Kitabı oku: «Taubenblut. Die Siedler», sayfa 6

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Gleichzeitig wuchs im russisch kontrollierten Polen der Unmut gegen die Besatzer. Unter der Führung von General Tadeusz Kósciuszko kam es im März 1794 in Krakau zum Aufstand. Mit Sensen bewaffnete Bauern und Reste der polnischen Armee besiegten eine russische Abteilung. Eigentlich nur ein kleiner Sieg, doch mit enormer Wirkung. Obwohl die Einnahme Warschaus scheiterte, proklamierte sich Kósciusz­ko zum Übergangsregierenden und erklärte den König für abgelöst. Nun erfasste der Aufstand das gesamte russisch besetzte Polen. Allein in Warszawa wurden über viertausend russische Soldaten von Aufständischen getötet. Preußen schickte daraufhin der Zarin seine Soldaten zu Hilfe. Zweimal marschierten die Blauröcke in nur geringer Entfernung an Wierzeje vorbei, nahm das Dorf keinen Schaden. Dagegen requirierten die nach Warszawa ziehenden Bataillone in Radomsko, Tomaszow Mazowiecki und Rawa ohne jedes Erbarmen, denn dort hatten sich große Teile der Bevölkerung den Aufständischen angeschlossen. Auch die Wierzejer Lutheraner unterstützten die Aufständischen. Notgedrungen, andernfalls hätten diese ihre Häuser, Ställe und Scheunen angezündet.

Im Spätherbst 1794 wurde der Aufstand endgültig niedergeschlagen. Die drei Großmächte Russland, Österreich-Ungarn und Preußen beschlossen die restlose Aufteilung Polens, die Stanislaus II. Poniatowski als polnischer König unterzeichnete. Wenige Tage später setzten ihn die Sieger ab. In den Amtsstuben östlich der Pilica sprach man nun ebenfalls Deutsch, aber unter österreichischer Herrschaft.

Preußischer Frieden

Nach der Niederschlagung des Aufstandes wagten sich die Bauern wieder auf den Petrikauer Markt. Sie hatten lediglich Kartoffeln zu bieten, doch die Einnahmen waren beträchtlich. Besonders Juden zahlten jeden geforderten Preis, waren doch die neutralen Kartoffeln die einzige erlaubte Nahrung, die es noch zu kaufen gab.

Auch Georg fuhr samstags mit zum Markt, aber höchst ungern. Ihm gefiel nicht, dass jeder sehen konnte, was der Nachbar verkaufte und dass jeder mitzählte, was eingenommen wurde. Er hatte noch mehrere Kisten Äpfel und Zwiebeln im Moor versteckt, und es würden Neid und Gerede aufkommen, wenn er diese Waren als Einziger anböte. Am folgenden Markttag steckte er einem jüdischen Geldverleiher, der schon lange bei ihm kaufte, einen Zettel zwischen die Kartoffeln, auf dem er seine Äpfel, Möhren und Zwiebeln anbot. Der Preis war nicht unverschämt, doch Georg verlangte, dass alles auf einmal von seinem Hof abgeholt werden müsste. Niemand im Dorf bemerkte, dass an einem regnerischen Mittag eine klapprige Droschke über die kleine Straße von der ­Meszczer Seite auf den Schlüterhof zufuhr und in dessen großer Scheune verschwand. Während die anderen Bauern am Mittagstisch saßen, wurden um die zwanzig, mit Obst, Zwiebeln und Möhren gefüllte Kisten in der Droschke verstaut. Der jüdische Händler war so zufrieden, dass er einige Scheine mehr als vereinbart in Georgs Hand zählte. Mit der neuen Ernte normalisierten sich die Preise und der Alltag verlief wieder in gewohnten Bahnen. Wer sich nicht den Anordnungen der preußischen Verwaltung widersetzte und die Beamten bei Gelegenheit kräftig schmierte, lebte in Ruhe und Frieden. Auch die angekündigte Landvermessung verlor ihren Schrecken, da vorerst nur die großen Güter vermessen werden sollten.

