Kitabı oku: «Emscher Zorn», sayfa 5

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Kapitel 10 – Nelu

Die Schwärze der Nacht verschluckte ihn und ließ ihn unsichtbar werden. Er lief über die hügeligen Waldwege durch die Bittermark. Äste und totes Holz knackten unter seinen Füßen. Irgendwo hörte er eine Eule rufen. In diesem Wald würde er sich blind zurechtfinden. Schon als Kind hatte er jedes Versteck in dieser zugewachsenen, grünen Oase ausgekundschaftet, war auf jeden der alten Bäume geklettert. Er verharrte einen Augenblick vor dem Mahnmal, das an ein Massaker der Nazis an Karfreitag 1945 erinnern sollte, und sich auf einer Lichtung im Wald befand. Dann setzte er seinen Weg fort. Er verließ den Wald und durchquerte ein pingelig gepflegtes, zu Tode langweiliges Wohngebiet.

Vor dem letzten, abseits liegenden Haus in der Siedlung blieb er stehen und spürte sein Herz in der Brust schlagen. Er atmete hechelnd durch den Mund.

Wie konnte es sein, dass dieser Bungalow ihn noch immer so verstörte?

Nelu sprang über das Tor und durchquerte den prächtigen Garten. Der Duft von Rosen drang in seine Nase. Der Geruch holte Erinnerungen zurück und ließ ihm übel werden. Er nahm einen der großen Steine auf, die als Dekoration um das Haus aufgereiht waren, umrundete das Gebäude und blieb vor der hinteren Terassentür stehen. Im Haus war es dunkel. Er holte aus und zertrümmerte mit dem Stein das Fensterglas. Durchsichtige Splitter sammelten sich auf dem Boden.

Sie sollten ruhig denken, dass Einbrecher hier am Werk gewesen waren.

Er griff von innen durch das zerstörte Fenster, öffnete die Tür und trat ein.

Die Beklemmung legte sich wie ein schwarzes Tuch über ihn. Er schaltete das Licht ein und wartete darauf, dass der Schwindel, der ihn ergriff, vorüber ging.

Das kalte Weiß der Möbel, das Weiß des Bodens und der Wände bohrte sich wie Nadelstiche in seine Augen.

Er sah sich als kleiner Junge durch das sterile Haus wandern, auf der vergeblichen Suche nach etwas Lebendigem.

Das schmerzhafte Sehnen nach einem liebevollen Wort, einem Lachen in diesem riesigen Gebäude kam zurück. Seine Hände glitten fahrig über seinen Körper. Ihm wurde kalt.

Geld, alles hatte sich immer nur um Geld gedreht.

Nelu biss die Zähne fest zusammen, schritt langsam zu dem gläsernen Wohnzimmertisch und setzte sich auf das weiße, überdimensional große Ledersofa. Er kramte hektisch das Tütchen und das Metallrohr aus der Tasche seiner Anzughose, zerkleinerte mit seiner Kreditkarte das Pulver, das er auf den Tisch gestreut hatte und zog eine riesige Line. Er stöhnte auf und legte den Kopf in den Nacken.

So war es schon besser. Er fuhr mit dem Finger über die Glasplatte und verrieb die Reste des Pulvers auf seinem Zahnfleisch.

Er sprang auf und tigerte durch das Haus, in dem er aufgewachsen war und noch immer in manchen Nächten schlief, auch wenn er von anwesenden Personen komplett ignoriert wurde.

Hier sprach schon lange niemand mehr mit ihm. In diesem Haus war er ein Geist, der missbilligend akzeptiert wurde.

Seine Eltern würden noch lange nicht nach Hause kommen. Die Partys, die der Golfklub veranstaltete, endeten nie, bevor der nächste Tag angebrochen war.

Sein Blick fiel auf die gerahmten Fotos auf dem Sideboard.

Er betrachtete den kleinen Jungen in Anzug und Krawatte, mit seinem schönen Gesicht, umgeben von Unmengen teurem Spielzeug. Nelu konnte die Verzweiflung und die Angst in seinen dunkelblauen Augen sehen.

Er zog geräuschvoll die Nase hoch und starrte die Bilder an. Mit einer kraftvollen, schnellen Bewegung fuhr sein Arm über das Sideboard und er riss die Fotos zu Boden. Es knirschte, als er die Bilderrahmen mit seinen Füßen zertrat.

