Kitabı oku: «Emscher Zorn», sayfa 4

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Nelu drückte auf den Knopf, der sie bis ganz nach oben in das 20. Stockwerk schicken würde, und die Türen schlossen sich.

»Woher hast du die Schlüssel für das Gebäude?«, fragte Jakob leise. Das monotone Surren des Fahrstuhls entspannte ihn ein wenig.

»Nachmachen lassen. Kannte mal einen, der hier gearbeitet hat und mir einen Gefallen schuldig war.«

Sie kamen oben an, stiegen eine Treppe hinauf, kletterten durch eine Luke und befanden sich auf dem riesigen Flachdach des Gebäudes.

»Das ist mein Lieblingsplatz.« Nelu wirkte stolz – Jakob staunte.

Der Himmel tat sich wie ein nachtschwarzes Zelt über ihnen auf. Viele Tausend Sterne strahlten auf sie hinab und schimmerten hell. Der U-Turm, das ehemalige Gär- und Lagerhochhaus der Dortmunder Union-Brauerei, der mit seinem Programm inzwischen nur noch Studenten, Kunstaffen und langweilige Kreativitätsvernarrte anzog, schien ganz nah zu sein. Die wechselnden Bilder der Kunstinstallation am Dach des Turmes durchbrachen in leuchtenden Farben die Nacht.

»Wow«, stieß Jakob hervor.

Sie setzten sich, lehnten sich mit den Rücken an die Steine eines der quadratisch ummauerten Schornsteine und sahen andächtig in den Himmel.

»Echt schön«, murmelte Jakob.

Nelu zog den Wodka aus der Tasche, öffnete ihn, trank einen großen Schluck und reichte die Flasche weiter an Jakob. Der Wodka brannte angenehm in der Kehle und fühlte sich im Bauch wohlig und warm an, so als würde er dort hingehören. Die angenehme Stille wurde durch den schrillen Klingelton von Nelus Handy unterbrochen.

»Fuck«, schimpfte Nelu genervt, »hab vergessen, das Ding auszuschalten. Tut mir leid, Mann.«

Er sah auf das Display.

»Einmal muss ich noch rangehen. Dann stell ich das Teil auf lautlos, ich verspreche es«, sagte er entschuldigend. »Gisela«, schnurrte er in den Hörer, »ja, meinem Bruder scheint es tatsächlich besser zu gehen. Ich danke dir noch mal. Vielen, vielen Dank. Ich wüsste nicht, was ohne dich aus ihm geworden wäre, meine Sonne. Was? Nein, heute kann ich ihn nicht alleine lassen. Morgen, morgen sehen wir uns, Liebling. Oh, mein Bruder ruft.« Er stieß Jakob mit der Schulter an.

»Rufe, dass ich zu dir kommen soll. Ich heiße Rupi«, zischte er, »worauf wartest du?«

Jakob räusperte sich, er kam sich blöd vor.

»Rupi, kommst du bitte?«, rief er unsicher.

Nelu sah ihn erwartungsvoll an und hielt den Hörer in seine Richtung.

»Rupi, jetzt komm endlich. Ich warte auf dich«, versuchte Jakob es erneut.

Nelu schien zufrieden und säuselte weiter in den Hörer, dann beendete er das Gespräch und seufzte schwer.

»Was sind das für Frauen, die dich immer anrufen?«, fragte Jakob vorsichtig.

»Das ist einer meiner Jobs. Ich bin so was wie ein Schauspieler. Von irgendwoher muss ja die Kohle kommen.«

»Und was ist mit deinem Bruder?«

Nelu sah ihn entgeistert an, dann brach er in lautes Gelächter aus. »Das ist nicht dein Ernst, Mann. Ich habe keinen Bruder, und selbst wenn ich einen hätte, würde mir sein Schicksal am Arsch vorbeigehen.« Er krümmte sich vor Lachen und vergrub sein Gesicht zwischen den angezogenen Knien. Seine Schultern bebten.

