Kitabı oku: «Daskind - Brandzauber - Angeklagt», sayfa 3
Was der Sepp auf halber Höhe des Vorderbergs wirklich sah, hat er sein Leben lang für sich behalten. Es kann kein schöner Anblick gewesen sein, die Bamert Anni, blutüberströmt und zerschmettert unter der Buche, die sie noch im Tod mit dreckverschmierten Händen umklammert hielt. Unweit davon der Schirmer, ein blutiges Bündel Fleisch im Gehölz. Die beiden Fahrzeuge lagen, ineinander verkeilt, auf dem matschigen Weg, einzelne Teile fand Sepp weit verstreut im Unterholz. Eine bedrückende Stille umgab den Schreckensort, kaum wagte Sepp zu atmen.
Auf dem Weg ins Dorf konnte Sepp dem Brechreiz nicht widerstehen. Wellen der Übelkeit schlugen über ihm zusammen. Er verlor die Gewalt über das Motorvelo, schwer schlug er auf, dann übergab er sich.
Später wischte sich der Vorderbergsepp Rotz und Kotze aus dem Gesicht und stellte das Motorvelo ordentlich an einen Baum. Zu Fuß erledigte er den Rest des Weges, schwach in den Knien.
Bei Kellers trat er ein, starrte am Gesicht des Ladenbesitzers vorbei zur Wand, als sei dort die Antwort auf sein Rätsel zu lesen. Gott musste besoffen gewesen sein, als er den Rüpel das Bamert Anneli überfahren ließ. Man habe da oben am Berg zu tun, knurrte Sepp, die Kellerin solle schon einmal dem Janser Wisi Bescheid geben und den Landarzt Mächler rufen, die Anni liege tot im Wald. Vom Schirmer Louis sprach er nicht.
Der absurde Tod der Bamert Anni war nicht schuld daran, dass die Tote ungesegnet neben den Louis und hinter die Friedhofsmauer zu liegen kam. Schuld daran war das Untersuchungsergebnis, Mächlers Obduktionsbericht, der die Schwangerschaft des Mädchens festhielt. Das war dann ein Wettern nicht nur von der Kanzel herunter, das ganze Dorf, vor allem die Frauen, einte der Gedanke an die Höllenqual, die jetzt das Anni zu erleiden habe. Zugeschlagen habe der da oben, mit strafender Hand ins Geschick der Anni eingegriffen, so weit komme es halt, wenn eine heimlich dem Laster fröne, das Heiligste schände, das eine Ehe zu bieten habe. Mit dem Allmächtigen sei nicht zu spaßen, donnerte Pfarrer Knobel von der Kanzel herunter, wehe dem Sünder, der Gott versuche. Sein sei die Rache, in Ewigkeit, amen.
Bei Anni Bamerts und Louis Schirmers Begräbnis ist das Kind nicht der einzige Zaungast. Stumm lehnt der Vorderbergbauer an der kalten Mauer. Die Hände unbeholfen ineinander verschlungen, hadert er mit seinem Gott. Er beachtet Daskind nicht, das neben dem Loch in der Mauer kauert und frierend dem harten Poltern der Särge lauscht. Es ahnt Daskind, dass da kein Frieden ist im Tun, dass sich der Herrgott, das Dorf und der Pfarrer, alle unter einer Decke, gegen die Anni verschworen haben.
Tief gräbt sich die Scherbe in die Haut des Kindes. Fast stöhnt es auf, Kind Selberschuld. Einsam wird aller Schmerz ausgekostet, den das Schicksal zu bieten hat. Auch den Schmerz der Anni muss Daskind trinken, allen Schmerz der Anni, damit die sich dem Frieden übergeben kann, der ein langer Tod ist und ein Licht.