Er hastete durch das klinisch saubere Haus, öffnete den Haushaltsraum und holte den großen Vorschlaghammer heraus.

Der erste Schlag gegen den Wohnzimmerschrank, der unter seinem Schwung in tausend Stücke zerbrach, war wie eine Befreiung.

Immer hatte er Druck verspürt. Er sollte höher, weiter, besser sein, als alle anderen Kinder.

Nelu schlug auf das weiße Klavier im Wohnzimmer ein. Die schwarzweißen Tasten stießen jaulende Klimpertöne aus und flogen in alle Himmelsrichtungen.

Wenn sein Vater wüsste, dass er sich inzwischen sein eigenes Imperium aufgebaut hatte. Er hatte es auf seine Weise geschafft, sich Macht, Ansehen und Geld zu verschaffen und er würde es noch weiter bringen, auch ohne den vorgeschrieben Weg des alten, verstockten Mannes zu gehen.

Nach einer Weile hielt er schnaufend inne und sah sich fasziniert in dem Chaos um, das er angerichtet hatte.

Es fühlte sich gut an, doch er musste seine Kräfte sparen.

Er hatte noch viel Arbeit vor sich und Großes vor.

Diesen Volltrottel Jakob, den er kennengelernt hatte, würde er sich so biegen, dass er ihm von großem Nutzen sein würde.

Nelu öffnete mit dem Zahlencode den Safe im Schlafzimmer seiner Eltern und ließ wahllos ein paar Scheine in seine Tasche gleiten. Er stieg über zerbrochenes Glas und die zertrümmerte Einrichtung und verschwand mit einem verklärten Lächeln im Gesicht so lautlos in der Nacht, wie er gekommen war.

Kapitel 11 – Leyla

Leyla umklammerte das Messer so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie hackte auf die Melonenstücke ein, die vor ihr auf dem Tisch lagen, um später eingemacht und verkauft zu werden. Eine Spezialität des kleinen Gemüseladens ihres Vaters. Leyla lachte verbittert auf. Ihr Vater, der Pläne mit ihr hatte. Pläne, mit denen sie ganz und gar nicht einverstanden war. Sie stach weiter auf das wehrlose Obst ein. Das gelbe Fruchtfleisch spritzte in alle Richtungen. Sie würde das später sauber machen müssen. Ihr Vater würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn er die Sauerei entdeckte.

Sehnsüchtig sah sie durch das Schaufenster hinaus auf die zugeparkte Blumenstraße. Die schiefen Häuser schienen sich gegenseitig stützen zu wollen, um nicht umzufallen.

Vor dem Fenster erschien dieser Typ von gegenüber. Das Baseballcap konnte sein kreidebleiches, eingefallenes Gesicht und die schwarzen Ringe unter seinen Augen nicht verbergen. Er traf sich mit dem anderen, mit dem, der immer diese Gesichtszuckungen hatte. Geldscheine und Plastiktütchen wechselten ihren Besitzer.

Leyla rückte ihr Kopftuch zurecht und wandte den Blick ab.

Ein Sonnenstrahl hatte sich seinen Weg durch die Fensterfront gesucht, das Messer in ihrer Hand blitzte im Licht auf. Zärtlich strichen ihre Finger über die Klinge.

Messer hatte sie schon immer geliebt.

Sie fuhr zusammen, als sie ein ungewohntes Geräusch vernahm.

Vor dem Schaufenster standen zwei dunkel gekleidete Männer mit Sonnenbrillen.

Leyla kannte jeden dieser irren Typen, die hier ein – und ausgingen, diese Personen waren ihr fremd.

Einer der beiden schüttelte eine Spraydose, der andere klopfte mit dem Fingernagel seines Zeigefingers an die Scheibe und glotzte zu ihr hinein.

»Wenn ihr reinkommt, stoße ich euch das Messer mitten ins Herz, ohne mit der Wimper zu zucken«, zischte Leyla in die Stille des leeren Ladens und riss ihre schwarzen Augen auf. Das Ticken der großen Uhr, die an der Wand hing, schien lauter zu werden.

Einer der Männer begann mit schwungvollen Bewegungen große Buchstaben von außen an die Scheibe zu sprühen.

Leyla knallte das Messer auf den Tisch, stürmte zur Eingangstür des Ladens und riss sie auf.