1794, es war das zweite Jahr unter preußischer Herrschaft, verheiratete Georg seine älteste Tochter Gertraud. Ihr Mann Dietrich Bode war der Zweitgeborene eines alteingesessenen Bauern aus dem Ostpreußischen, dessen Taufpate in der Petrikauer Domänenverwaltung tätig war. Zustande kam die Verbindung, weil Georg mit der vom Amt festgelegten Steuerhöhe nicht einverstanden war und deswegen auf der Behörde vorsprach. Er erklärte dem Beamten, dass die Ertragsermittlung zwar rein rechnerisch stimme, der tatsächlich erzielte Gewinn jedoch viel niedriger sei. Er baue nämlich nur noch so viel an, wie er und seine beiden Töchter Gertraud und Luise zum Leben brauchten. Wozu solle er sich auch plagen, er habe keinen männlichen Erben, dem er den Hof guten Gewissens übergeben könne. Alle Anwärter, die bisher um die Hand seiner Gertraud angehalten hätten, waren nur solche, die den Hof in kürzester Zeit ruinieren würden – Trinker oder großmäulige Faulenzer, die sich ins gemachte Nest setzen wollten. Seine Gertrud sei eine wirklich gute Bäuerin, die zu wirtschaften verstehe. Es schmerze ihn, dass sie sich ganz allein herumplagen müsse, aber deshalb könne er seinen Hof doch nicht vor die Säue werfen. In ein paar Jahren müsse schließlich auch noch Geld da sein, um die sechs Jahre jüngere Luise zu verheiraten. Die Frage des Beamten, ob er denn schon in der Stadt oder in einer anderen Gegend nach einem Bräutigam forschen lassen habe, verneinte Georg. Seine Tochter wolle nicht von Heiratsvermittlern wie eine Zuchtstute feilgeboten werden. Sie meine, wenn der Herrgott es wolle, werde sich schon noch ein Mann finden.

Einen guten Monat nach Johanns Vorsprache auf der Steuerbehörde nahm der Beamte das Schlütersche Anwesen zwecks Steuerschätzung gründlich in Augenschein. Dabei begleitete ihn sein Patenkind, das für einige Tage in Petrikau weilte, ein wohlerzogener und ganz passabel aussehender junger Mann. So kam es, dass Georgs Versuch, den Ertrag des Anwesens kleinzureden, ihm einen Schwiegersohn auf den Hof gebracht hatte, der nicht nur ihm, sondern auch seiner Gertraud vom ersten Augenblick an gefiel. Als im Jahr darauf mit dem kleinen Hagen der nächste Hoferbe geboren wurde, war das Glück der Familie vollkommen.

Nachdem man 1796 die Provinzialverwaltung von Petrikau nach Kalisch verlegt hatte, stellte sich unter den wenigen in Petrikau verbliebenen Verwaltungsbeamten rasch die gewohnte Schludrigkeit und Vetternwirtschaft wieder ein. Allein die deutsche Amtssprache, die nun auch Unterrichtssprache war, erinnerte die Menschen an die neue Staatszugehörigkeit. Und wie vor dreißig Jahren die Kinder der Lutheraner von einem Tag auf den anderen nur noch auf Polnisch unterrichtet wurden, so erging es jetzt den ausschließlich in ihrer polnischen Muttersprache aufgewachsenen Kindern. Deren innigster Wunsch, dass sich für die Wierzejer Dorfschule kein Lehrer findet, erfüllte sich zwar, doch mehr zu aller Nachteil. Die Schule in Wierzeje wurde geschlossen, und die Kinder mussten in die eine Fußstunde entfernte Dorfschule nach Meszcze. Der dort eingesetzte preußische Schulmeister ließ es sich nicht nehmen, den ihm anvertrauten Schülern die deutsche Sprache mit reichlich Stockschlägen einzubläuen. Manche Eltern hätten ihren Kindern diese Quälerei gern erspart, doch das Fernbleiben vom Unterricht wurde mit einer Geldstrafe geahndet. Noch vor Beginn des Schuljahres prügelten sich polnische und deutschstämmige Kinder bei jeder Gelegenheit – nun schmiedete sie der brutale Lehrer zusammen. Sie begannen, einander beim Lernen zu helfen. Das geschah anfangs nicht unbedingt zur Freude der Eltern. Besonders die Polen betrachteten das Zusammensein ihrer Kinder mit den Kindern der Lutheraner als nicht gottgefällig. Doch wie sollten sie das verhindern, saßen die Kinder doch bereits im Unterricht nebeneinander. Letztlich reifte die Einsicht, dass das Beherrschen der deutschen Sprache ihre Kinder nicht nur vor den Schlägen des Lehrers schützte, es würde ihnen auch im späteren Leben nützen. Außerdem konnten die Kinder mit wund geschlagenen Händen zu Hause nicht in gewohnter Weise mitarbeiten, und das war für die ärmeren Bauernfamilien und Häusler ein großer Verlust. Die katholischen Dorfbewohner, ausschließlich Polen, gestatteten deshalb ihren Kindern, dass sie den Winter über mit ihren evangelischen Mitschülern im alten Gemeindehaus die deutsche Sprache sprechen, lesen und schreiben übten.