5
Ein gewaltsamer, heftiger Frühling neigt sich dem Ende zu. Mit demütigen Augen betrachtet Kari Kenel seine Rosen. Es ist keine Woche her, seit Kari die Vorbereitungen für eine neue Züchtung traf. Am frühen Morgen sammelte er die Pollen der Venise und ließ sie vorsichtig in weiße Papiertütchen gleiten. Auf einem schmalen Papierstreifen notierte er Namen und Alter der Sorte, die er mit der Falbala, einer großblumigen, aprikosenfarbigen Teehybride kreuzen wollte. Dabei hatte er es nicht auf die Verfeinerung der Aprikosenfarbe abgesehen, sondern auf das zarte Korallenrot an den Rändern der Blütenblätter. Das lebhafte Rosa der Venise, unterstützt vom zarten Korallenrot der Falbala, sollte in der neuen Zucht seine Vollendung finden. Noch am selben Abend, bei völliger Windstille, bestäubte Kari Kenel die Narbe der zu befruchtenden Blume. Er befestigte ein Etikett an dem Zweig, das er mit dem Namen des weiblichen Partners und jenem des Vaters versah, die er bei gelungener Zucht im Rosenzivilregister einzutragen hatte. Erhebt ein Nachkomme bei einer Neuheitenprüfung Anspruch auf Anerkennung, müssen die Namen der Eltern genannt werden.
Nach der Befruchtung deckte Kari Kenel den Zweig mit einer Haube zu. Sie würde das Eindringen fremder Pollen verhindern und die befruchtete Narbe vor allzu viel Wärme und Gewitterregen schützen. Nach Ablauf eines Monats würde sich die samenschützende Hülle ausdehnen, die Bildung einer Hagebutte deutlich werden.
Am Blattwerk der Trauerrose entdeckte Kari Kenel vereinzelte Miniergänge. Die Miniermotte war ein ungern gesehener, aber leider häufiger Gast. Übersah man sie, fraßen sie sich in kürzester Zeit durch die Rosenblätter und hinterließen ein zartes, filigranes Muster, das an persische Ornamente erinnerte. Doch so weit wollte es Kari Kenel nicht kommen lassen. Er behandelte den Rosenbaum mit einer Spritzbrühe.
Und nun, keine Woche später, steht Kari Kenel mit demütigen Augen vor seinen Rosen. Stumm betrachtet er die Sträucher, verspürt ein heftiges Bedürfnis nach einer Erklärung, nicht anders als der Vorderbergbauer ein knappes Jahr zuvor beim Anblick der toten Anni. Kari Kenel betrachtet die Sträucher oder das, was einmal kraftstrotzende, knospende Rosensträucher gewesen waren. Der Hagel hat ganze Arbeit geleistet, hat erbarmungslos Strauch um Strauch zerschlagen, zerfetzt.
Das Gewitter kündigte sich mit einem schwefelgelben Himmel an, kurz nachdem sich Daskind beim Silberleider für den Tag bedankt hatte und in die Schlafkammer verwiesen wurde. Diesmal ohne Umweg.
Es sah aus, als reiße der Himmel das Maul auf und blecke die Zähne. Ein heiseres, gelbes Gebell war der Himmel über dem Tannsberg, der Wald, in dieses schmutzige Gelb getaucht, schien mit ihm zu brüllen.
Hastig hatten die Männer ihre Milchkannen geleert. Das Lachen der Hüttenmarie fehlte, zu schwer hockte dem Abend das aufkommende Gewitter im Nacken. Als hielte er den Atem an ob dem Gewicht.
Auch dem Kind war’s schwerer und schwerer im Genick. Für Gewitter hatte es den Instinkt der Hunde, die sich schon vor dem Ausbruch in die Hütte, unter den Tisch oder in eine dunkle Ecke verkriechen.
Ein heller Blitz erhellte die Kammer des Kindes, dann geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Begleitet von einem gewaltigen, hohen, fast schrillen Donnerknall, der sofort in ein dumpfes Grollen überging, fielen, ohne dass es vorher geregnet hätte, die Hagelkörner. An dem von ihnen auf dem Dach erzeugten und sich sekundenschnell verändernden Ton konnte Daskind die Größe der Hagelkörner erraten. Erst prasselten sie nieder, als schütte der Himmel zu Brei zerstampftes Eis auf die Erde. Das waren die kleinen, für die Landschaft mäßig gefährlichen Körner. Diesen folgten größere, der Ton wurde hart, mit hohlem Klang, eine Musik, die Glasmarmeln auf dünnblättrigem Schiefer erzeugen. Doch schneller im Rhythmus, rasend schnell, Haselnusshagel, der plötzlich als Walnusshagel niederprasselt, wie der dumpfer werdende, um eine Nuance hohler klingende Ton verrät.