Es dauerte lange, bis er sich beruhigte und weitersprechen konnte. »Ich reiße so ein paar alte Muttis auf, die einsam und alleine sind, und mit ein paar herzerweichenden Storys ziehe ich ihnen das Geld aus der Tasche. Die kranke Brudernummer kommt immer wieder gut. Das Zeitmanagement ist halt manchmal nicht so einfach. Die alten Tanten fordern immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Ich sag es dir, sie versuchen einen auszusaugen. Wenn es zu schlimm wird, muss man sich das nächste Opfer suchen. Man muss da flexibel sein. Ist manchmal echt anstrengend.« Er schüttelte betrübt den Kopf.

»Das hört sich an, als wärst du eine Hure«, rutschte es Jakob heraus. Schnell sah er zu Nelu herüber, doch der schien nicht im Geringsten beleidigt zu sein.

»Meinst du, ich schlafe mit diesen faltigen Steinzeitomas? Das hätten sie zwar gerne, aber ich halte sie an der langen Leine. Sie dürfen mich gerne bekochen und lieb zu mir sein, mal ein bisschen antatschen und knutschen ist drin, aber mehr nicht, das macht mich für sie nur noch begehrenswerter. Ich kann dich ja mal mitnehmen und dir eine vorstellen. Vielleicht stehst du ja auf ältere Semester. Monika ist noch die Schärfste von allen, die springt dich gleich an, wenn sie dich sieht.« Fragend hob er die Augenbrauen.

»Ne, danke. Lass mal«, wehrte Jakob schnell ab.

Nelu betrachtete ihn und fing an zu grinsen. »Ich glaub es nicht. Du bist noch Jungfrau.«

Jakob schwieg.

»Krass«, meinte Nelu und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Sie tranken. Es war still oben auf dem Dach.

Die Geräusche der Stadt, der Autolärm und das Gegröle der Menschen drangen nur gedämpft zu ihnen hinauf.

Die ganze Welt schien unter einem Schleier zu liegen und war meilenweit entfernt von ihnen.

Hier oben waren sie allein. Unbeobachtet und unsichtbar für alle anderen. Weggetaucht aus dem normalen Leben.

Jakob fühlte sich glücklich. Das warme, spürbare Pochen in seinem Herzen war ihm so fremd geworden, dass er sich fühlte, als wäre er aus seiner Haut geschlüpft und ein anderer Mensch geworden.

Sie saßen lange einfach nur da, Zeit spielte keine Rolle mehr.

Der Wodka tat sein Bestes dazu, dass Jakob alles egal wurde.

Nur dieser Moment war wichtig, alles andere hatte keine Bedeutung mehr. Der langweilige, nicht enden wollende Alltag, mit all seinen Problemen, schien meilenweit entfernt zu sein.

Nelu sprang energiegeladen auf.

»Jetzt gehen wir feiern und machen richtig einen drauf«, beschloss er übermütig, breitete beide Arme aus und begann sich, den Kopf in den Nacken gelegt, im Kreis zu drehen.

»Laute Musik und geile Weiber, das ist es, was ich jetzt brauche«, schrie er in den Himmel.

Jakob druckste herum. »Du, äh, ich hab kein Geld und bin auch nicht richtig angezogen.« Er deutete auf seine übliche Jogginghose.

»Scheiß drauf. Ich kenne jeden Türsteher der Stadt. Wir werden überall mit offenen Armen empfangen, egal, was du trägst. Wir machen uns jetzt auf ins Gewerbegebiet Spähenfelde und gehen in die Traumfabrik. Da ist auch am Montag richtig was los.« Entschlossen packte er Jakobs Hand und zog ihn auf die Beine. Seine Euphorie war ansteckend.

Jakob war noch nie in der Traumfabrik gewesen, die in Partykreisen liebevoll als Asi-Park bezeichnet wurde. Er hatte sowieso nie am nächtlichen Partyleben teilgenommen, da ihm für so etwas das Geld fehlte. Das Einzige, was er sich manchmal leistete, waren ein paar Bier und Schnäpse in Gustavs Eckkneipe.