Von sächsischen und polnischen Gepflogenheiten

Auf diese Weise wuchs eine Generation heran, die beide Sprachen beherrschte. Die jungen Leute gingen nicht mehr so abweisend miteinander um wie die alten. Sonntagvormittags ging zwar jeder in seine Andacht, doch am Nachmittag traf sich die Jugend auf dem Dorfplatz zu Tanz und Spiel. Dass sich dabei zwischen einigen älteren Söhnen und Töchtern Freundschaften entwickelten, die über das gestattete gemeinsame Lernen hinausgingen, bereitete den Eltern größte Sorgen. Was, wenn die Kinder die Grenze der gebotenen Keuschheit überschritten? Bei annähernd gleichem Besitzstand stünde einer Eheschließung nichts im Wege. Nur müssten die Katholischen evangelisch werden oder eben umgekehrt. Einige Familien verhandelten sogar miteinander, mühten sich scheinbar redlich, doch jede Partei wusste von vornherein, dass ein Konfessionswechsel undenkbar wäre.

Bei den Protestanten würde mit dem Übertritt eines Familienmitgliedes zur katholischen Kirche die Glaubensfestigkeit der ganzen Familie infrage gestellt. Notfalls hätte man das in Kauf genommen, denn irgendwann könnte man mittels einer großzügigen Spende Gras über die Sache wachsen lassen. Für die Katholischen war ein Konfessionswechsel jedoch völlig ausgeschlossen, schließlich galt der Abfall vom rechten Glauben als eine der Todsünden. Damit nicht genug, laut einem Beschluss des Sejms von 1717 konnte die Abkehr vom katholischen Glauben mit der Todesstrafe geahndet werden. So genügten kleinste priesterliche Bedenken über das Verhalten zweier junger Leute, und das Paar wurde umgehend getrennt. Töchter, gleich welchen Glaubens, verschwanden hinter Klostermauern, die Söhne von bestellten Werbern wurden rekrutiert und in den Militärdienst gepresst. Der einzige Ausweg, diesem Schicksal zu entgehen, wäre für die Liebenden die Flucht und ein Leben ohne kirchlichen Segen. Doch diesen Schritt wagte kein einziges Paar, lud man in dem Fall doch gleich zwei Sünden auf sich.

Die erste Sünde war der Verstoß gegen das vierte Gebot, das da heißt, ein Kind habe Vater und Mutter zu ehren und gehorsam zu sein. Einen Verstoß gegen dieses Gebot durften die Eltern ihrem Kind nach ausreichender Buße vergeben. Die zweite Sünde, ein unkeusches Leben, zählte dagegen zu den Todsünden. Beim Jüngsten Gericht würde diese mit ewiger Höllenqual vergolten. Diese Furcht überwog jede Liebe.

Um das Zusammenleben im Dorf nicht allzu sehr zu schädigen, begründeten die Brautwerber das Scheitern der Verhandlungen mit finanziellen Differenzen. Das war nicht mal gelogen, denn beide Seiten stellten von Anfang an so hohe Forderungen, dass keine Einigung zustande kommen konnte. Dabei unterstellte so manche Familie der anderen falsche Angaben hinsichtlich ihres Vermögens. Dieses Misstrauen bestand zu Recht, denn Anleihen und Schuldverschreibungen wurden generell verheimlicht. Doch nicht nur Schulden verschwieg man, die Lutheraner verheimlichten zudem ihr tatsächliches Vermögen. Der Grund war der immer noch zu entrichtende Zehnte. Selbst die eifrigsten Glaubensverfechter offenbarten deshalb nie ihren wahren Besitz. Inzwischen gab es in Petrikau genügend Bankhäuser, bei denen man sein Geld sicher und mit gutem Zins anlegen konnte, ohne dass ein Nachbar davon erfuhr. Noch erfinderischer zeigten sich einige Höfe beim Einsparen von Spenden für Arme und Kranke. Da diese hauptsächlich aus Kartoffeln und Getreide bestanden, betrieben sie eine besonders gemeine Trickserei. So wurden die gespendeten Mengen in steter Wiederholung aufgezählt, bis sie mehrfach aufgeschrieben und demzufolge auch mehrfach angerechnet wurden. Aus acht Körben Kartoffeln wurde so ein gut gefüllter Pferdewagen. Doch wehe dem armen Teufel, der mit bierseliger Zunge die wahre Höhe der Spende ausplauderte oder gar öffentlich anprangerte!