In diesem Augenblick hat der Hagelschlag schon großen Schaden angerichtet, die Bauern haben ihre voraussichtlichen Ernteeinbußen grob überschlagen. In den Ställen brüllt angstvoll das Vieh, Kinder, von ihren Müttern im Arm gehalten, weinen.
Daskind, von niemandem in den Arm genommen, weint nicht. Still lauscht es den entfesselten Kräften, schaut mit weit offenen Augen in die grellen Lichtschwaden, die wütend den düstren Raum unterm Dach zerfetzen. Schaut das lichtlose Kind die Lichtschwaden der Blitze, bis es, geblendet, die Augen schließen muss.
Ein weiterer, fürchterlicher Donnerschlag zerreißt dem Kind fast das Trommelfell. Nach einer Schrecksekunde Taubheit hört es das veränderte Aufprallen des Hagels. Eigroße Geschosse prasseln nieder, unterstützt vom orkanartigen Sturmwind fegen sie die Ziegel vom Dach. Von der Michaelskirche dröhnt die Sturmglocke über das Dorf, Männer, die Feuerwehrjacke über dem Kopf, rennen zum Schwanen. Auch Kari Kenel rennt mit. Kann sich nicht um seine Rosen kümmern. Kann nichts für sie tun, ist, wie die andern, eine Marionette an den Fäden des zürnenden Gottes. Ein solches Gewitter schreckt den Bach aus dem Schlaf, wissen sie, und dass manch einem das Haus über dem Kopf angezündet wird, wenn der da oben den Zorn nicht zügelt.
Nun hat das Gewitter seinen Zenit überschritten. Das plätschernde Geräusch des Regens löst das Prasseln des Hagels ab. Still liegt Daskind, hat jetzt ein Immerweh im Genick vom Lauschen. Ist nichts im Kind vom reinigenden Gewitter. Hat das Fluchen des Immergrünen gehört, der nicht in den Schwanen muss und keiner Überschwemmung wehrt. Wo der sich einschleicht, weiß Daskind, brennt immer ein Feuer. Daskind, das nicht zu löschen vermag.
Nachts ist dem Kari Kenel der Tod seiner Rosen unter die Haut gesickert. Müde vom Warten im Schwanen auf weitere Katastrophen hat er den Heimweg unter die Füße genommen, beim Gartentor tief Atem geholt und ist dann mit hölzernen Schritten vor seine Rosensträucher getreten. Die Taschenlampe in der Hand, weil das Licht der Straßenlaterne fehlt. Das muss der Anfang vom Weltuntergang sein, im festgeschriebenen Plan unter Punkt 1 aufgelistet, dass die Rosen sterben in so einer Nacht, einer Gewitternacht, denkt Kari. Geknickt die schlanken Stiele der Katherine Perchtold, deren kupfrig orangene Blütenknospen als unansehnliche, schon bräunlich verfärbte breiige Klumpen im Matsch liegen. Nicht besser steht es um Madame Armand, mit der er voriges Jahr an der internationalen Rosenbörse Bewunderung und Respekt errang. Der Strauch, heillos in den Boden gestampft, liegt in Agonie, es ist Kari, als spüre er den Luftzug auf seinem Gesicht, den Rosenblüten erzeugen, wenn sie ihre Seele aushauchen. Madame Armand, geraniumrot, die großen, gefüllten Blüten mit einem hellen, strahlenden Gelb durchleuchtet, Kari Kenels ganzer Stolz. Er hatte Jahre gebraucht, bis er die anspruchsvolle Dame zur vollen Schönheit erblühen sah. Jahr für Jahr ergänzte er seine Pflege um kleine Tricks, bis sich die Spröde endlich ergab. Sie liebte das ewige Spiel der Annäherung, des Sichzurückziehens, sie liebte den tiefen, orgelnden Ton seiner Stimme und reagierte halsstarrig auf unangemessene Berührungen. Und nun lag sie da, geschändet, tödlich verwundet von der Wucht des Hagels.