Mach dir nicht immer so viele Gedanken, schalt er sich selbst.

Er ließ sich von Nelu anstecken und von seiner Begeisterung mitreißen. Es war einfach. Zusammen mit Nelu war alles leicht. Jakob hatte das Gefühl, er würde fliegen können, wenn er es nur versuchen würde.

Kapitel 8 – Tim

Tim König wünschte sich den Winter herbei. Während er schwitzend in die Pedale trat und Richtung Wache Nord radelte, sehnte er sich nach Schnee und Kälte. Die kurze Fahrt ähnelte einer Reise in ein anderes Land. Er ließ sich vom gepflegten Kreuzviertel die steile Unionstraße hinab in den dreckigen Schlund der Nordstadt rollen. Schimpfend wich er einem betrunkenen Mann aus, der, unverständliche Lieder singend, über die Straße torkelte.

Wie so oft hatte er verschlafen und war eine halbe Stunde zu spät dran. Sein schmerzender Rücken erinnerte ihn daran, dass er die ganze Nacht vor dem Computer gehangen und gezockt hatte, und noch immer hatte er es nicht geschafft, der Gaming-König von »Warriors of Darkness« zu werden.

Eigentlich hatte er gar keine Zeit zu arbeiten, dachte er frustriert, während ihm der Schweiß über das Gesicht lief.

Für diese Jahreszeit war es immer noch viel zu heiß. Es war Anfang September, und dieser Sommer forderte alles von jemandem, der Kälte liebte. Er wollte einfach nicht zu Ende gehen.

Scheiß Klimakatastrophe, dachte König, als er mit schweren Schritten durch den erbsensuppengrün gestrichenen Flur der Wache zu seinem Büro eilte und das quietschende Geräusch seiner Schuhe auf dem abgetretenen Linoleumboden von den Wänden widerhallte, die Jugend hatte schon recht, wenn sie für mehr Klimaschutz auf der Straße protestierte.

Er spürte sofort, dass irgendetwas passiert sein musste, als er das stickige Büro betrat und Markowski ihm schadenfroh grinsend entgegensah.

Dressler stand bewegungslos und wie erstarrt am Kopierer und hatte ihnen den Rücken zugedreht. Vielleicht war er im Stehen eingeschlafen.

»Morgen, Markowski«, grüßte König vorsichtig und ließ sich hinter seinen Schreibtisch sinken.

Markowski antwortete nicht, biss kraftvoll in seinen Salzkuchen mit Mett und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

Der Gestank von Zwiebeln und leicht verdorbenem Hackfleisch war so penetrant, dass König würgen musste. Die Mischung aus Hitze und Gestank erschlug ihn. Er versuchte krampfhaft, so wenig wie möglich zu atmen.

»Sattler will dich sprechen«, stieß Markowski mit vollem Mund hervor, und seine kleinen, verschlagenen Augen fixierten ihn. »Sofort hat sie gesagt, und sie schien nicht besonders gut gelaunt zu sein.«

König wurde blass. Er sah Dresslers Schultern vor unterdrücktem Lachen beben.

Helena Sattler war die Dienstgruppenleiterin der Polizeiwache Nord. Ein rothaariger, meist schlecht gelaunter Drache. Sie versuchte, um sich als weibliche Vorgesetzte Respekt zu verschaffen, strenger, unfreundlicher und gnadenloser zu sein, als jeder männliche Chef es sein könnte.

Eventuell nicht der richtige Weg, um mit ihrem Team Hand in Hand zu arbeiten, war Königs Meinung.

Unter Markowskis gehässigem Blick stand König langsam und wortlos auf und ging zur Tür, dabei stolperte er über den Papierkorb, der wie immer mitten im Weg stand. Dresslers prustendes Gelächter verfolgte ihn, als er hastig den Raum verließ.