Trotz aller Niedrigrechnerei sah man sächsischen Anwesen den Wohlstand bereits von weitem an. Im Gegensatz zum Grau polnischer Höfe glänzte das Mauerwerk deutscher Wohnhäuser und Ställe im warmen Rotbraun sauber verfugter Ziegel. Und wer sich die glänzenden Ziegel nicht leisten konnte, der kalkte die glatt verputzten Wände seines Hauses, damit es frisch und sauber aussah. Selbst auf dem ärmsten deutschen Anwesen wurde der Hof zwischen Wohnhaus, Wirtschaftsgebäuden und Ställen mit sauberem Sand versehen und im gleichen Strich geharkt. Der ordentlich aufgesetzte Misthaufen befand sich im hinteren Bereich des Hofes, direkt vor den Ställen. Selbst unter dem obligatorischen Taubenturm lagen nur vereinzelte, eben erst herabgefallene Kotklümpchen. In den Vorgärten blühten allerlei Staudenblumen und Würzkräuter, während Rosen und Malven die zum Haus und in den Garten führenden Wege säumten. Aus dem hinter den Gebäuden liegenden Garten versorgte sich die Familie mit Obst und frischem Gemüse. Auch dort fand man weder ungepflegte Ecken und Zaunränder noch Gerümpelhaufen.

Die polnischen Anwesen boten dagegen keinen so ordentlichen Anblick. Statt Blumen und Gemüse wuchs in den Gärten meist nur Gras, das das Pferd oder die Kuh des Hofherren und einige Schafe mit mehr oder weniger Erfolg kurz hielten. Sichtbares Überbleibsel ehemals deutscher Gartenpracht waren nur die großen alten Obstbäume, in deren Schatten Hofherr und Tiere während der Mittagshitze lagerten. Noch deutlicher unterschieden sich das Vieh und die Ställe. Während die Sachsen sogar die Schwanzquasten der Kühe putzten, striegelten und bürsteten die Polen nur ihr Reitpferd. Auch der Zustand der Felder bezeugte den gern bemühten Unterschied zwischen dem fleißigen, auf Ordnung und Sauberkeit bedachten Sachsen und dem faulen, mittags oft schon betrunkenen Polen. Und es waren diese Äußerlichkeiten, mit denen die ehemals Deutschen des Dorfes ihre Überheblichkeit gegenüber den polnischen Nachbarn begründeten und der diese mit noch größerer Lebenslässigkeit begegneten.

Beide Verhaltensweisen waren kein gutes Vorbild für die protestantische Jugend, wobei sich die polnische Ignoranz deutschen Ordnungsbestrebens zunehmender Beliebtheit erfreute. Wer keine Ordnung hält, so die Lutheraner, säumt auch in Glaubensfragen. Um dem vorzubeugen, bläute so manche protestantische Vaterhand seinen Kindern die fünf Hauptstücke des kleinen Katechismus mit dem Stock auf dem Hintern ein. Jede Handlung, jedes Wort wurde von den Eltern im Namen des Herrn beurteilt. Prügel, Essensentzug, schwere Arbeit oder Wegsperren waren die gebräuchlichsten Bestrafungen. Je gläubiger das Zuhause, umso abartiger die auferlegte Buße. Auf hingestreuten Erbsen kniend zu beten war eine gern angewandte äußerst schmerzhafte Bestrafung, die die Furcht der heranwachsenden Töchter vor den Versuchungen des Fleisches bestärken sollte.

Spätestens mit dem Einsetzen der Monatsblutung gaben die wohlhabenden Familien ihre Töchter in ein städtisches Internat oder in eine Klosterschule. Hier wurden sie nicht nur in Haushaltführung und Kochen unterwiesen, sie lernten ebenso singen, ein Instrument spielen und sich gut benehmen. In den Internaten lehrte man sie auch Französisch, die Sprache der Vornehmen und Gebildeten. Das Wichtigste der Internatsverbringung bestand jedoch in der strengen Aufsicht, unter der die Mädchen vor der Lust des Fleisches bewahrt werden sollten. Außerdem bestätigte die kostspielige Ausbildung eine gute Vermögenslage der Familie. Um diesen Anschein zu wahren, wurde mancher Hof still und heimlich mit Hypotheken belastet.