»Seid ihr nicht ganz richtig im Kopf? Was macht ihr da? Das ist Beschädigung fremden Eigentums«, brüllte sie die Männer an.

Die alte Erna aus dem Haus gegenüber, die wie immer aus dem Fenster schaute und das absurde Treiben auf der Straße beobachtete, lachte laut und klatschte ihr Beifall.

»Richtig so, Mädchen«, rief sie applaudierend, »zeig ihnen, wo es langgeht.«

Der Mann, der an das Fenster geklopft hatte, richtete hinter der Sonnenbrille langsam den Blick auf sie.

Lelya spürte, wie sich ihr Magen zusammenschnürte.

»Wir haben eine Botschaft zu überbringen.«

»Wovon redest du? Was für eine verdammte Botschaft?« Sie hasste sich dafür, dass ihre Stimme zitterte.

»Du hast dich mit dem Falschen angelegt, Süße. Hast den Falschen aus deinem mickrigen Laden geschmissen und mit einer Anzeige gedroht.«

Leylas Gedanken rasten durch ihren Kopf. Es kam öfter vor, dass einer ihrer Kunden versuchte, etwas mitgehen zu lassen, aber man kannte sich hier in der Gegend. Sie machte normalerweise kein großes Theater, wenn sie jemanden beim Klauen erwischte, sie ließ anschreiben, wenn jemand kein Geld hatte oder verschenkte auch mal etwas. Ohne das Wissen ihres Vaters natürlich.

»Macht meine Leyla nicht blöd an. Das ist ein gutes Mädchen«, brüllte die alte Erna aus ihrem Fenster. Sie schien sich sichtlich zu freuen, dass endlich mal etwas los war.

Der Mann machte einen Schritt auf Leyla zu. Sein Gesicht war dicht vor ihrem. Sie konnte seinen sauren Atem riechen.

»So etwas macht man nicht mit IHM«, zischte er.

Er musste diesen fremden, elegant gekleideten Schnösel meinen, der neulich im Laden versucht hatte, etwas mitgehen zu lassen.

»Geht«, schrie sie aus voller Kehle, »haut ab, sonst rufe ich die Polizei.«

»Leyla, was machst du da? Komm sofort mit rein. Was sollen die Leute denken?« Ihr Vater war hinter sie getreten und zog sie mit festem Griff zurück in den Laden.

Grob schob er sie zurück in die Ecke an ihren Tisch und stieß sie auf ihren Stuhl. Er lehnte sich erschöpft an die Wand und fuhr mit der Hand über sein faltiges Gesicht.

Die beiden Männer vor dem Laden verschwanden.

»Was waren das für Männer? Und warum schreist du mitten am Tag auf der Straße herum?« Ihr Vater sah sie mit resigniertem Blick an.

»Sie haben unser Schaufenster beschmiert. Was soll ich in so einer Situation deiner Meinung nach tun? Sie höflich reinbitten und ihnen unsere Ware anbieten?«

Ihr Vater seufzte erschöpft. »Nein, natürlich nicht. Wenn es Probleme gibt, ruf mich an. Ich regele das schon. Aber du kannst nicht einfach fremde Leute beschimpfen.«

»Fremde Leute – das sind Kleinkriminelle, und sie wollten mir Angst einjagen, und du, du bist sowieso nie hier. Wenn ich dich anrufe, hat ein Dieb das gesamte Geschäft ausgeräumt, bis du endlich da bist. Seit ich dir im Laden helfe, sitze ich den ganzen Tag hier herum und vergammele, falls du dich erinnerst. Da muss ich mir schon selbst zu helfen wissen. Diese arroganten Penner, die denken, dass die ganze Welt ihnen gehört, haben hier nichts zu suchen.« Ihre Stimme überschlug sich und zitterte vor Wut.

»Hör auf, so zu reden. Das gehört sich nicht. Und hör auf, mir vorzuwerfen, dass ich mich nicht mehr so viel um den Laden kümmern kann, ich tue das nur für dich. Für mein undankbares, kleines Mädchen. Damit sie es einmal gut hat. Ich versuche nur ein zweites Standbein aufzubauen und mit den Import-Exportgeschäften Geld aufzutreiben, damit du diesem kalten Deutschland den Rücken zuwenden und ein besseres Leben in deiner Heimat führen kannst.«

»Dortmund ist meine Heimat. Hier sind meine Freunde. Hier kenne ich jede Straße und bin zu Hause.« Leyla schrie. »Du hörst mir nicht zu. Ich will nicht in die Türkei. Ich spreche nicht mal vernünftiges Türkisch, und vor allem will ich nicht einen Mann heiraten, den ich noch nie gesehen habe.« Sie weinte. Heiße Tränen strömten über ihr Gesicht.