Auch Eleonores dunkelgoldene Knospen hatten den Anschlag nicht überstanden, ihr grünes Blätterkleid schwamm zerfetzt in den Wasserlachen. Selbst Caprice, die dankbarste unter Kenels Rosen, würde heuer nicht blühen, würde ihr blendendes Karmin auf dem gelben Blütengrund nicht entfalten. Rettungslos verloren auch Kaiserin Augusta Victoria, eine Schlingrose, deren grünlich weiße Blüten bis spät in den Herbst die Ostwand des Chalets verschönten. Selbst die blütenreichen Zweige der Trauerrose, eine robuste Abart der Blanche Moreau, hatten die Hagelkörner vom schlanken Stamm gerissen. Grotesk ragte ein Teil des Wurzelstocks aus dem Schlamm, der hohe Stamm lehnte am Gartentor, eine zerzauste, müde Königin.
Der stumme Mann vor seinen zerstörten Rosen, das stumme Kind am Fenster der Kammer. Ein Band vom Kind zum stummen Betrachter. Wie Liebe im Hass des Kindes. Spannt den roten Gummi. Ein kleiner Berg grauer Kiesel auf dem Sims. Haben sich vereinzelte Blütenzweige an den kräftigsten Stämmen der Rosen halten können. Große Kräfte sind am Werk, wenn das Kind die Schleuder bedient. Große Kräfte, als der Mann vor der Falbala stehen bleibt, im Lichtkegel der Taschenlampe nach dem Zweig mit der befruchteten Narbe greift. Der Körper des Mannes verwächst mit dem Platz, auf dem er steht, und mit dem Zweig, den kein Hagelkorn getroffen hat. Drei Fixpunkte, aufeinander bezogen, ein Atem, solider Zusammenhang zwischen den Punkten. Daskind fühlt sich nicht ausgespart, nicht jetzt, wenn der Atem ein Atem ist und ums Kind streift, tigersicher im Flug. Der gespannte Arm des Kindes, sanft das Zischen des Steins, ein Gebet im kalten Lächeln des Kindes, abgenabelt vom Leider am Kreuz. Zischt der Stein am Kopf des Mannes vorbei in den Strauch. Flirrt den Zweig mit der befruchteten Narbe aus der Hand des Mannes, schüttelt sich der Mann vor Verwunderung, dreht sich nicht um.
Als Kari Kenel müde zur Eingangstür schlurft, verzerrt schleimiges Dämmerlicht die Nacht. In der Dachkammer steht Daskind noch immer am Fenster. Der Geruch der aufgewühlten Erde liegt in der Luft. Ein süßer, herber Geruch, den Daskind gierig einatmet. Ein Geruch, wie ihn die nassen Flanken eines Raubtiers verbreiten, wenn es durch den Wald gestreift und Blut getrunken hat.
Daskind träumt, dass tief im Gehäuse des Tiers der Stein vom Zweig träumt, der nie mehr blühen wird.
Kellers Kolonialwarenladen lag noch versunken im diesigen Frühlicht, als Kari Kenel unausgeschlafen an der Hausfront vorbeischlich und in Richtung Bahnhof lief. Er begegnete einigen Bauern auf dem Weg zu ihren Feldern und Obstgärten, die sie abschreiten wollten, um den Schaden abzuschätzen, den der Hagelschlag angerichtet hatte. Ein Blitz hatte Schättis alte Buche gespalten, eine hässliche Wunde in den Stamm gebrannt. Die Baumkrone hing verkohlt am Stamm und zeigte wie eine verkrüppelte Hand zur Erde. Schätti stand vor dem Stall und betrachtete bekümmert die jauchedurchtränkten Bretter zu seinen Füßen.
In den Gärten der Nachbarn sah es nicht besser aus als in Kari Kenels Rosenzucht. Von den liebevoll gepflegten Blumenbeeten und Sträuchern war nichts geblieben als ein Haufen kompostierbereiten Abfalls. Salatsetzlinge, junge Kartoffelstauden, Kohlrabi, Lauch und Zwiebeln boten einen jämmerlichen Anblick. Das Gewitter hatte die Gärten in schlammige Friedhöfe verwandelt.