Eigentlich war er froh, diese nach Metzgerei stinkende Bude von einem Büro verlassen zu können.

Auf dem Flur musste er den Drang, einfach zur Eingangstür hinauszuspazieren und nach Hause zu fahren, mit aller Kraft unterdrücken. Seit Corinna ihn vor drei Jahren, für ihn völlig überraschend, verlassen hatte, wurde sein Bedürfnis, sich zu verkriechen und die Außenwelt auszusperren, von Tag zu Tag stärker. Ihm war bewusst, dass sein übermenschliches Verlangen nach seinem Computer, einer Tasse Tee und der schnurrenden Jutta auf seinem Schreibtisch nicht normal war. Seit drei Jahren wartete er darauf, dass er, wie durch ein Wunder, wieder Interesse an seiner Umwelt entwickelte, doch das Gegenteil war der Fall. Die ermüdende Realität erschien ihm absurd und bedrohlich.

Er seufzte tief, klopfte leise und betrat das Büro von Sattler.

Sie blickte von den Papierbergen auf ihrem Schreibtisch auf und zog die dünnen, roten Augenbrauen hinter ihrer giftgrün umrandeten Brille nach oben.

»König. Wie schön, Sie mal wieder an Ihrem Arbeitsplatz anzutreffen. Ich hatte Sie eigentlich schon vor einer Stunde erwartet. Wieder mal ein bisschen später geworden, der Dienstbeginn heute, was?« Sie rümpfte ihre schmale Nase.

Eine Angewohnheit, die sie während eines Gesprächs häufiger machte. Schien so etwas wie ein Tick von ihr zu sein.

König antwortete nicht. Wie ein kleiner Junge stand er mit verschränkten Händen vor ihrem Schreibtisch und wartete darauf, dass sie ihm anbot, sich auf einen der Stühle zu setzen. Er schob sich eine Strähne seines unbändigen Haars aus der Stirn.

Sie kostete sein Unwohlsein in vollen Zügen aus und betrachtete ihn ausgiebig durch die dicken Brillengläser. Schließlich erbarmte sie sich und wies ihn an, Platz zu nehmen.

Er tat es, sah sie an und entdeckte, dass etwas mittig auf ihrem rechten Brillenglas klebte. Es sah aus wie ein dicker Kekskrümel.

Ob sie das nicht störte? Warum merkte sie es nicht? Oder sollte das ein bewusstes Ablenkungsmanöver sein, damit man ihr nicht ins Gesicht sah, sondern seine Konzentration allein auf den Krümel richtete.

»Also, König«, riss sie ihn aus seinen Gedanken, »warum ich Sie habe rufen lassen, hat folgenden Grund.« Sie blätterte zerstreut in einer Akte, dann blickte sie nach oben und sah ihm in die Augen. Ihr Blick war hart. »Sie sind fast mehr krank, als dass Sie auf der Arbeit sind. Und Sie kommen fast täglich zu spät.« Sie wartete.

König wusste nicht, was er antworten sollte, sie hatte ja recht, also nickte er und lächelte sie an.

»Gefällt es Ihnen nicht bei uns? Fühlen Sie sich nicht wohl?«, versuchte sie erneut, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Na ja«, druckste er, »die Kollegen und ich, das ist manchmal etwas schwierig.«

Sie knallte ihre Faust auf den Schreibtisch. Wieder zuckte ihre Nase und ließ sie wie ein gestörtes Kaninchen aussehen.

»Die Kollegen sind also schwierig. Herrgott noch mal, König. Dann reden Sie mit denen und klären das. Sie sind Polizist, verdammt noch mal, kein kleines Mädchen.«

Ihr Gesicht hinter der Brille rötete sich und nahm dieselbe Farbe an wie ihr Haar. Sie schnappte nach Luft und kämpfte sichtlich damit, wieder Herr ihrer selbst zu werden.