»Leyla«, versuchte ihr Vater sie zu beruhigen, »vertraue mir. Ich weiß, was gut für dich ist. Du wirst mir einmal sehr dankbar sein. Muhammed ist ein guter Mann, er ist genau der Richtige für dich.«

»Ich scheiß auf diesen Hurensohn«, brüllte Leyla außer sich. Sie warf das Schneidebrett mit einem Ruck vom Tisch, sodass die Melonenstücke auf den Fußboden rutschten und klebrige Spuren hinterließen. Leyla sprang auf. Der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, fiel scheppernd um. Sie schnappte sich ihren Mantel, warf ihrem Vater einen letzten bösen Blick zu und verließ, die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zuschlagend, den Laden.

Ihr Vater sah ihr kopfschüttelnd und mit hängenden Schultern hinterher. Was hatte er bei ihrer Erziehung nur falsch gemacht? Er sah sich im um. Obststücke klebten an den Wänden, in den Regalen und auf dem Fußboden. Seufzend beugte er seinen schmerzenden, steifen Rücken, griff nach dem Putzeimer und tauchte müde den Lappen in die Seifenlauge.

Vor dem Laden starrte Leyla mit offenem Mund auf die riesigen Buchstaben, die von außen auf die Scheibe gesprüht waren:

»Dein Tag wird kommen, Schlampe«.

Kapitel 12 – Jakob

Schwarze Wellen türmten sich auf und schlugen über seinem Kopf zusammen. Etwas streifte seinen Körper, wickelte sich um seine Beine und zog ihn hinab in die Tiefe. Er zappelte, kämpfte, bekam keine Luft mehr. Es war sinnlos, er würde sich nicht befreien können.

Jakob erwachte von seinem eigenen Aufschrei.

Schwer atmend lag er auf dem Bett. Diese verfluchten Albträume.

Stöhnend tastete er nach seinem Handy und sah auf die Uhr. Heute war es zu spät, um sich mit dem Jobcenter in Verbindung zu setzen. Er strich sich über sein verquollenes Gesicht.

Bald würde der Briefkasten wieder überfüllt sein mit Anschreiben, Bescheiden und Mahnungen vom Amt.

Der Tag schleppte sich dahin wie zäher Kleister. Irgendwann hielt er die Enge der Wohnung, Jesus und Mutters abwesende Blicke nicht mehr aus und machte einen Spaziergang durch die Nordstadt, die ihr übliches Bild bot. Graue Straßen, Graffiti an den Wänden, Häuser, gebaut in einer Vergangenheit, an die sich niemand mehr erinnern konnte. Betrunkene, Künstler, Studenten, viele alte Menschen, eine dicke Frau, beladen mit Tüten vom Discounter, Radfahrer, auf der Bank einer Grünfläche eine Frau, verhüllt in eine Burka, daneben ein Junkie, der sich mit seiner Spritze ins Gebüsch verzog.

Jakob zückte sein gebraucht gekauftes Smartphone, zog die Visitenkarte aus der Tasche und wählte mit fahrigen Fingern Nelus Nummer. Es war früher Nachmittag, da würde er ja wohl schon wach sein und hätte sich längst von seiner nächtlichen Bekanntschaft verabschiedet. Die Verbindung baute sich auf, es war das übliche Tuten zu hören, aber niemand ging ans Telefon.

»Empfänger ist nicht zu erreichen«, meldete die gefühllose Stimme am anderen Ende schadenfroh.

Unruhig starrte er auf das Telefon, während er orientierungslos weiter lief.

Durch Straßen, die er schon als Kind gekannt hatte. Ein gähnendes Loch der Langeweile tat sich vor ihm auf.

Dortmund, dachte er müde, eine Stadt, so dreckig und grau, wie ihr Ruf. Daran konnten die vielen Hipster, die in diesem Stadtteil neuerdings wie Pilze aus dem Boden schossen, auch nichts ändern.

Es war kühler geworden, langsam war zu spüren, dass der Sommer sich verabschiedete.