An der Kreuzung verlangsamte Kari Kenel den Schritt. Zu seiner Linken stand das Restaurant Kreuz mit seinem Kastaniengarten, den roten Tischen aus Blech, das aus dem Bestand seines Arbeitgebers stammte und dessen Verarbeitung zu Tischen, Gelten und Gartenstühlen von ihm überwacht wurde. Die kräftigen Kastanien schienen kaum gelitten zu haben, obwohl auch Gartentische, Stühle und der Kiesplatz mit abgerissenen Zweigen und Dachpfannen übersät waren. Im Gastraum brannte Licht, bald würde Ruth mit dem Aufräumen beginnen. In ihrer selbstbewussten Art würde sie Ordnung schaffen, zupacken, hieß das im Dorf. Sie würde Ordnung in das Chaos vor dem Gasthaus bringen, wie sie es drinnen tat, wenn bei Feuerwehrfeiern und andern Vereinsanlässen über das Maß getrunken wurde und Ruth, mit prallen, muskulösen Armen, den Betrunkenen kurzerhand auf die Beine stellte und zielsicher zum Ausgang schob. Die Männer gehorchten ohne Murren, anderntags würde Ruth wieder am Stammtisch stehen und lachend die derben Bauernwitze parieren. Ruth, die kräftige, etwas burschikose Ruth hatte ein Talent, Köpfe zurechtzurücken, wenn der Ärger die Bauern übermannte, wenn die Sorgen über ihnen zusammenschlugen. Sie war der feste, zuverlässige Hort, wenn ein Kind starb und die leidgeprüften Eltern, Geschwister und Anverwandten stumm zur Gräbt im hinteren Saal schritten. Dass das Leben weitergehe, tröstete sie dann mit ihrer etwas rauen, aber warmen Altstimme, und dass ein Baum übers Jahr wieder Früchte tragen könne, wenn’s der Herrgott so wolle. Sie war der handliche Trost einsamer Knechte. Manch einer erlebte seine besten Momente in ihr fülliges Fleisch versunken. Als eine Auswärtige, aus dem Süden gekommen, wie man im Dorf behauptete, wobei dieser Süden, ungenau definiert, nur mit einer großen, ausladenden Bewegung in die richtige Richtung angedeutet wurde, genoss sie Rechte, die den einheimischen Mädchen vorenthalten wurden. Jemand musste sich schließlich der einsamen Männer annehmen, ihre Hitze kühlen, ehe sie mit einer Hiesigen vor den Altar traten und Treue schworen. Obwohl sie sich nie an verheiratete Männer heranmachte, mieden sie die Frauen. Eine, die im Männerfleisch Bescheid weiß, hat einen schweren Stand bei jenen, die beizeiten die Pflicht eingehämmert bekamen, ohne Lust die Beine zu spreizen.
Vorsichtig stieg Kari Kenel über das Messingschild des Restaurants Schwanen hinweg, das der Sturm aus der Halterung gerissen hatte. Verloren lag der kunstvoll gehämmerte Schwan vor der Rose, dem gemütlichen, wenn auch etwas verlotterten Restaurant auf der andern Straßenseite, gegenüber dem Schwanen. Der Sturm hatte der Rose besonders zugesetzt. Auf der Eingangstreppe lag Zero apathisch in den Scherben. Er verweigerte Kari Kenel den Gruß.
Der Engel, die letzte Wirtschaft an der Kreuzung, schien den Sturm glimpflich überstanden zu haben. Unbeschadet trompetete der Cherubim über dem Eingang, das kürzlich renovierte Dach war ganz geblieben.
Heute ging Kari Kenel weiter der Dorfstraße entlang, die zum See führte und dort in einen großzügig angelegten Promenadenweg mündete. Eine außergewöhnliche Entscheidung, noch nie hatte er den Zug verpasst oder war zu spät zur Arbeit erschienen. Doch die Entscheidung entsprach dem außergewöhnlichen Anlass. Kari Kenel trauerte um seine Rosen, und hierfür erschien ihm der Arbeitsplatz in der Fabrik der denkbar ungeeignetste Ort. Fast wäre Kari über eine tote Katze gestolpert. Sie musste von einem herabfallenden Ast erschlagen worden sein. Das dreckverkrustete Hinterteil war bereits von den großen Ratten, die nach jedem Gewitter die Seeufer absuchten, angenagt worden. Das Maul weit aufgerissen, lag die Katze im Schlamm, und, als hätte sie der Sturm verhöhnen wollen, ragte zwischen den spitzen Zähnen ein Ahornzweig hervor. In solchen Arrangements versuchte man sich an Festsonntagen erfolgreich im Schwanen, wenn man den gebratenen Ferkeln zur Verschönerung ganze Äpfel, Lorbeer- und Rosmarinzweige ins Maul steckte. Saftig waren sie dann anzusehen, die geschmückten Tierkadaver, die tote Katze hier, die von den Naturgewalten zerrissene und höhnisch mit einem Ahornzweig versehene Leiche, lud nicht zum Betrachten ein.
