alle anderen.
Nelu lachte die Kassiererin an und ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Nichts gekauft, schöne Frau«, sagte er, hob beide Arme nach oben und hielt ihr seine leeren Handflächen vors Gesicht, »aber bei so viel Schönheit, die hinter der Kasse versteckt ist, komme ich bestimmt die nächsten Tage wieder.«
Sie stieß ein grelles Kichern aus und fummelte mit ihren rot lackierten Fingern hektisch an ihren blonden Haarsträhnen herum. Sie schien von Nelus Anblick hingerissen zu sein und wirkte, als stünde sie unter Drogen, als sie versuchte, ihm unter ihren langen Wimpern vielsagende, belämmerte Blicke zuzuwerfen.
Jakob versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. So wie die Frau sich aufführte, erschien sie ihm plötzlich gar nicht mehr so gut aussehend.
»Bis zum nächsten Mal, Schätzchen. Ich freue mich auf dich.«
Nelu rückte seine Umhängetasche zurecht und stolzierte lässig aus dem Laden. Jakob stolperte hinter ihm her.
»Geht doch. Wozu bezahlen, wenn es auch anders geht.« Nelu wirkte zufrieden.
Jakob prustete los. »Was hast du mit der Tussi gemacht? Die hat ja gar nichts mehr gecheckt.«
»Man muss nur wissen, wie man mit Frauen umgehen muss, dann bekommt man fast alles geschenkt«, erklärte Nelu, »mit Männern ist es übrigens dasselbe.« Er sah Jakob vielsagend an. »Menschen sind dumm und beeinflussbar. Man muss nur mit den Fingern schnippen, und schon tun sie, was du willst.«
Es war inzwischen dunkel geworden. Die Lichter aus den Schaufenstern der mittlerweile geschlossenen Geschäfte leuchteten in bunten Farben. Die Luft roch nach Sommer. Am Ende der Katharinenstraße blieb Nelu stehen.
»Wir sind gleich da. Ich zeige dir jetzt ein Ritual. Etwas, dass man tun muss, wenn man hier vorbeigeht.« Er ging voran. Jakob schaute neugierig die Treppen hinunter, die zum Hauptbahnhof führten.
Ein alter Obdachloser kauerte in seinem zerrissenen Mantel am Fuße der Treppe. Der Mann hatte langes, fettiges Haar und einen verfilzten, grauen Vollbart, sodass man sein Gesicht kaum erkennen konnte, und starrte stoisch auf die leere Straße.
Die Obdachlosenszene in Dortmund schien mit jedem Tag zu wachsen, dennoch war sich Jakob sicher, diesen Mann schon öfter in der Stadt gesehen zu haben.
Nelu erhöhte sein Tempo, als er die Stufen hinuntersprang und auf den Mann zuging. Bei ihm angekommen, holte er mit seinem Fuß aus und trat mit Wucht gegen den Pappbecher, der vor dem Mann gestanden hatte.
Der Becher flog weit, und das Kleingeld, das sich darin befunden hatte, prasselte klimpernd auf den Asphalt. Es klang wie ein tosender Regen, der durch die Nacht hallte.
Der alte Mann schrak zusammen, wich auf dem Gehsteig zurück und versuchte, sich im Schatten zu verkriechen.
»Du dreckige Kakerlake«, schrie Nelu in seine Richtung, »verkriech dich nur in den stinkenden Ritzen der Straße, du scheiß Tier, du. Das nächste Mal trete ich dir deinen Kopf weg.«
Jakob konnte das ängstliche Wimmern des Mannes hören.
Ganz tief in seinem Inneren regte sich so etwas wie Mitleid, doch er verdrängte das Gefühl.
»Ein alter Bekannter«, riss Nelu ihn aus seinen Gedanken, »tut immer wieder gut, diesen Pennern mal zu zeigen, wo sie stehen, sonst denken sie noch, die Straße gehört ihnen.«
Jakob schwieg.
Sie kamen an einer Hochhausansammlung am Königswall an. Es handelte sich hauptsächlich um verschiedene Büros, die in den Gebäuden ihren Sitz hatten. Nelu steuerte das höchste der Häuser an, das schräg gegenüber dem Fußballmuseum lag. Die meisten Fenster der Geschäftsräume lagen in Dunkelheit, nur vereinzelt war noch Licht hinter den Scheiben zu erkennen.
Nelu zog einen Schlüssel aus seiner Tasche, ging auf das Gebäude zu und schloss die schwere Tür auf. Er legte den Zeigefinger an seine Lippen.
»Ist besser, leise zu sein. Falls uns jemand begegnet, tu so, als würdest du hier täglich ein und aus gehen, als wäre alles ganz normal«, flüsterte er und ging voran.
Mit weichen Knien folgte ihm Jakob.
Nelu ging zielsicher auf die Aufzüge zu, drückte einen Knopf, und mit einem lauten Bing, das durch das gesamte Treppenhaus hallte und Jakob vor Schreck zusammenfahren ließ, öffnete sich die Fahrstuhltür. Sie betraten die Kabine.