Leider kam es selbst in den bestens gesicherten Lehranstalten zu folgenreichen Zwischenfällen. Der von städtischen Familien praktizierte Gang zur Engelsmacherin, die den unschönen Zwischenfall mittels Ausschabung oder Blutungen auslösender Medizin beseitigte, kam für die Lutheraner nicht infrage. Schon aufgrund ihrer bäuerlichen Existenz brachten sie dem ungeborenen Leben eine große Ehrfurcht entgegen. Außerdem fürchtete man die Unwägbarkeiten solcher Eingriffe, nicht jede der jungen Frauen überlebte. Wurde der Bankert ausgetragen, sprachen die Gemeindeältesten Mutter und Kind zwar weiterhin die Zugehörigkeit zur Kirchgemeinde ab, man jagte sie aber nicht mehr aus dem Dorf. So es die Eltern der Sünderin gestatteten, durfte diese samt ihrer Leibesfrucht auf dem Hof wohnen bleiben und sich ihr täglich Brot verdienen. Insgeheim wurde die Betroffene jedoch so arg drangsaliert, dass sie sich den Grausamkeiten nur durch das Verlassen des Dorfes entziehen konnte. Selbst die Familie einer solchen Sünderin wurde weitgehend gemieden. Sie durfte zwar noch an Gottesdiensten teilnehmen, doch nur auf der letzten Bank sitzen. Derart erniedrigt und von allen Gemeinsamkeiten ausgeschlossen, dauerte es höchstens zwei bis drei Jahre, und die Familie verließ ebenfalls das Dorf.

Um Zweifel an der Keuschheit einer Tochter zu unterbinden, gelang es einigen, diese rasch zu verehelichen. Das frisch vermählte Paar reiste dann in ein Kurbad oder besuchte weit entfernt wohnende Verwandtschaft. Frühestens nach Ablauf eines Jahres kam es mit dem Kind zurück. Auf diese Weise konnten fehlende Monate besser vertuscht werden. Zum nächst größeren Feiertag ließ man das Kind taufen und die Geburt ins Kirchenbuch eintragen. Erst dieser Eintrag brachte der Familie Frieden und Sicherheit, denn alle Zweifel an der Keuschheit der Kindesmutter und etwaige Anschuldigungen mussten vorher kundgetan werden. Es kam aber auch vor, dass sich ein junges Mädchen, im anerzogenen Schuldgefühl ihres sündigen Verhaltens oder aus Angst vor einer Zwangsverheiratung im Moor ertränkte. Für die Familie ein schmerzlicher, aber befreiender »Unfall«, denn anders als bei einer missglückten Abtreibung durfte die im Moor Verunglückte betrauert und, so man sie fand und bergen konnte, auf dem Gottesacker begraben werden.

Im Jahre 1796, am Tag der Auferstehung des Herrn Jesus Christus, wurde auch auf dem Schlüterhof eine derartige Ehe geschlossen. Luise, Georgs jüngere Tochter, hatte ihrem Vater gestehen müssen, schwer gesündigt zu haben. Der junge Mann stammte aus einem angesehenen preußischen Adelsgeschlecht. Es war nicht zu erwarten, dass er je um ihre Hand anhält, auch nicht, wenn er von den Folgen erfährt. Ein schwerer Schlag. Doch der liebende Vater wollte das Leben seiner Tochter nicht durch eine Abtreibung aufs Spiel setzen. Er versprach, nach einem akzeptablen Bräutigam zu suchen. War es schon ein glücklicher Zufall für Gertraud, die Hoferbin, einen passablen Bräutigam zu finden, so erschien das nun anstehende Unterfangen eigentlich aussichtslos. Im Preußischen gab es kaum noch junge Männer. Wer einigermaßen gesund oder gar kräftig ausschaute, musste zum Militär. Einem alten Witwer oder Kriegskrüppel wollte Georg seine Tochter nicht hingeben. Dann soll sie lieber für ein paar Jahre ins Kloster und später mit dem Kind irgendwo in der Fremde leben. Für eine Wohnung und das Nötigste wollte er schon sorgen. Im letzten Moment fand der beauftragte Vermittler im sächsischen Freiberg einen recht artigen und, Gott sei Dank, armen Studiosus, der auf das Angebot einging. Dass Luise und Hermann, so hieß der junge Mann, bereits beim ersten Sehen Gefallen aneinander fanden, war ein Gottesgeschenk und in Georgs Augen die Vergebung der Sünde. Der Brautvater finanzierte dem Paar einen kleinen Hausstand, sodass das werdende Familienoberhaupt sein Studium an der dortigen Bergakademie ohne die bisherige wirtschaftliche Not fortführen konnte. Der sichtbare Wohlstand der jungen Frau und ihr vornehmes Auftreten unterbanden jegliches Gerede über die ungewöhnlich schnell geschlossene Ehe. Im Gegenteil, der junge Mann erntete außerordentliche Bewunderung, eine so gute Partie gemacht zu haben.