Über dem gebeugten Kopf das zerfetzte Blätterdach der Bäume, steuerte Kari Kenel auf eine Bank zu. Mit seinem Taschentuch, das ihm Frieda Kenel jeden Morgen sorgfältig gefaltet in den Hosensack schob, reinigte er die Sitzfläche der Bank.
Vor ihm ausgebreitet lag der See, eine noch immer leise brodelnde, schiefergraue Suppe. Die Dörfer am gegenüberliegenden Ufer schwammen wie Boote auf ständig wechselnden Schwaden schleimigen Lichts. Kari Kenel fühlte einen ihm bislang unbekannten, eiskalten Ekel in sich aufsteigen. Er würde mit der Wiederaufzucht seiner Rosen bald beginnen müssen, sofort, morgen schon, man hatte doch sonst nichts Erfreuliches im Leben, neben der Frau mit den harten Augen, eingepfercht in die Enge des Dorfes, das längst aufgehört hatte, Heimat zu sein. Nichts als die Rosensträucher und das stumme Kind, das nichts vom Heimweh wusste, das Kari zerfraß, und nicht weinte, wenn die Schläge des Mannes und dann die Tränen auf den nackten Kinderhintern niederfielen.
6
Breit steht Bruno Keller im Türrahmen seines Kolonialwarenladens, die feisten Arme über der Brust verschränkt. Gegenüber treibt Gotthold Schätti die gemolkenen Kühe aus dem Stall. Den Stumpen im Maul, beobachtet Keller die Kühe, die zur Umzäunung der Viehweide drängen, rücksichtslos schiebend und stoßend das offene Gatter passieren und, kaum auf der Wiese, zu rupfen und zu kauen beginnen. Ein lichter Augenblick nach einer Nacht, die er, vergeblich um die Gattin buhlend, im nach Schweiß und unbefriedigten Gelüsten stinkenden Bettzeug verbringen musste. Eine klebrige Schweißschicht bedeckt auch jetzt sein rundes Gesicht mit den dunklen Säcken unter kleinen, bösartig funkelnden Augen.
Während Bruno Keller Nachbars Vieh anglotzt, als ob dort weiß Gott was zu holen sei, sitzt Daskind im Chalet Idaho am Küchentisch, vor sich eine Tasse Milch und ein von Frieda Kenel mit Vierfruchtmarmelade beschmiertes Stück Brot. Daskind kaut, langsam, lustlos. Man ist gefangen, kein Tigertier, mit Augenaugen auf sich gerichtet, die Daskind in eine dicke Eisschicht verpacken können, wenn es sich nicht vorsieht. Die Daskind mit Eisnadeln aufspießen, es mit Eisnägeln ans Kreuz schlagen können wie den Silberleider, der bei jedem Zeitungsrascheln des Kari Kenel neu ans Kreuz genagelt wird, der Immerleider. Daskind sieht sich vor in der Stille, die schwer im Raum liegt. Will nicht einsehen, dass da ein neuer Tag neues Leid bereithält, dem es mit Trotz begegnen muss, will es den Kampf gegen das Eis gewinnen.
Packt Daskind die Einkaufstasche. Mit dem Laufzettel für Kellers. Faucht Kater Fritz wütend. Tritt Daskind zu. Rasch. Unnachgiebig. Kalt. Mit dem Eis aus den Augen der Pflegemutter im Tritt. Verlässt Küche. Haus. Garten. Lässt Versteck Unter Blautanne Hinter Sich Muss Schutz Verlassen. Die Straße. Kellers Laden Jetzt.
Bei Kellers versucht sich Daskind stumm an Bruno Keller vorbei in den Laden zu drängen. An Kellers Bauch vorbei, an der Ausbuchtung der Hose unterhalb des Ledergurts, unterhalb des Bauches vorbei. Geht nicht, Kind zwängt sich vergeblich, muss stehen bleiben vor dem Mann mit dem Bauch und der Ausbuchtung; eingeklemmt zwischen Bauch und Türrahmen, Daskind.
Kann sich nicht mehr bewegen, Daskind.