Mit gesenktem Kopf, die Hände in den Hosentaschen vergraben, trottete er deprimiert durch den Nachmittag. Sein Telefon schwieg. Fast von selbst zog es ihn zu Hüseyins Gemüseladen in der Blumenstraße.

Das hübsche, türkische Mädchen stand heute draußen vor dem kleinen Lebensmittelgeschäft, neben sich einen Putzeimer und reinigte mit undurchdringbarer Miene das Schaufenster.

Wie immer setzte Jakobs Herzschlag für einen Moment aus, als er sie sah. Er lehnte sich an eine Hauswand und sah mit gebührendem Sicherheitsabstand verträumt zu ihr hinüber.

Sie schrubbte mit kraftvollen, kreisförmigen Bewegungen die Scheibe, neben sich, der alte Mann im Rollstuhl, den Jakob schon oft vor dem Laden gesehen hatte. Wie immer hockte er mit nacktem Oberkörper und einer Wolldecke über den Knien da, eine Bierflasche in der Hand und erzählte seine endlosen Geschichten. Das Mädchen nickte zwischendurch, als würde sie seiner Erzählung interessiert folgen. Sie schien so etwas wie eine unbezahlte Sozialarbeiterin in diesem Wohngebiet zu sein.

Dies schien in diesem Viertel gerne angenommen und dringend benötigt zu werden. Wann immer Jakob den Laden, unter dem Vorwand etwas Obst kaufen zu wollen, besuchte, sah er, wie sie sich um die Menschen kümmerte.

Diese Frau war, trotz ihrer oft ruppigen Art, ein Engel.

Hingerissen glitt Jakobs Blick über ihren schlanken Körper, der sich durch die hochgeschlossene Kleidung abzeichnete.

Sie bemerkte, dass sie beobachtet wurde und drehte sich in seine Richtung. Jakob erstarrte und schenkte ihr ein schüchternes Lächeln, dann wandte er sich ab und machte sich zügig auf den Heimweg.

Zum Abendessen setzte Mutter ihm eine Schüssel mit Haferflocken und Milch vor.

»Wir müssen sparen, Hase. Ist nicht mehr viel Geld übrig diesen Monat. Lass es dir schmecken und mach dir keine Sorgen. Du weißt doch: Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitte vor Gott kundwerden. Du musst beten, Jakob, lass uns zusammen beten, dann wird alles wieder gut.«

Sie hielt seine Hand und schloss die Augen, als sie das Abendgebet sprach.

Er nahm die Sorgenfalten auf ihrer Stirn wahr.

Beten, dachte er genervt, beten hilft hier auch nichts mehr. Ich muss meinen Hintern hochbekommen und die Sache mit dem Amt regeln.

Er schlang die Haferflocken in sich hinein, ohne etwas zu schmecken.

In seinem Zimmer zog er sein Handy hervor und starrte auf das Display. Die Zahlen der Tastatur verschwammen vor seinen Augen.

Das ist das letzte Mal, dass ich es probiere, schwor er sich. Ansonsten kann der Typ mir gestohlen bleiben. Der Gedanke tat weh. Nelu hatte es geschafft, die eingefrorene Langeweile in Jakobs Leben und sein trostloses Dahinvegetieren von Tag zu Tag zu durchbrechen.

Das sich wiederholende Tuten bohrte sich in seinen Schädel. Er wollte gerade auf Auflegen drücken, um zu vermeiden, wieder die Automatenstimme zu hören, als am anderen Ende jemand ans Telefon ging.

»Was?« Die Stimme von Nelu klang kalt und seltsam fremd.

»Äh, ich bin es. Jakob.«

»Jakob, welcher Jakob? Kenn ich nicht. Was willst du, Mann?«

»Wir waren gestern auf dem Dach, dann im Klub. Erinnerst du dich nicht?« Jakob stockte.

Es blieb einen Moment still am anderen Ende.

»Ach klar, ich erinnere mich. Der dünne Schlägertyp in den Klamotten seines Opas.«

Selbst durch den Hörer klang sein Lachen melodisch.

Jakobs Herz machte einen Satz.

»Der Auserwählte, der meine persönliche Dachterrasse betreten durfte.«

»Ja, genau der«, rief Jakob euphorisch.

»Was gibt’s?«, fragte Nelu lässig.