Als sich Luise auf Wunsch ihres Vaters in Lommatzsch nach ihren Vorfahren erkundigte, erinnerten sich ein paar alte Bauern an Berichte über drei Familien, die auf Anweisung eines hohen Herrn so um 1700 nach Polen gebracht wurden. Aber warum, das war in Vergessenheit geraten. Zur Taufe des ersten männlichen Nachkommens der in Freiberg inzwischen recht angesehenen jungen Familie reiste Georg im März 1805 nach Sachsen. Es sollte seine einzige Reise bleiben.

Napoleonische Eroberungspolitik

Wenig später erklärte Frankreich Österreich den Krieg und besetzte Wien. Das große Habsburger Kaiserreich beugte sich im Frieden von Preßburg dem französischen Usurpator. Inzwischen schloss Preußen mit Russland einen Geheimbund. Mit diesem Rückhalt forderte der preußische König Friedrich Wilhelm III. im August 1806 Napoleon auf, seine Truppen auf die westliche Rheinseite zurückzuziehen. Der Kaiser der Franzosen betrachtete das als Kriegserklärung und erschien Ende Oktober mit seiner Grande Armée in Berlin. Preußen hatte dem Eroberungszug des Franzosen nicht viel entgegenzusetzen, sodass dieser bereits zwei Monate später das von den Preußen 1793 vereinnahmte Warschau erreichte. Zar Alexander I. von Russland konnte seinem Bündnispartner Preußen nicht zu Hilfe eilen, da er sich zur selben Zeit mit den Osmanen bekriegte. Die polnischen Adligen begrüßten die Franzosen als Befreier und baten den Kaiser um die Wiederherstellung des polnischen Staates. Napoleon erfüllte diesen sehnlichsten Wunsch der Polen, indem er einen Teil der von Preußen und Österreich-Ungarn im Zuge der polnischen Teilungen vereinnahmten Gebiete zum Herzogtum Warschau zusammenfügte. Nur der russisch besetzte Teil blieb wie er war, denn inzwischen hatte Frankreich mit Russland den Friedensvertrag von Tilsit geschlossen. Die Wiedererschaffung Polens, mit Parlament und eigenen Streitkräften, entfachte in Volk und Adel eine Welle der Begeisterung für den Franzosenkaiser. Als Napoleon auch noch im Juli 1807 König Friedrich August I., dem vom polnischen Adel als Erbmonarchen gewünschten Herrscher, das neue Herzogtum Warschau übertrug, schworen ihm die Polen den Treueeid. So war es für den neuen Kriegsminister und Oberbefehlshaber der polnischen Truppen, Fürst Józef Poniatowski ein Leichtes, innerhalb weniger Wochen dreißigtausend Freiwillige für die neue polnische Armee zu rekrutieren.

Der im selben Jahr erstmals wieder zusammengetretene Sejm wollte die Verfassung vom Mai 1791 endlich in Kraft setzen. Napoleon unterband dieses Bestreben und erzwang die Annahme einer von ihm diktierten Verfassung, in der die politische Macht über Polen dem französischen Botschafter übertragen wurde. Der sächsische König und der Sejm verfügten somit nur noch über verwaltende Rechte. Diese Entmachtung öffnete zwar einigen fortschrittlichen Angehörigen des Hochadels die Augen, zeigte diese doch deutlich, dass es dem französischen Kaiser nicht um Polen, sondern nur um die Wahrung seiner eigenen Interessen ging. Zu wenige aber durchschauten die Taktik Napoleons. Dem Franzosenkaiser war es gelungen, die große Masse der Landadeligen auf seine Seite zu ziehen. Um das zu erreichen, hatte er ihnen einträgliche Verwaltungsämter übertragen und ihre Privilegien gestärkt. Dazu hob er nicht nur den von Preußen eingeführten rechtlichen Schutz des bäuerlichen Besitzstandes wieder auf, auf Wunsch des Landadels wurde Polnisch wieder die alleinige Amtssprache.