Hat keine Luft in den Lungen, Daskind.
Wird von Kellers Händen am Türrahmen festgenagelt, Daskind.
Ist ein Schreien im Kind.
Hat einen Zorn, Daskind.
Schreit.
Schreit und trommelt mit den Fäusten auf den Bauch des Mannes.
Schreit sich die Angst weg, den eisernen Ring ums Geschlecht und ums Herz.
Einen irren Sinn im Kopf hat Daskind.
Und einen Willen, nicht unterzugehen.
Einen starken, warmen Hass und ein Wissen um einen Schrein tief drinnen im Leib, der die Erinnerung birgt.
Als Gotthold Schätti, Daskind im Arm, die Gartentür aufstößt und langsam den Rosenstöcken entlang zur Haustür geht, hat sich Daskind in Sicherheit gebracht. Atmet nicht, Kind Ohnemacht. Hat auf der Straße gelegen, vor Kellers Laden, ein Hergeholtes, Ungeliebtes. Hat auf der Straße gelegen, den schmerzverzerrten Mund dem Himmel dargeboten, die Hände noch immer schützend am Leib. Vorsichtig wird Daskind vom Bauern auf das rote Sofa gebettet, unter den Leider. Wird dem Kind das Gesicht gewaschen, mit einem nassen Lappen Arme und Beine gekühlt. Steht Frieda Kenel starr hinter der Nähmaschine, die Hände im Rücken verschränkt, noch immer das Eis in den Augen. Schaut über Daskind hinweg zur Wand mit dem Leider, darf nicht in die Augen des Bauern und nicht ins Gesicht des Kindes schauen. Der sagt, dass es wohl richtig wäre, den Mächler zu holen.
Nach dem Besuch des Arztes wollen viele, allen voran die Frauen im Dorf, mit Sicherheit wissen, was dem Kind wirklich fehle. Nicht richtig im Kopf sei es, das dem Teufel ab dem Karren gefallene Kind. Haben immer gewusst, dass es mit der Nächstenliebe der Kenels nicht gutgehen kann, wenn das Hergeholte keine Dankbarkeit zeigt. Nicht zeigen will. Stecken die Köpfe zusammen, die Leute im Dorf, verhächeln Daskind auf dem roten Sofa, Daskind mit dem Schrei im Hals. Hockt mächtig da, die Meute, mit Worten wie Stahlklingen wird Daskind zerlegt, Beutekind ausgenommen. Fliehen nicht vor dem Schrei. Hören ihn nicht. Stahlhart die Häme im Angriff aufs Kind, wildernd im fremden Schlaf.
Das nicht zurückkommen kann. Das nicht zurückkommen will, Daskind. Das die Weiden des Guten Hirten verlassen hat, den mit dem Erzliebling auf den zuverlässigen Schultern. Weidet im Vorhof eines andern, Daskind, hat sich zurückgenommen ins schwarze Gras, das wächst, wo ein Tod ist, kein Licht.
Landarzt Mächler verschreibt stärkende Mittel, die dem Kind auf die Beine helfen sollen. Tätschelt Kind Ohnemacht väterlich die Wangen. Geht mit mahnenden Worten. Daskind brauche Ruhe. Sicherheit. Einen Ort des Vertrauens. Freude. Mächler kämpft gegen die Augen der Frieda an. Gegen das Eis. Ist dann, unter der Tür, auch nur ein Mensch. Es ist ihm nicht leicht ums Herz. Beileibe nicht. Lässt dennoch den Argwohn zurück an der Tür und meldet’s übertrieben fröhlich in die Eisaugen der Frau, meldet’s den Eisohren der Frau, dass die Pflicht rufe, auch an so einem Tag.
Pfarrer Knobel nimmt Daskind ins Gebet. Dass mit dem Herrgott nicht zu spaßen sei, der für jeden seinen Packen Leid bereithalte, an dem zu tragen der Gesundung diene. Der himmlischen Gesundung. Der Vater im Himmel, oberster Arzt unter den Ärzten, wisse alles. In seiner allmächtigen Weisheit habe er die Schuld des Kindes längst vor jeglicher Zeitrechnung erkannt, die Rechnung jedoch in seiner gütigen Allmacht storniert. Nun gelte es, die Schuld abzutragen, damit es an Christi Herzen dereinst genese. Wehe dem, der sich im Trotz versteife und an Gottes Ratschlüssen zweifle, droht Knobel, auf den warten Höllenqualen. Die Sünde wider den Heiligen Geist kenne keine Vergebung, werde in keinem Feuer geläutert. Wehe den Unglücklichen, Gottes Schwert sei überall, zum Sünder komme das Höllenreich.