Jakob musste kurz überlegen. »Eigentlich nichts. Wollte mich nur mal melden und fragen, wie es dir gestern noch ergangen ist.«

»Was glaubst du wohl? Hast die Perle doch gesehen, obwohl ich sagen muss, dass der Eindruck falsche Hoffnungen geweckt hat. Im Bett war sie dann doch nur so Mittelmaß. Bisschen unkreativ und leblos. Bisschen so, als würde man es mit einer Leiche treiben. Ich hab Hunger«, wechselte er abrupt das Thema, »Bock, mit mir was essen zu gehen?«

»Klar. Mein Magen knurrt, und ich hab nichts vor«, erwiderte Jakob hastig.

»Gut, ich hol dich in einer halben Stunde ab. Komm nach draußen auf die Straße, oder soll ich mich noch bei deiner Mutti vorstellen, damit sie weiß, dass du in guten Händen bist und ich auf dich aufpassen werde?« Wieder ertönte sein heiseres Lachen.

»Ich komm raus«, sagte Jakob schnell.

Nelu unterbrach die Verbindung, ohne sich zu verabschieden.

Jakob sprang auf und rannte ins Badezimmer. Eilig duschte er und zog sich frische Kleidung an.

Er zog die Wohnungstür hinter sich zu und hastete nach unten. Er hörte das grollende Brummen des Wagens lange, bevor der blank gewienerte Mercedes um die Ecke bog. Das Licht der inzwischen untergehenden Sonne spiegelte sich im glänzenden Schwarz des Oldtimers. Der Wagen hielt mit laufendem Motor.

Jakob stieg auf der Beifahrerseite ein und ließ sich in die weichen Ledersitze gleiten. Sein Blick fiel auf die herausgerissenen Kabel am Armaturenbrett. Sie fuhren los.

»Hast du keine Angst, dass du mal erwischt wirst?«, fragte Jakob.

»Wieso erwischt? Bei was?« Nelu wirkte erstaunt.

Jakob war sich nicht sicher, ob er nicht nur so tat, als ob er nicht wüsste, wovon er sprach.

»Na, du klaust doch diese Autos.«

»Ich klaue nicht. Bin doch nicht so wie die anderen Rumänen. Ich leihe mir die Autos aus und parke sie halt irgendwo anders. Niemals im gleichen Wagen fahren. Ich liebe die Abwechslung. Ich könnte mir auch eine eigene Karre leisten, einen Lamborghini oder so, aber bei Autos ist es wie bei den Weibern. Immer das Gleiche ist öde, außerdem brauche ich mein Erspartes für Italien«, setzte er verträumt hinzu. »Es dauert nicht mehr lange, dann bin ich weg.«

Er legte den Kopf schief und sah Jakob von der Seite an.

»Ich habe einen Tisch reserviert im ›Dello Chef‹ in der Gartenstadt.«

Jakob hatte das Restaurant bisher nur von außen gesehen. Der Laden wirkte teuer, und Jakob hätte selbst im Traum nicht daran gedacht, dort einmal essen zu gehen.

»Ein Hauch von Italien, damit du mal weißt, wovon ich spreche. Da gibt es das beste italienische Essen der Stadt«, fuhr Nelu fort, »aber wir müssen dich vorher neu einkleiden. Selbst mit mir zusammen würden sie dich dort in den Klamotten nicht reinlassen.«

Unruhig rutschte Jakob auf dem Sitz hin und her. Er war pleite. Das, was von dem Taxigeld gestern übrig geblieben war, hatte er unbemerkt in Mutters Haushaltskasse gesteckt.

Nelu lachte lautlos in sich hinein, blickte nach vorne durch die Frontscheibe und schien sich ganz aufs Fahren zu konzentrieren.

Sie fuhren in den Dortmunder Süden, durch eine prunkvolle Wohngegend, und Jakob betrachtete staunend die riesigen Villen. Sie wirkten wie Schlösser, ein Gebäude war schöner als das nächste und stand in großzügigem Abstand zu den anderen.

Hier müsste man leben. Keine neugierigen, sich streitenden Nachbarn, die man durch die papierdünnen Wände hörte. Gärten so groß wie Parks. Genug Platz, um Mutter den gesamten Tag aus dem Weg zu gehen. Als Nelu den Motor abschaltete, brauchte er einen Moment, um zu sich zu kommen.

Sie stiegen aus dem Wagen. Jakob schnupperte.