Mit dem Kekskrümel auf der Brille, der ihr Auge verbarg, und dem roten Haar sah sie der einäugigen Hexe in »Warriors of Darkness« erstaunlich ähnlich, stellte König überrascht fest. Er stellte sich vor, seine Schrotflinte zu laden wie in dem Spiel und ihr den Kopf von den Schultern zu blasen. Wieder musste er lächeln.

»Was lächeln Sie so dämlich?«, fuhr sie ihn an, »manchmal habe ich wirklich das Gefühl, Sie ticken nicht ganz richtig.«

Sie versuchte, sich zu sammeln. »Sie werden ab heute zusammen mit Markowski Streife fahren, dann verbringen Sie genug Zeit mit ihm, um ihn besser kennenzulernen. Glauben Sie mir, Markowski ist in Ordnung. Ich ziehe Dressler in der Zwischenzeit für den Bürokram ab. Mal raus auf die Straße, wie in den guten alten Zeiten. Sie sehen blass aus, König. Ein bisschen frische Luft und mehr sozialer Kontakt zu den Kollegen wird Ihnen guttun.«

Zufrieden lehnte sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurück. Ihr Blick hatte etwas Schlangenähnliches.

»Äh, also ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist«, begann König.

Ihre Nase zuckte wie wild.

»Das ist keine Idee. Das ist eine Anordnung.« Sie schien langsam wütend zu werden. »Und jetzt raus hier. Ich habe genug Zeit mit Ihnen verschwendet. Regeln Sie das, worüber wir gesprochen haben, ansonsten sehe ich mich gezwungen, andere Schritte einzuleiten.«

Das Gespräch schien beendet zu sein. Sie sah erschöpft aus, als König ihr Büro verließ, und sie tat ihm fast leid. Die Frau hatte es wirklich nicht leicht.

Im Flur kam ihm Markowski mit griesgrämiger Miene entgegen. Seine gute Laune von heute Morgen schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Er hatte sich, trotz der saharaähnlichen Temperaturen draußen, seine hässliche, schwarze Lederjacke übergezogen, die noch aus den 60er-Jahren zu stammen schien. Sein runder Bauch ragte wie ein Ballon aus der geöffneten Jacke hervor. In der Hand schwenkte er den Autoschlüssel.

»Haste ja toll hingekriegt, König«, raunzte er ihn an, »glaub mir, ich bin nicht glücklich darüber, mit dir die nächsten Tage im Streifenwagen verbringen zu müssen. Dressler und ich sind ein eingespieltes Team. Er war kurz davor in Tränen auszubrechen, als er hörte, dass du ihn ersetzen sollst. Das ist echt das Letzte.« Vorwurfsvoll sah Markowski ihn an.

»Ich wusste gar nicht, dass Dressler so sensibel ist«, murmelte König betreten.

»Dressler ist sehr empfindsam und ein wahnsinnig guter Polizist. Von dem könntest du dir eine Scheibe abschneiden. Er ist ein feiner Kerl, etwas weibisch vielleicht in manchen Momenten, aber wenn es hart auf hart kommt, kann man sich blind auf ihn verlassen. Herrgott noch mal, du hast keinen Plan, was draußen auf der Straße los ist. Ich bin mir nicht sicher, ob Sattler weiß, was sie da angerichtet hat.« Fluchend warf Markowski ihm die Wagenschlüssel zu. »Du fährst«, motzte er, drehte sich um und stapfte mit schweren Schritten Richtung Parkplatz.

»Ich hole nur noch schnell meine Tasche«, rief König ihm hinterher.

»Mach das, du Kollegensau«, hörte er Markowski grummeln.

Mit hängenden Schultern sah König ihm hinterher, dann spurtete er los, um seine Tasche zu holen.

Mit gemischten Gefühlen sah er dem kommenden Arbeitstag entgegen.