Als die Prozession der Mahner endlich vom Kind ablässt, sich mit frommen Worten empfiehlt und Daskind ungetröstet im Eis zurückbleibt, äugt der Frau an der Nähmaschine ein Elend über die Schulter. Das Elend erbarmt sich nicht, übertönt Großergottwirlobendich, will der Frau an den Kragen, lässt sich nicht abschütteln. Ist ein von vielen Nächten gebeuteltes Elend, hat nichts mit Nähermeingottzudir am Hut. Vom Augenblick begünstigt, belagert das Elend die Frau, hungert sie aus, bis der Vorrat aufgebraucht ist, von dem sie zehrt. Bis in den Gebärden der Frau eine Nachgiebigkeit sichtbar wird, äugt’s und lauert’s, dringt’s in den unfruchtbaren Schoß der Frau ein, ins ungeliebte Geschlecht. Bis Frieda Kenel aufsteht. Aufstehen muss. Dem Kind unbeholfen die stärkenden Mittel einträufelt. Es zudeckt. Sich um Daskind kümmert. Kümmern muss. Es mit ungeschickten Händen streichelt.
Aber das Elend duldet kein Vergessen, gibt sich spröde unter der Berührung der Frau. Greift dem löchrigen Sammeltopf Mitgefühl grob auf den Grund, findet in die Lieblosigkeit zurück, kehrt sich von allem Trösten ab.
Selbst ein Seelenarzt hatte kein Glück beim Kind. Bockig saß es ein paar Tage später dem Mann gegenüber, der helfen wollte. Zeichnete auf Geheiß einen Baum, der von dem Fremden mit verächtlichem Lachen zurückgewiesen wurde. Das sei kein Baum, das sei eine Tanne, er habe einen Laubbaum gewollt. Verwirrung hielt Daskind gefangen, für das die Tanne ein Baum war. Bis jetzt. Die Tannen mitten im Nimmerwald, die in den Himmel wuchsen, um ab und zu einen Glanz auf den Flügeln der verwunschenen Feen zu erhaschen. Das Versteck unter der Blautanne in Kari Kenels Garten. Die würzige Stille unter den bis auf den Boden herabhängenden Zweigen. Hat sich Daskind nicht ausgekannt in den Bäumen, und diese im Kind?
Daskind machte einen zweiten Versuch, zeichnete die Eibe auf dem Friedhof. Eifrig bemüht, das Richtige zu tun. Dem Doktor zu Willen zu sein.
Daskind, das zu oft geschlagen wurde, machte keinen Versuch, der Ohrfeige auszuweichen. Seieinbravesmädchen war ganz rot im Gesicht. Zornentbrannt. Mordlust in den Fäusten.
Nahm Daskind einen dritten Anlauf, zeichnete einen Baum ohne Nadeln und Laub, gab ihm keine Wurzeln, keinen Wipfel, ließ nur den Baumstamm gelten, den nackten. Verstocktes Kind.
Der Arzt beorderte Daskind ins Wartezimmer, rief nach der Frau.
Da stand Daskind vor dem Bild mit der Feuergarbe im Feld. Wildrote Flammen hechelten mit Wildhundzungen zum Himmel. Daskind sah, dass auch er brannte, dass die Welt brannte. Daskind, eingeschlossen im Weh, das so ein Brand bewirkt, suchte mit aufgerissenen Augen nach einem Ausweg, nach einer Spalte, die groß genug wäre, es zu bergen.
Dann lag Daskind auf einem Bett, Hände und Füße an die Bettpfosten gefesselt. Tief schnitten die Lederriemen ins Fleisch, Daskind spürte es nicht, stierte mit nackten Augen ins Nichts. Hatte einen Traum im Gehirn, einen Traum vom schwarzen Gott, der alle holen würde. Zermalmen, träumte Daskind, das Schicksal zu seinen Gunsten wenden würde er und ihm gestatten, die Erde allein zu bewohnen.