»Es riecht hier irgendwie anders. Ein Geruch, den ich nicht kenne«, sagte er und atmete geräuschvoll ein.

»Der Duft des Geldes. Der klebt in der Luft wie Leim. Pass bloß auf, dass er nicht deine Nase verkleistert und dich ersticken lässt. Das ist schon so manch einem passiert«, antwortete Nelu trocken.

Es war inzwischen dunkel. Sie liefen schweigend am Rand der sauberen Straße entlang.

»Selbst die Straße ist schön«, murmelte Jakob versonnen.

»Mann, krieg dich wieder ein. Hier wohnen genau die gleichen Hurensöhne wie bei dir zu Hause in der Nordstadt, nur dass die so viel Kohle haben, dass sie gar nicht wissen, was sie damit anfangen sollen.« Zielstrebig führte er Jakob zu einer Villa, die von einer hohen Steinmauer umgeben war. Hinter der Mauer lag alles im Dunkeln, sodass man das Gebäude nur schemenhaft erkennen konnte. Am Eingangstor war eine kleine Metallklappe angebracht.

Nelu öffnete sie, und eine Tastatur kam darunter zum Vorschein, auf der er ohne zu zögern einen Zahlencode eintippte. Lautlos öffnete sich das Tor.

Jakob riss die Augen auf und folgte Nelu in die Dunkelheit.

Sobald sie sich auf dem Kiesweg befanden, der zum Haus führte, sprangen neben ihnen funkelnde Laternen an, die den Weg säumten und ihnen mit einem warmen Licht den Weg wiesen.

Sie stiegen die steinerne Treppe zur Eingangstür hinauf. Wieder tippte Nelu einen Code auf einer Tastatur ein, es gab ein klackendes Geräusch, und er griff nach dem pompös geschmiedeten Türgriff.

Sie betraten die riesige Vorhalle der Villa. Sobald sie den ersten Fuß in das Haus gesetzt hatten, setzte eine Automatik ein, leise Hintergrundmusik ertönte, und der glitzernde Kronleuchter, der mittig in der Halle an der hohen Decke hing, erstrahlte. Jakob bemerkte, dass sein Mund offen stand.

»Woher kennst du die Codes?«, flüsterte er Nelu zu.

»Du brauchst nicht zu flüstern«, Nelu redete in normaler Lautstärke, »die Bewohner sind im Urlaub. Lassen ihre reichen Ärsche auf den Malediven bräunen. Wir sind ganz allein.«

»Woher weißt du das so genau?« Jakob war vor Aufregung außer sich.

»Ich habe meine Leute, das habe ich dir schon mal versucht zu erklären. Überall. Leute, die mir Gefallen schulden, Leute, die es sich nicht mit mir verscherzen wollen. Die kriegen so was für mich raus, und jetzt reg dich endlich ab. Komm, wir trinken erst mal was.« Er stolzierte über den edlen Marmorfußboden, als wäre er hier zu Hause.

Im Wohnzimmer ging er zur Bar, schenkte großzügig Cognac in zwei Gläser und warf sich auf das weiße Designersofa.

»Setz dich«, er klopfte mit der Hand neben sich auf das Sofa.

Jakob setzte sich vorsichtig auf das Sofa und strich ehrfürchtig mit der Hand über den samtweichen Bezug.

Sie tranken den Cognac, er schmeckte weich, fruchtig und ein bisschen nach Erde. Allein von seinem Duft wurde Jakob ganz schwindelig.

»So, und wozu sind wir hier?«, fragte Nelu wie ein strenger Lehrer. Jakob zuckte verwirrt mit den Schultern.

»Du hast dir dein Gehirn weggesoffen, was? Wir wollten dich neu einkleiden. Schon vergessen?«

Er zog Jakob mit sich die Treppe hinauf, in ein Schlafzimmer, das so groß war wie die gesamte Wohnung, in der Jakob lebte.

Das meterbreite Bett, das im Mittelpunkt des Raumes stand, sah mit seinen vielen Kissen so einladend aus, dass Jakob sich zusammenreißen musste, um nicht mit einem Hechtsprung hineinzuspringen und sich die flauschige Decke über die Ohren zu ziehen.

Nelu lächelte kalt und deutete auf die Zimmerdecke, an der ein riesiger Spiegel angebracht war.