Kapitel 9 – Jakob

Das weitläufige Industriegebiet Spähenfelde, mit seinen zahlreichen Gewerbeflächen, lag wie ausgestorben vor ihnen. Aus der Traumfabrik dröhnten laute elektronische Beats, und der Bass wummerte selbst draußen auf der Straße so laut, dass der Asphalt des Gehsteiges zu beben schien. Vor dem Eingang hatte sich eine lange Menschenschlange bis hinunter zur nächsten Straßenecke gebildet.

Jakob zog zögernd an Nelus Ärmel. »Meinst du wirklich, ich kann da reingehen? Guck mal, wie ich aussehe.« Hektisch fummelte er an seinem alten T-Shirt herum.

Er betrachtete die Männer in der Schlange. Nicht ein einziger trug Turnschuhe. »Und außerdem muss ich morgen früh zu Frau Siemens-Kleimann.«

Nelu lacht laut auf. »Wer zum Teufel ist Frau Siemens-Kleimann?«

»Meine Sachbearbeiterin vom Jobcenter«, erklärte Jakob mit düsterer Miene, »sie streicht mir immer wieder das Arbeitslosengeld und bietet mir Jobs an, die kein Schwein machen will. Sanktionen nennt sie das. Diese Frau ist eine verfluchte Sadistin. Ich wünschte, die Alte wäre tot.«

»Jetzt hab dich nicht so. Jammere nicht rum und komm endlich mit.« Nelu zog ihn an der Schlange vorbei nach vorne zu dem schrankähnlichen Türsteher in Anzug und Krawatte, dessen Blick grimmig und genervt über die Menschenmenge flog.

Als er Nelu erkannte, entspannten sich seine Gesichtszüge und er begann zu strahlen. Er breitete seine Arme aus, und die beiden umarmten sich brüderlich. Der Türsteher drückte Nelu fest an seine breite Brust.

»Avram, wie kommen wir denn zu der Ehre, dass du uns mal wieder besuchst? Ist das schön, dich zu sehen, Bruder. Komm rein, komm rein.«

»Komm, Jakob«, rief Nelu über die Schulter.

Die Augen des Türstehers musterten Jakob von oben bis unten. Er verzog keine Miene.

»Der gehört zu dir?«, fragte er misstrauisch; als Nelu nickte, lächelte er Jakob zu.

»Herzlich willkommen.« Er winkte ihn mit einer Handbewegung hinein.

Ohrenbetäubende Musik empfing sie. Das Wummern des Basses vermischte sich mit Jakobs Herzschlag.

Im Klub war es dunkel, nur die Tanzfläche und die Bar wurden von zuckenden Lichtern beleuchtet. Die Einrichtung und Wände waren in Rottönen gehalten.

Nelu bewegte sich, als wäre er hier zu Hause, und zog Jakob durch die tanzenden Menschen zur Theke. Er küsste die Bardame auf beide Wangen, die unaufgefordert zwei monströs große Gläser, gefüllt mit einer trüben Flüssigkeit, vor ihnen auf die Theke stellte.

Erst als Jakob sich an seinem Glas festhalten konnte, begann er sich etwas sicherer zu fühlen. Der Drink war stark. Eine Mischung aus Hochprozentigem, die Jakob zuvor noch nicht probiert hatte. Der Geschmack hielt sich in Grenzen, doch die Wirkung des Alkohols war sofort spürbar.

Jakob beobachtete die zuckenden, sich drehenden Leiber vor ihm. Die entrückten Gesichter der Tanzenden, die die Arme in die Luft streckten und das Leben feierten.

Glücklich, frei und mit sich selbst im Reinen.

Sie konnten sich selbst spüren, und ich kann das nicht, dachte Jakob. Ein Gefühl der Verbitterung überkam ihn. Er gehörte nicht dazu. Grenzte sich allein durch seine schäbige Kleidung und sein Aussehen von den anderen ab.

Er trank einen großen Schluck.

Nelu, der neben ihm gestanden hatte, stieß sich von der Bar ab und sprang auf die Tanzfläche. Er lachte Jakob zu und verschmolz sofort mit der Masse. Er bewegte sich geschmeidig und anmutig im Rhythmus der Musik, als würde sie durch die Boxen direkt durch seinen Körper fließen. Sofort richteten sich die Blicke der weiblichen Besucherinnen auf ihn.