Die ehemals sächsischen Lutheraner galten erneut als Polen. Für die hier geborenen und aufgewachsenen Generationen kein verdammungswürdiger Verwaltungsakt. Das polnische Gebiet war ihnen vertraut, Sachsen dagegen ein fremdes Land. Eigentlich hinderte sie nur ihr protestantischer Glauben, in polnische Familien einzuheiraten. Außer dem protestantischen Glauben gab es noch einen zweiten Unterschied zu den alteingesessenen Polen: Fast jeder der ehemaligen sächsischen Wierzejer beherrschte Deutsch und Polnisch. Ansonsten hätten sie die vielen Kriege und Herrscherwechsel kaum so gut überstanden. Und sie hatten gelernt, sich je nach Erfordernis als Pole oder als Sachse auszugeben.

Obwohl seit Napoleons Einmarsch in Warschau mit Friedrich August I. erneut ein Wettiner auf dem Thron des vom Königreich Polen zum Herzogtum Warschau geschrumpften Großpolens saß, zogen es die Lutheraner vor, bei den Behörden nicht auf ihre sächsische Abstammung zu pochen. Im Moment herrschte zwar Frieden, doch es war ein unsicherer, denn nicht jeder Nachbarstaat fügte sich widerstandslos dem Machtbegehren Napoleons. Und wer konnte wissen, ob der nächste Eroberer Deutsche mochte? Da sei es besser, als Pole zu gelten und der großen Masse anzugehören. Dazu kam, in der polnischen Bauernschaft rumorte es kräftig. Mit der neuen Verfassung hatte Napoleon zwar die Leibeigenschaft abgeschafft, doch die kaum aufzubringenden Abgaben und die Enteignungen durch die Grundherren, die sich der wiedererlangten Privilegien ausgiebig bedienten, verschlechterte das Leben der Bauern bis ins Unerträgliche. Viele wurden überdies erbarmungslos rekrutiert und Napoleons Armee einverleibt.

Als der österreichische Erzherzog Ferdinand im April 1809, aus Galizien kommend, mit seiner Armee die Grenze des Herzogtums überschritt und Richtung Warschau marschierte, traf er kaum auf Widerstand. Der Grund, Napoleon hatte kurz zuvor den Hauptteil des polnischen Heeres nach Spanien beordert, um seinen Bruder Joseph, den er auf den dortigen Königsthron gesetzt hatte, an der Macht zu halten. Erst kurz vor Warschau gelang es Fürst Poniatowski, dem Kriegsminister des Herzogtums Warschau und Oberbefehlshaber des polnischen Heeres, die Österreicher zu stellen. Die Polen verloren die Schlacht, mussten Warschau räumen und sich auf die rechte Weichselseite zurückziehen. Von hier aus marschierte Fürst Poniatowski nach Galizien. Sein Ziel war die Befreiung Krakaus, der urpolnischsten Stadt der Adelsrepublik, die 1795, während der polnischen Teilungen, dem von Österreich besetzten Kronland Galizien angegliedert worden war. Als Poniatowski mit seinem Heer vor Krakau Stellung bezog, kapitulierte die österreichische Besatzung. Man vereinbarte die kampflose Übergabe der Stadt. In der Nacht vor der Übergabe, die Österreicher hatten Krakau am Vortag verlassen, wurde die Stadt von den Russen besetzt. Angeblich taten sie das als Bündnispartner Napoleons, um die Armee des Herzogtums Warschau im Kampf gegen die Österreicher zu unterstützen. Für die Bevölkerung Krakaus wechselte damit nur die Besatzungsmacht.

1809 trat Russland auf Drängen Napoleons einer für Frankreich wirtschaftlich vorteilhaften Kontinentalsperre gegen England bei, um bereits im Jahr darauf dagegen zu verstoßen. Für Napoleon Anlass genug, einen Feldzug gegen den untreuen Bündnispartner vorzubereiten. Wie im gesamten Besatzungsgebiet, wurde auch im Herzogtum Warschau auf brutalste Weise rekrutiert. Um dem zu entgehen, flüchteten immer mehr Männer in die Wälder. Im Frühjahr 1812 sah man deshalb kaum noch einen Bauern, der seine Felder bestellte und das nach zwei recht kargen Ernten. Gleichzeitig beschlagnahmten die Franzosen jeden noch so erbärmlichen Klepper, um eine Remontereserve anzulegen. Zum Pflügen musste nun die letzte noch verbliebene Kuh eingespannt werden.