»Die werden es hier miteinander treiben wie die Karnickel«, meinte er und begann, im Kleiderschrank zu wühlen, der die gesamte Wandseite einnahm. Er zog mehrere Anzüge aus dem Schrank.

»Geil, der Typ, der hier wohnt, müsste genau deine Größe haben.« Zufrieden las er die Etiketten. »Gute Marken. Das sind Designerstücke. Exquisiter Geschmack. Wenigstens etwas.« Er nickte anerkennend und warf die Anzüge achtlos auf das Bett. »Worauf wartest du? Los, zieh dich um. Ich habe für neun Uhr reserviert. Wenn man in dem Laden nicht pünktlich ist, ist der Tisch weg, und wir müssen vorher noch die Wohnung umdekorieren.«

»Umdekorieren?«, wiederholte Jakob dümmlich.

»Zeig ich dir später. Das ist mein Markenzeichen bei Einbrüchen, ist jetzt egal, erst mal rein in die Klamotten.«

Jakob genierte sich. Es war ihm peinlich, sich vor Nelu auszuziehen und seinen knochigen Körper zu präsentieren, doch Nelu beachtete ihn gar nicht, hing mit dem Kopf in dem Kleiderschrank und durchstöberte interessiert dessen Inhalt.

Als Jakob das erste Mal in seinem Leben in einem weißen Seidenhemd und einem dunkelgrauen Leinenanzug vor dem Spiegel stand, blieb ihm fast die Luft weg. Der Mann, der ihm im Spiegelbild gegenüberstand, war ihm fremd. Er sah aus wie ein anderer Mensch, nur die Löcher in seinen Socken verschandelten das Bild. Die Kleidung fühlte sich gut auf seiner Haut an und schmiegte sich sanft an seinen Körper. Sofort hatte er das Gefühl, aufrechter zu stehen und seinen Kopf höher zu tragen. Sein magerer Körper sah nicht mehr kantig und dürr aus, sondern wirkte schlank und gesund.

Nelu war begeistert.

»Der ist es. Du brauchst nichts anderes mehr anzuprobieren«, entschied Nelu.

Als Jakob in die passenden braunen Lederslipper geschlüpft war, die sie gefunden hatten, war der Anblick perfekt.

»Soll ich die Sachen wirklich einfach mitnehmen?«, fragte Jakob unsicher.

»Alter, der Typ merkt überhaupt nicht, wenn ein paar Anzüge fehlen. Der hat so viel Zeug in seinem Schrank, dass das gar nicht auffällt. Wir nehmen ja kein Geld mit oder was von dem verdammten Schmuck, der überall herumliegt. Den Anzug hast du dir verdient, Jogginghosen-Jakob.« Das Grinsen überzog Nelus gesamtes Gesicht.

Er räumte alle Klamotten, die inzwischen über den gesamten Fußboden verteilt auf dem flauschigen Teppich herumlagen, ordentlich zurück in den Schrank. Sie verließen das Schlafzimmer genauso, wie sie es betreten hatten.

Zurück im Wohnzimmer packte Nelu die eine Seite des Sofas. »Fass mal mit an.«

Jakob griff zu. Sie schleppten das schwere Ding auf die andere Seite des Raumes. Verstellten den Fernsehtisch, verschoben mit vereinten Kräften die Schränke, sodass schließlich jedes Möbelstück an einem anderen Platz stand. Befriedigt betrachtete Nelu sein Werk.

»Sieht besser aus als vorher«, meinte er, »mach ich immer so. Bevor ich gehe, dekoriere ich die Häuser um. Ich bin der geborene Innenarchitekt. Die Freaks, die hier wohnen, werden sich fragen, ob sie vielleicht nicht mehr ganz frisch im Kopf sind, wenn sie wiederkommen und alles anders aussieht. Ich hinterlasse keine Einbruchsspuren, nehme keine Wertgegenstände mit. Alles, was bleibt, sind benutzte Gläser und neu angeordnete Möbel. Unsere Urlauber werden sich wundern, wenn sie wieder da sind.«

Er schien sich sichtlich darüber zu freuen.

»Und jetzt gibt es endlich was zu essen.«

Sie verließen die Villa, liefen übermütig zu dem alten Mercedes und fuhren in die Innenstadt-Ost.

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Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
354 s. 7 illüstrasyon
ISBN:
9783839267363
Yayıncı:
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
Metin
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