Nelu machte ihm Handzeichen und versuchte, ihn auf die Tanzfläche zu locken, doch Jakob schüttelte den Kopf. Niemals würde er vor allen Augen mit seinem dürren Körper ungelenke Tanzversuche und sich zum Gespött der Leute machen.

Er trank und schluckte die brennende Flüssigkeit schnell hinunter. Er beobachtete, wie Nelus Aufmerksamkeit sich auf eine junge Frau richtete und er auf ihre Flirtversuche einzugehen begann.

Sie tanzten nah voreinander, rückten enger zusammen und warfen sich vielsagende Blicke zu.

Jakob war vergessen und spürte den bitteren Geschmack von Galle in seinem Mund. Sein Hals wurde enger, und er hatte Schwierigkeiten zu schlucken.

Eifersucht fuhr wie ein Hammerschlag durch seinen Körper und machte ihn bewegungslos.

Schockiert stellte er fest, dass sich Tränen in seinen Augenwinkeln bildeten, die er schnell mit der Hand wegwischte.

Was war los mit ihm? Lag es am Alkohol, dass er so sentimental wurde? Er drehte sich von der Tanzfläche weg und sah in Richtung Bar.

Die Bardame hantierte mit Flaschen und Gläsern wie eine Schauspielerin auf einer Bühne.

Jede Bewegung wirkte einstudiert, und sie sonnte sich im Scheinwerferlicht und in der Bewunderung der Gäste.

Eigentlich war ihm Gustav in seiner Eckkneipe lieber, dachte er versonnen. Der war wenigstens ein Mensch aus Fleisch und Blut und verstellte sich nicht.

Nelu tauchte plötzlich wieder neben ihm auf. Er strich sich das verschwitzte Haar aus der Stirn.

»Geile Party«, stieß er atemlos hervor.

Jakob nickte, ohne zu lächeln, er wollte ihm den Abend nicht verderben.

»Ich muss bald los«, meinte er, »muss morgen wirklich früh raus.«

»Du bist doch grade erst gekommen.« Nelu wirkte enttäuscht.

Jakobs Herz machte einen kleinen Hüpfer.

Nelu zwinkerte ihm zu.

»Ich hab da was, das dich wach machen wird. Bock auf ’ne kleine Line? Wir bringen dich schon in die richtige Stimmung.« Er wies in Richtung Toiletten.

»Ne, lass mal. Mit Drogen hab ich es nicht so.«

Jakob fummelte verlegen an seinem Glas herum.

»Mann, du bist so ein Spießer. Dann warte kurz auf mich. Bin gleich wieder da.« Er verschwand.

Unsicher drückte Jakob seinen Rücken an die Theke und ließ seinen Blick über die feiernde Masse schweifen.

Nelu kam zurück, ein seliges Lächeln in seinem Gesicht. Ein Rest von weißem Puder schimmerte an seinem rechten Nasenloch.

»Ich muss jetzt los«, wiederholte Jakob.

»Moment. Wir besorgen dir noch Taxigeld.«

Nelu wandte sich dem Mann zu, der neben ihm stand, schon leicht betrunken über der Theke hing und aus glasigen Augen die Bardame anglotzte.

»Natascha, mach mal einen Drink fertig für meinen Bruder hier«, wies Nelu sie an und klopfte dem Mann wohlwollend auf die Schulter. Erfreut grinste der Mann Nelu an.

»Danke, mein Freund. Ich bin Dirk.« Er reichte ihm die Hand.

Nelu schlug ein.

»Luca«, stellte er sich vor. Die Muskeln seines Kiefers bewegten sich rhythmisch. Er knirschte mit den Zähnen.

Sie neigten die Köpfe zueinander und unterhielten sich.