Auch in Wierzeje wurde requiriert. Bis auf eine Kuh wurde alles Vieh weggeführt. Doch statt mit der Kuh im Anspann die Felder zu pflügen, brachten die Bauern die Tiere ins Moor. Ein Viehhändler hatte ihnen erzählt, dass die Franzosen riesige Herden zusammentrieben. Ein sicheres Zeichen, dass kriegerische Zeiten bevorstünden. Sein Vater hätte seinerzeit unter den Preußen eine solche Herde von der Elbe bei Torgau bis nach Dresden treiben müssen: Schlachtvieh zur Versorgung des Militärs. Die Wierzejer glaubten dem Mann, denn seit kurzem requirierten die Franzosen sogar Saatgut.

Wie in den letzten vier Jahren, baute Georg auch in diesem Frühjahr auf mehreren kleinen, im Wald versteckt liegenden Äckern Kartoffeln an. Viele aus dem Dorf hatten dabei geholfen, denn Georg hatte ihnen einen entsprechenden Anteil zugesichert. Er tat dies, um Verrat auszuschließen, denn inzwischen kannten viele, allen voran die Franzosen, den Wert der von den Preußen Tartoffeln genannten Erdfrüchte. Kamen französische Soldaten fouragieren, wurde Gertraud gerufen. Die hatte als Mädchen deren Sprache gelernt und konnte den hungrigen Männern recht glaubhaft vermitteln, dass im Dorf absolut nichts mehr zu holen war. Um wenigstens eine Kleinigkeit für den eigenen Magen aufzuspüren, wurde meist noch ein Hof durchsucht. Dann genügte ein halber Topf Grütze, um die Soldaten, die selbst Familienväter und Bauernsöhne waren, friedlich zu stimmen.

Am 24. Juni 1812 überschritt Napoleons 600 000 Mann zählende Grande Armée die russische Grenze. Sein Ziel, das riesige Reich mit einem schnellen Vormarsch erobern und somit Zar Alexander I. für die Nichteinhaltung der Kontinentalsperre zu bestrafen. Der Feldherr wusste, dass er seine Armee bis zum Winter gut untergebracht haben musste, sollten seine Soldaten nicht wieder so erbärmlich erfrieren wie im Winterfeldzug 1806/1807 im östlichen Polen. Das Zarenreich erwies sich jedoch als viel weitläufiger und dünner besiedelt, als in Napoleons Strategie gedacht. Die bisher erfolgreiche Kriegsführung, den Gegner mit schnellem Stellungswechsel zu überraschen, verpuffte ebenso wie der Plan, die rasch vorrückenden Truppenteile mittels Requirierung zu versorgen. Die russischen Truppen hatten auf ihrem Rückzug alles mitgenommen, wovon sich der Feind hätte ernähren können. Es mangelte sogar am Futter für die Pferde, sodass diese vor Erschöpfung starben und viele Geschütze und schweres Gerät zurückgelassen werden mussten.

Auch die nahe der russischen Grenze angelegten Vorratslager, prall gefüllt mit allem, was ein kämpfendes Heer benötigt, erfüllten nicht ihren Zweck. Die Weite und Wegelosigkeit des Zarenreiches verursachte einen immer größer werdenden Abstand zwischen Tross und Heer, das deswegen oft tagelang hungerte. Selbst die erstmals während eines Feldzuges mitgeführten und mit modernstem medizinischem Gerät ausgestatteten Sanitätswagen blieben weit zurück. Die eigentlich gute Neuerung verkehrte sich ins Gegenteil: Direkt an der Front fehlten die Ärzte, sodass Verwundete unversorgt blieben und das Wundfieber Tausende dahinraffte. Zudem erwies sich der Gegner standhafter als gedacht. Die Russen ließen sich eher erschießen oder totschlagen, als auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Eine Folge des Krieges gegen das Osmanische Reich. Dort galt der Tod auf dem Schlachtfeld als Gnade hinsichtlich der Grausamkeiten, die Gefangene bei den Muselmännern erwartete. Ganz anders die Grande Armée, deren Soldaten diese Todesentschlossenheit fehlte. Zu großen Teilen waren sie zwar ebenso wie die Russen zum Militärdienst gepresst worden, sie wollten jedoch unbedingt überleben und mit reicher Beute heimkehren.

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