Jakob konnte nicht verstehen, worüber sie sprachen, die Musik war zu laut. Er beobachtete, wie Nelu der Bardame zunickte, die zu den beiden herüberkam und den Mann namens Dirk in ein Gespräch verwickelte.

Nelu zückte ein kleines Fläschchen aus der Tasche, öffnete es, ließ mehrere Tropfen brauner Flüssigkeit in das Glas des Mannes tropfen und steckte es dann wieder weg. Die Bardame ließ von Dirk ab und drehte sich weg.

Mit einem debilen Lächeln auf dem Gesicht strahlte der Mann Jakob und Nelu an.

»Die Schnecke scheint mich zu mögen«, lallte er voller Stolz, »da habe ich heute den ganz großen Fang gemacht.«

Nelu stieß mit ihm an. Dirk trank in großen Schlucken. Es dauerte eine Weile, bis er sich an der Theke festhalten musste und seine Augen begannen hervorzutreten. Sein Gesicht nahm eine grünliche Farbe an »Scheiße. Was ist los mit mir? Es dreht sich alles.« Er stöhnte. Schweiß lief über sein Gesicht und tropfte auf den Tresen. Mit den Händen fasste er an seinen Magen und krümmte sich.

»Komm mit«, Nelu griff unter seinen Arm, »ich bringe dich auf die Toilette.«

Sie verschwanden und blieben eine ganze Weile weg.

Nelu kam bestens gelaunt und ohne Dirk zurück. Er nickte Natascha hinter der Theke zu, kramte ein Portemonnaie aus der Tasche, zog einen Hunderter daraus hervor und reichte ihn ihr.

»Ich bring dich noch nach draußen«, raunte er Jakob zu.

Die frische Luft tat gut. Ein paar Meter entfernt von der Eingangstür warteten Taxis. Jakob war erleichtert, die Lautstärke des Klubs hinter sich lassen zu können, und atmete befreit auf. Endlich ließ der Druck auf seinen Ohren nach.

Nelu drückte Jakob einen 200-Euro-Schein in die Hand.

»Hier. Komm gut nach Hause.«

»Das kann ich nicht annehmen«, wehrte Jakob entrüstet ab.

»Mann, das ist doch nicht mein Geld, du Affe«, lachte Nelu, »habe ich dem Spacken Dirk abgenommen.«

»Was ist mit ihm? Was hast du ihm ins Glas getan?«

»K.o.-Tropfen. Funktioniert immer wieder gut. Hab ihm auf dem Klo sein Geld abgenommen. Kleine Bezahlung dafür, dass er sich mit mir unterhalten durfte.«

Jakob zögerte.

»Nun schau nicht so blöd aus der Wäsche. Es geht ihm gut, und er wird nicht sterben. Man sollte sich halt vorher überlegen, mit wem man sich einlässt. Ist selbst schuld der Typ. Traue niemandem außer dir selbst, und so prall wie sein Portemonnaie gefüllt war, hat der Vogel genug Geld, glaub mir. Da kann er ruhig mal was abgeben.«

Jakob nickte. Das hörte sich vernünftig an. Menschen waren schlecht, und wer sich verarschen ließ, war selbst schuld. Er nahm den Schein, Nelu zog eine Visitenkarte aus der Tasche.

»Kannst mich ja mal anrufen. Ich gehe rein und schnappe mir die leckere Kleine, mit der ich vorhin getanzt habe. Eine ordentliche Nummer ist ein guter Abschluss für den heutigen Tag.« Jakob schaute auf die Karte in seiner Hand.

»Radu-Cristian Marsavela – Unternehmensberater«, stand auf der Karte und eine Telefonnummer.

»Mach ich«, flüsterte er in die Dunkelheit.

Nelu war längst im Inneren des Klubs verschwunden.

Als Jakob im Taxi saß und entspannt die Beine ausstreckte, spürte er, wie müde er war.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
354 s. 7 illüstrasyon
ISBN:
9783839267363
Yayıncı:
Telif hakkı:
Автор
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